101. Kapitel
Agnes war es gewohnt, allein zu sein.
Sie war einen großen Teil ihres Lebens allein gewesen. Als sie mit ihrer Mutter gereist war, als diese sich vor den Auroren versteckt hatte, war sie eher selten allein gewesen. Meistens war Winnie bei ihr gewesen – Winnie, die Hauselfe, die diese Jahre hinweg nicht nur ihre beste Freundin gewesen war, sondern ihre einzige Freundin. Agnolia hatte sie schon damals nicht wirklich als ihre Freundin bezeichnen können. Schon damals war Agnolia eher ein Kerkermeister gewesen, der Agnes eingesperrt hatte, obwohl diese nie etwas anderes gekannt hatte und deswegen nicht wirklich gewusst hatte, dass sie eingesperrt war.
Als sie Agnolia entkommen war, war sie im Waisenhaus gewesen und auch dort war sie allein gewesen. Die anderen Kinder hatten Angst vor ihr gehabt – zurecht, wie Agnes vermutete, denn damals war sie anders gewesen, als sie es nun war. Sie hatte nicht gezögert, anderen zu zeigen, dass sie stark war und sie hatte sich eine fragwürdige Reputation erarbeitet bis zu dem Moment, in dem sie von Professor McGonagall den Hogwartsbrief bekommen hatte.
Als hätte sie bemerkt, dass Agnes eine Freundin brauchte, war ihr Dorothy zugelaufen, ihre treue Katze, die genauso wie Agnes ein bisschen mitgenommen aussah mit vielen Narben und ein bisschen missgestaltet, aber vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum Agnes sie sofort ins Herz geschlossen hatte und sie nicht nur verarztet hatte, sondern auch noch einfach behalten hatte, obwohl das Waisenhaus nicht wirklich glücklich mit ihr gewesen war, aber das war zu einer Zeit gewesen, in der Agnes nicht davor zurückgescheut hatte, andere zu verängstigen, um das zu bekommen, was sie wollte. Also war Dorothy geblieben und was zunächst nur eine praktische Verbindung gewesen war, da Agnes Dorothy gefüttert hatte, war irgendwann zu einer Freundschaft geworden, die weit über das hinausging, was ein Haustier und ein Mensch sein konnten, als wäre Dorothy menschlicher, als die meisten in Agnes' Umgebung.
In Hogwarts war sie zunächst auch viel allein gewesen. Freundschaft war ein Konzept für sie gewesen, das sie für unnötig erachtet hatte und in ihrem ersten Jahr hatte sie eigentlich mit kaum jemanden gesprochen, außer mit Tinky, der Hauselfe in der Küche von Hogwarts, die ihr das Backen beigebracht hatte.
Erst in ihrem zweiten Jahr, als Agnes beschlossen hatte, dem Quidditchteam beizutreten, hatte sie Roger getroffen und die beiden waren schnell Freunde geworden. Agnes war sich nicht mehr ganz sicher, wie das passiert war, aber irgendwie war ihr Roger sympathisch gewesen und so war Roger ihr erster Freund geworden, der keine Hauselfe oder eine Katze war. Zusammen mit ihm hatte sie auch noch das restliche Quidditchteam kennengelernt und sie hatte begonnen, auch viele von ihnen ihre Freunde zu nennen – Grant, Duncan, Randy und dann später auch noch Jeremy.
Sie hatte sich mit Fred und George angefreundet und noch mit vielen anderen und es schien so, als wäre sie dieser Einsamkeit entkommen. Als Agnes aus dem Waisenhaus weggelaufen war, hatte sie auf der Straße geschlafen, aber selbst da war sie nicht wirklich allein gewesen – sie hatte Dorothy bei sich gehabt und dann hatte Roger sie eingeladen, zusammen mit ihm die Weltmeisterschaft zu besuchen.
Das alles schien so weit weg zu sein.
Selbst, als sie von Greyback angegriffen worden war, war sie nicht alleine gewesen. Dorothy war bei ihr gewesen und hatte versucht, sie zu verteidigen und in der Zeit, in der Agnes sich mit dem Gedanken hatte anfreunden müssen, dass sie ein Werwolf war, war da Remus und Sirius gewesen, die an ihrer Seite gewesen waren.
Im nächsten Sommer war Agnes das nächste Mal wieder alleine gewesen, als sie sich Greybacks Rudel angeschlossen hatte. Sie war zwar ständig von Leuten umgeben gewesen, aber letztendlich war sie alleine gewesen inmitten von diesen Leuten, die bereit waren, sie für eine Decke zu töten. In dieser Zeit hatte Agnes erkannt, was es bedeutete, wieder alleine zu sein, nachdem sie so lange schon nicht mehr wirklich alleine gewesen war und sie hasste dieses Gefühl.
