102. Kapitel
„Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin", gestand Agnes, als sie vor der Heulenden Hütte standen. Es war eine Vollmondnacht und Agnes war zusammen mit Sirius gekommen, um einen Weg in die Heulende Hütte zu finden und als erste Späher auszukundschaften, wie die Lage in Hogwarts war. Es bot sich natürlich an, dass Agnes das machte, nachdem sie sich so oder so in einen Werwolf verwandeln würde und so die Heulende Hütte gleich als sicheren Ort benutzen konnte, damit sie niemanden mehr verletzen konnte. In zwei Tagen würden dann die anderen und einige vom Widerstand zusammen mit ihnen in Hogwarts einbrechen.
„Es ist auch schon ziemlich lange her, oder nicht? Du bist schon lange keine Schülerin mehr", erinnerte Sirius sie und stemmte ein Fenster der alten Hütte auf – es war ziemlich leicht.
„Für Dumbledores Begräbnis sind wir hier gewesen", erzählte Agnes, „Er wollte in Hogwarts begraben werden."
„Ach ja...", murmelte Sirius ernst und runzelte die Stirn, „Dumbledore... ich habe ehrlich gesagt verdrängt, dass er tot ist..."
„Es ist auch ziemlich unfassbar", stimmte Agnes ihm zu, bevor sie durch das offene Fenster die Hütte betrat, „Er ist ein Mann gewesen, von dem ich niemals gedacht hätte, dass er sterben könnte. Irgendwie ist er... unsterblich für mich gewesen."
Agnes hob ihren Zauberstab und mit ihrem stummen Zauber wirkte sie Lumos, sodass sie im dunklen Raum etwas Licht hatte. Der Raum war klein, aber mit dem Licht war er groß genug, dass Agnes ihre Platzangst unter Kontrolle hatte.
„Scheinbar muss jeder von uns einmal sterben", Sirius folgte ihr und schloss hinter sich wieder das Fenster, „Hier einzubrechen ist ehrlich gesagt einfacher gewesen, als gedacht. Mit dem Widerstand werden wir dann zwar mehr Leute sein, aber ich denke, wenn wir in der Nacht herkommen, dann sollten wir unbemerkt hineinkommen."
„Hoffen wir, dass alles perfekt nach Konstantins Plan läuft und wir nicht alle doch noch in Hogwarts sterben", schnaubte Agnes und sah sich im Raum um – er war ihr leider bekannt, es war der Raum, in dem sie sich in ihrem letzten Schuljahr immer verwandelt hatte, „Andererseits kann ich mir schlimmeres vorstellen, als in Hogwarts zu sterben."
„So, wie ich dich kenne, würdest du bestimmt als Geist zurückkehren und zusammen mit Peeves Unsinn anstellen", grinste Sirius.
„Hey! Das klingt tatsächlich nach einer wundervollen Idee!", lachte Agnes.
„Weißt du schon, was du danach machen willst?", fragte Sirius sie ernst und die zuerst etwas lockere Stimmung verschwand sofort.
„Was auch immer die anderen planen, oder?", schlug Agnes unsicher vor, „Was sonst? Wir erledigen doch immer nur spontane Aufgaben, die sich irgendwie ergeben, oder?"
„Hast du dir schon einmal überlegt, eine Pause einzulegen?" Sirius beobachtete genau, wie Agnes darauf reagierte, aber ihr Gesicht zeigte keine Emotion.
„Ich kann nicht einfach gehen", widersprach Agnes ihm leise, „Alle, die ich liebe, kämpfen hier in England. Ich kann doch nicht einfach gehen."
„Sie würden es alle verstehen", versprach Sirius ihr sofort, „Ich würde es verstehen. Als ich aus Askaban ausgebrochen bin, habe ich auch eine kleine Auszeit gehabt. Ich bin nach Ibiza und habe dort einfach nur die Sonne genossen."
„Ich bezweifle, dass ich mich dann entspannen könnte", schnaubte Agnes, „Ich bin nicht wirklich der Typ, der einfach nur herumsitzen und nichts tun kann."
„Ich weiß", seufzte Sirius, „Das ist irgendwie keiner von unserem Rudel."
„Rudel?", wiederholte Agnes und hob unbeeindruckt eine Augenbraue, „Ist das jetzt die offizielle Bezeichnung für unsere kleine Gruppe?"