Sie war auch alleine gewesen, als sie in diesem Keller eingesperrt gewesen war und die Einsamkeit war so erdrückend geworden, dass sie sich einfach Leute eingebildet hatte, die an ihrer Seite gewesen waren. Zuerst hatte sie Angst vor ihrem eigenen Verstand gehabt, als sie begonnen hatte, sich ihre Freunde einzubilden, die dann auch noch mit ihr gesprochen hatten, als wären sie wirklich da, aber Agnes war auch dankbar gewesen, wenigstens mit irgendjemanden sprechen zu können, auch wenn es mehr oder weniger nur sie selbst gewesen war.
Agnes hatte die Einsamkeit gehasst, aber jetzt sehnte sie sich schon ein bisschen danach.
Nachdem sie in der Nacht noch einmal eine Panikattacke gehabt hatte, behandelte sie alle so, als wäre sie aus Glas und das hasste Agnes noch mehr, als Einsamkeit. Sie sprachen übertrieben höflich mit ihr und immer dann, wenn sie dachten, dass Agnes nicht in ihre Richtung sah, sahen sie sie mit einem mitleidigen Blick an.
Sie konnte das Haus auch nicht verlassen – es bestand die Gefahr, dass sie gesehen wurde und dann hätte sie nicht nur sich selbst in Gefahr gebracht, sondern die anderen auch, also war Agnes in diesem Haus eingesperrt und das hasste sie.
Sie fand etwas Ruhe in dem verlassenen Schlafzimmer, in dem sie erst in der Nacht noch geglaubt hatte, dass die Wände sie zerquetschen würden, bis Sirius ihr gesagt hatte, dass das ebenso nur eine Einbildung von ihr gewesen war, wie die ihre Gesprächspartner im Keller, von denen sie wenigstens gewusst hatte, dass sie sie sich nur einbildete.
Agnes setzte sich einfach auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand, den Kopf zwischen den Beinen versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Sie war müde – so verdammt müde, wie sie es in letzter Zeit immer war, aber es war nun nicht mehr nur eine physische Müdigkeit, sondern auch eine psychische. Ihr eigener Verstand ermüdete und erschöpfte sie. Bisher war ihr Verstand immer das gewesen, auf das sie am meisten Wert gelegt hatte – deswegen hatte der Sprechende Hut sie auch nach Ravenclaw geschickt und nicht nach Slytherin – aber zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, einfach nur dumm zu sein. Sie fragte sich, wie es wäre, einfach nur dumm zu sein. Bestimmt musste es manchmal entspannend zu sein, keinen außerordentlichen Verstand zu besitzen und wenigstens in den eigenen Gedanken Ruhe zu finden. Vielleicht würde sie sich dann nicht so viele Sorgen machen, vielleicht würde sie dann ganz entspannt leben können und wäre ignorant gegenüber allem, was im Moment passierte. Wahrscheinlich wäre sie tot, wenn sie nicht so intelligent wäre, aber dennoch wäre Ruhe vor ihren rasenden Gedanken bestimmt angenehm. Vielleicht würde sie dann schlafen können.
Die Ruhe blieb ihr nicht lange, als sie hörte, wie jemand vorsichtig die Tür öffnete und ohne aufsehen zu müssen erkannte sie am Geruch, dass es Tia war.
Tia blickte schüchtern in den Raum und blieb einen Moment zögernd stehen, bevor sie den Raum vollends betrat und die Tür hinter sich schloss.
Agnes atmete aus, bevor sie aufsah und versuchte zu lächeln, aber sie vermutete, dass es ihr nicht sonderlich gut gelang, aber Tia sah nicht so aus, als würde sie das bemerken und lächelte zurück.
Agnes wusste, was jetzt kommen würde und sie hatte es schon irgendwie erwartet. Sie hatte erwartet, dass jemand kommen würde, um mit ihr zu sprechen. Es hätten auch Liza oder Konstantin sein können – vermutlich sollte sie erleichtert sein, dass es Tia war, die sie als erstes gefunden hatte, aber gleichzeitig wäre es Agnes lieber gewesen, wenn gar nicht gekommen wäre Trotzdem konnte sie Tia nicht einfach so wegschicken, immerhin meinte diese es nur gut und Agnes wollte sie nicht verletzen, nur weil sie gerade nicht in der Stimmung war, mit irgendjemanden zu sprechen.
„Hey", sagte Tia schüchtern und stand unschlüssig im Raum.
„Hey", entgegnete Agnes.
Kurz war es still, dann setzte Tia sich wieder in Bewegung und setzte sich neben Agnes auf den Boden und lehnte sich ebenfalls gegen die Wand.
Es herrschte Stille – eine angespannte Stille. Tia wusste nicht genau, wie sie dieses Gespräch beginnen sollte und Agnes wartete nur darauf, dass Tia etwas sagte.
„Du siehst müde aus", sagte Tia als erstes. Agnes bemerkte, dass sie es nicht besorgt sagte oder anklagend, sondern komplett sachlich, als würde sie etwas aus einem Lehrbuch vorlesen. Das hatte Tia so an sich – Gefühle waren Rätsel für sie aber ihre Gefühle waren ebenso rätselhaft.
„Ich bin auch ziemlich müde", bemerkte Agnes und bemühte sich, nicht unhöflich zu klingen und es gelang ihr auch – wenigstens gut genug, dass Tia lächelte.
„Ich bin auch ziemlich müde", gestand Tia.
Es wurde wieder still und Agnes atmete tief durch. Dieses Gespräch war unangenehm, aber sie wollte nicht, dass Tia das spürte.
„Wen hast du gestern gesehen?", fragte Tia plötzlich und Agnes sah sie verwirrt an.
„Wen soll ich gesehen haben?", fragte Agnes und verstand nicht genau, worauf Tia hinauswollte. Dachte sie, sie hätte sich mit jemanden getroffen?
„Heute Nacht, als du... du weißt schon...", Tia suchte die richtigen Worte, „Du... du hast mit jemanden gesprochen, der nicht wirklich da gewesen ist – nur in deinen Gedanken. Wer ist es gewesen?"
Agnes zuckte zusammen. Tia hatte das also bemerkt – natürlich hatte sie das bemerkt. Sie war immerhin nicht dumm. Aber wenn Tia es bemerkt hatte, dann auch andere und das half bestimmt nicht weiter, die anderen davon zu überzeugen, dass sie geistig gesund war.
Agnes zögerte, bevor sie vorsichtig antwortete: „Es... es ist Fred gewesen. Als ich... in diesem Keller gewesen bin", Agnes erschauderte allein bei dem Gedanken daran, „da... da bin ich allein gewesen. So lange, bis ich wohl meinen Verstand verloren habe–"
„Man kann seinen Verstand nicht verlieren", unterbrach Tia sie und legte den Kopf schief, „Dein Verstand ist kein Gegenstand... man kann ihn höchstens vergessen, aber wenn man sich weder daran erinnert, dann kommt er auch wieder zurück."
Agnes lächelte leicht. Das war wieder einmal so eine Aussage, die typisch für Tia war, aber das machte Tia auch so liebenswert.
„Ich habe angefangen, mir Leute einzubilden, die mit mir sprechen", erzählte Agnes weiter, „Für mich war es so, als wären sie wirklich da unten mit mir im Keller gewesen, aber ich habe schnell bemerkt, dass sie nur Einbildungen sind. Es sind auch verschiedene Leute gewesen – immer wieder andere, damit mir nicht langweilig wird. Remus, Hermine, ... du bist auch einmal hier gewesen. Aber meistens ist es Fred gewesen, der mir da unten im Dunkeln Gesellschaft geleistet hat."
„Vermisst du ihn?", fragte Tia und legte den Kopf schief.
„Jeden Tag", gestand Agnes, „Als ich gestern George im Radio gehört habe... ich wünschte, ich könnte ihn wiedersehen, ja."
„Warum suchst du ihn dann nicht?", fragte Tia verwirrt und sah Agnes mit ihren verschieden farbigen Augen an – ihre Augen hatten irgendwie etwas Beunruhigendes an sich, aber Agnes kannte das Mädchen, das hinter diesem Blick steckte.
„Vermisst du George?", stellte Agnes eine Gegenfrage und Tia runzelte die Stirn, bevor sie nickte, „Warum suchst du ihn dann nicht?"
„Nun... natürlich könnte ich das tun", gestand Tia unsicher, „Aber... aber wir haben uns aus einem guten Grund getrennt. Sie sind noch nicht auf dieser Liste von gesuchten Verbrechern... ich... wenn wir uns sehen würde, könnte es sein, dass uns jemand sieht und dann wären sie in Gefahr, genauso wie ich."
„Siehst du", Agnes nickte wissend, „Jetzt kennst du meine Antwort."
„Nein", bemerkte Tia verwirrt, „Woher?"
Agnes lachte leise. „Ich kann Fred nicht sehen, weil meine Mutter davon erfahren könnte und dann wäre sie genauso hinter Fred her, wie hinter mir und ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn Fred wegen mir sterben würde."