„Ich finde es passend", Sirius verschränkte künstlich beleidigt die Arme vor der Brust, „Wir sind ein Rudel – eine Familie. Wir halten zusammen und passen aufeinander auf."
„Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst – meistens habe ich eher das Gefühl, als müsste ich auf euch aufpassen", lachte Agnes.
„Da hast du wohl Recht, Mama-Agnes", grinste Sirius, bevor er wieder ernster wurde, „Aber wenn du ehrlich mit dir bist, dann musst du zugeben, dass sogar du Hilfe brauchst."
Agnes wandte sich von Sirius ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Man kann mir nicht wirklich helfen, oder?"
„Du musst dich nur wieder selbst finden", schlug Sirius vor, „Nach Askaban habe ich auch einige Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, wer ich bin."
„Was ist wirklich brauche, ist Ruhe", widersprach Agnes ihm, „Nicht künstliche Ruhe – ich brauche Ruhe vor dem Krieg. Ich finde erst Ruhe, wenn dieser Krieg vorbei ist."
„Du musst eine Zwischenstufe finden", redete Sirius auf sie ein, „Einen Weg, damit du wenigstens für den Moment mehr wieder du selbst bist."
„Ich bin nicht ich selbst?", wiederholte Agnes gefährlich ruhig, „Wer soll ich sonst sein? Meine Mutter? Ein Werwolf, wie Greyback? Eine Wahnsinnige?"
„Letzteres trifft zu", gestand Sirius geradeheraus und überraschte Agnes damit sogar einen Moment. „Agnes, gib zu... du bist nicht du. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das dich oder andere in Gefahr bringt."
Agnes funkelte ihn wütend an, bevor sie sich von ihm abwandte. „Du solltest dich in einen Hund verwandeln, Sirius. Es könnte jeden Moment soweit sein."
Sirius seufzte, wusste aber, dass das Gespräch beendet war. In letzter Zeit kam es ihm immer so vor, als würde niemand auf ihn hören. Er fühlte sich seltsam eingesperrt, wie er es auch am Grimmaultplatz gewesen war. Er war nur der Typ gewesen, der zufällig ein Haus besaß und dort eingesperrt war – nicht nützlich und nicht wichtig. Jetzt war er eben der Typ, der zufällig dabei gewesen war, wie Agnes ausgebrochen ist und war wieder unnütz und unwichtig. Aber Sirius wusste, dass es manchmal vielleicht besser wäre, wenn sie auf ihn hörten. Immerhin hatte er nicht umsonst so lange überlebt.
Es war schon spät. George Weasley war noch lange wach geblieben, um an neuen Erfindungen für den Laden zu arbeiten, aber die Müdigkeit, die einfach nicht verschwinden zu schien, zwang ihn schließlich dazu, die Lichter in der Küche zu löschen und doch in sein Zimmer zu gehen, aber auf dem Weg dorthin bemerkte er, dass die Tür vom Zimmer seines Zwillings offenstand und noch Licht brannte, obwohl Fred schon vor Stunden gesagt hatte, dass er ins Bett gehen würde.
George klopfte, bevor er das Zimmer betrat und fand seinen Zwilling an dem Ort vor, an dem man ihn häufig sehen konnte – Fred saß auf seinem Bett und blätterte durch ein Buch.
Es war ein Buch über die Regeln, die ein Werwolf befolgen musste, aber in einer Kinderbuchform. Agnes hatte dieses Buch von Remus und Sirius geschenkt bekommen und häufig konnte man es in Freds Händen finden – George war sich sicher, dass er es schon auswendig kannte.
Fred sah müde aus, aber das tat er in letzter Zeit immer. Dunkle Ringe unter seinen Augen zeugten von schlaflosen Nächten und George konnte im Nebenzimmer häufig hören, wie Fred unsanft von einem Albtraum geweckt wurde und er danach selten wieder schlafen ging.
Im Scherzartikelladen setzte Fred immer ein falsches Lächeln auf, das dem von Konstantin Gregorovich ernsthafte Konkurrenz machte, aber sobald die Türen geschlossen waren, verschwand dieses Lächeln.
„Fred", sagte George sanft und erschrocken blickte Fred auf, bemerkte aber, dass es nur George war und entspannte sich wieder.