„Aber das ist kein Grund, ihn glauben zu lassen, dass du tot wärst", erinnerte Tia sie, „Du könntest ihm auch nur ein Zeichen senden, damit er weiß, dass es dir gutgeht."
„Dann würde er mich suchen, um mich zu sehen", erklärte Agnes.
„Du könntest ihm ein Zeichen schicken und ihm sagen, dass er dich nicht suchen soll", argumentierte Tia.
„Wenn du denkst, dass Fred sich daran halten würde, dann kennst du ihn nicht gut", lachte Agnes trocken.
„Ich glaube, auf dich würde er hören", bestimmte Tia, „Also... warum tust du das nicht?"
Agnes zögerte. Sie wusste die Antwort ganz genau. Sie seufzte. „Tia, hör mal... ich... ich habe meine Gründe..."
„Warum kannst du es mir nicht sagen?", fragte Tia verwirrt, „Ich meine... wenn du das nicht willst, dann... dann ist das okay, aber ich versuche nur, dich zu verstehen. Soweit ich weiß versuchst du nämlich alles, um alle andere im Glauben zu lassen, zu wärst tot... es gelingt dir nicht sonderlich gut, aber du versuchst es..."
„Ich würde nichts lieber tun, als aufzustehen, dieses verdammte Haus zu verlassen und Fred zu suchen – ich müsste ihn eigentlich gar nicht suchen, ich wüsste ganz genau, wo ich ihn finden könnte", bemerkte Agnes, „Aber... aber ich kann nicht. Ich würde ihn nicht mehr verlassen können. Nachdem Greyback bemerkt hat, dass ich ein Spion bin und ich vorm Rudel flüchten musste, da bin ich auch zuerst zu Fred gegangen, weil ich ihm vertraue. Ich habe gewusst, dass ich ihn in Gefahr bringe, aber trotzdem bin ich zu ihm und ich bin dann auch geblieben, weil ich wohl ziemlich selbstsüchtig bin. Ich bin geblieben, obwohl ich gewusst habe, dass meine Mutter mich suchen würde und sie hat mich schließlich auch gefunden. Sie hat mich in der Wohnung angegriffen – ich will gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn du, George oder Fred noch in der Wohnung gewesen wärt. Sie haben Roger einfach so umgebracht – dasselbe hätten sie mit euch gemacht... also... halte ich lieber Abstand. Je mehr Abstand vor Fred, desto besser."
Tia nickte. „Das ist traurig", meinte sie, aber sie klang nicht mitleidig oder einfühlsam, sondern wieder so, als würde sie einen Fakt zitieren.
„Ich weiß", seufzte Agnes, „Ziemlich jämmerlich... aber... es ist die einzige Art und Weise, die mir einfällt, um Fred zu schützen. Weil letztendlich ist niemand vor Agnolia sicher. Sie wird immer einen Weg finden, um zu mir zu kommen und je mehr Abstand ich von denen habe, die ich liebe, wenn es soweit ich, desto besser."
„Wirst du auch irgendwann einmal vor uns davonlaufen?", fragte Tia und legte den Kopf wieder schief, „Vor mir... Sirius, Konstantin, Liza? Dem Widerstand?"
Agnes zögerte, bevor sie mit den Schultern zuckte. „Tia, ich bin nicht wirklich die sicherste Person. Man kann mir nicht vertrauen", Agnes lachte trocken, „bei Merlin, ich kann nicht einmal mir und meinem eigenen Verstand vertrauen. Was ist, wenn ich irgendwann einmal jemanden von euch verletze? Ich könnte euch auch umbringen..."
„Aber bisher hast du noch niemanden von uns verletzt", erinnerte Tia, „Und soweit ich weiß, hast du auch noch niemanden von uns umgebracht... also... eigentlich gibt es keinen Grund, um davonzulaufen, oder?"
„Ich laufe nicht davon, Tia", widersprach Agnes ihn ernst, „Ich halte nur Abstand, um euch zu schützen."
„Weißt du, Agnes", Tia lächelte sie fröhlicher an, als während einer so ernsten Unterhaltung eigentlich angebracht gewesen wäre, aber das störte Agnes nicht – es war sogar ziemlich erfrischend, „Du bist meine Schwester und ich vertraue dir und ich bin zuversichtlich, dass du niemanden verletzten oder umbringen wirst. Du bist nämlich die stärkste Person, die ich kenne."
Agnes lächelte sie an. „Danke, Tia", sagte sie ehrlich, „Das bedeutet mir viel, dass du das sagst, aber ich fürchte, du irrst dich... Ich bin schon lange nicht mehr so stark, wie früher und ich bin auf jeden Fall nicht stark genug, um andere vor mir selbst zu schützen."
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