„Schläfst du noch nicht?", fragte Fred ihn müde und rieb sich selbst die brennenden Augen.
„Dasselbe könnte ich dich fragen", bemerkte George und ging ins Zimmer hinein, um sich neben Fred zu setzen.
George sah auf das Buch in Freds Händen – es waren liebevoll illustrierte Zeichnungen im Buch und die Regeln für Werwölfe waren kindgerecht aufgeschrieben. Es war traurig, dass es so ein Buch überhaupt gab – ein Buch, das Kindern erklärte, wie man ein Monster war in einer Gesellschaft, in der sie für immer ausgestoßene sein würden.
„Es ist Vollmond", erklärte Fred, „Ich... ich kann zu Vollmond nicht schlafen, ich muss an Agnes denken und frage mich, ob..."
„Ich weiß", wisperte George leise. Er selbst wusste immer, wann Vollmond war. Irgendwo war auch noch Tia, die zu Vollmonden nie schlafen konnte und er dachte dann immer daran, dass sie viele Nächte zusammen in Hogwarts verbracht hatten. Natürlich konnte Fred keine so schönen Erinnerungen mit dem Vollmond verbinden.
„Es gibt so viele Regeln für Werwölfe", bemerkte Fred und strich sanft über die Zeichnung von einem illustrierten Werwolf, „Agnes hat sie bestimmt alle auswendig gewusst. Es ist alles beachtet worden – für jede Lebenslage gibt es eine Regel."
„Agnes hätte bestimmt früher oder später Grauzonen entdeckt", vermutete George. Es war ein Versuch, seinen Zwilling ein bisschen aufzuheitern, aber offensichtlich funktionierte es nicht.
„Agnes hat Regeln gehasst", Fred lachte trocken auf, „Sie hat Autoritäten gehasst und dann wird sie zu etwas gemacht, das sich an so viele Regeln halten muss. Sie hat in einer Welt gelebt, in der sie genau das machen musste, was sie nicht wollte. Diese Welt hat nie einen Platz für sie gehabt."
„Das stimmt nicht, Fred", George strich ihm sanft über den Rücken, „Sie hat bei uns einen Platz gefunden... bei dir. Sie hat Familie gefunden, die einen Platz geschaffen haben. Remus, Tia, Mom und Dad... sie hat hier einen Platz und sie wird wieder einen Platz bei uns brauchen, wenn sie zurückkommt."
„Sie kommt nicht zurück, George", widersprach Fred ihm, „Sie ist tot. Je schneller wir das einsehen, desto schneller könnt ihr anfangen, zu heilen."
„Du nicht?", fragte George ihn sanft.
„Agnes ist nicht nur meine Freundin gewesen", erklärte Fred, „Sie ist... meine andere Hälfte gewesen. Nur mit ihr war ich... vollkommen. Wir beide – wir sind auch Teil von einem Ganzen, aber Agnes hat auch einen Teil davon gehabt – einen Teil von mir und jetzt ist er fort."
„Aber doch behältst du ihre Sachen", zeigte George auf und deutete auf den Rucksack hin, den Fred unter seinem Bett versteckte, „Warum behältst du sie, wenn du weißt, dass sie nicht zurückkommt?"
Fred antwortete kurz nicht. „Ich schaffe es nicht", gestand er schließlich leise, „Jeden Tag hoffe ich, dass ich aufwache und ich rieche, wie sie Frühstück vorbereitet. Jeden Tag warte ich hier und erwarte, ihr Lachen zu hören, wenn ich wieder einmal etwas dämliches sage, aber... das passiert nicht."
„Vielleicht weißt du tief im Inneren, dass doch noch Hoffnung besteht", schlug George vor.
Fred schüttelte den Kopf. „Nein... keine Hoffnung. Sie ist tot."
„Wie kannst du dir da so sicher sein?"
Fred sah George an und George bemerkte, dass sein Zwilling Tränen in den Augen hatte und dieser Anblick schmerzte George. „Ich weiß es. Wenn es nicht so wäre... warum tut es dann so weh?"
Fred warf seine Arme um George und schluchzte in seine Schulter, „Warum tut es dann so verdammt weh?"
George strich ihm über den Rücken, aber er wusste, er konnte nichts sagen, das ihn getröstet hätte. Keine Worte, keine Taten, nichts konnte Fred trösten. Nur Agnes, aber sie war nicht da.
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