Zehn

»Ich hasse sie«, murmelte Viktor, als wir ein paar Straßen weiter stehen blieben. »So sehr.«

In seiner Miene lag etwas Verkniffenes, als er mein Gesicht anschaute und seine Hand nach seinem Mantel ausstreckte. Der hing immer noch über meinen Schultern.

Eilig machte ich mich daran, ihn wieder auszuziehen, doch Viktor winkte ab. »Behalt' ihn an!«

Er griff in die Tasche seines Mantels und beförderte ein zerdrücktes, aber unbenutztes Taschentuch hervor. Vorsichtig begann er damit, mir den ganzen Dreck aus dem Gesicht zu wischen. Eine widerliche Mischung aus Nutella, Schneematsch, Blut und meinen Tränen.

Viktor ließ sich viel Zeit und ging gründlich vor. »Fertig!«, lächelte er schließlich und knüllte das Taschentuch zusammen, ehe er es in den nächsten Mülleimer schmiss.

Auch ich lächelte ein wenig. Ich war unglaublich froh, dass er bei mir war.

»Danke«, meinte ich. »Also nicht nur dafür, sondern auch wegen vorhin und so.«

»Ist doch selbstverständlich.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich weiß ganz genau, wie das ist.« Er streckte seine Hand aus und griff erneut in die Manteltasche, dieses Mal zog er ein Zigarettenpäckchen hervor.

Überrascht schaute ich ihn an, wie er die Schachtel öffnete und sich eine Kippe zwischen die Lippen schob, als wäre nichts dabei.

»Rauchst du?«

Er zuckte mit den Schultern und es war unübersehbar, dass es ihm unangenehm war, er sich dabei alles andere als cool fühlte. »Ich kann sie auch wieder ausmachen ... also wenn es dich stört.« Die Zigarette hielt er so, dass sie nicht in meine Richtung qualmte.

»Brauchst du nicht!« Ich schüttelte eilig den Kopf. Wegen mir sollte er sich nicht blöd fühlen.

Er warf mir ein schiefes Grinsen zu und zog dann an der Kippe. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Über den Marktplatz, der von ein paar Geschäften gesäumt war und auf dem sich ein hübscher Brunnen befand, und dann weiter in eine schmale Seitengasse.

Ich spürte, wie Viktor mich von der Seite her anguckte und wandte ihm meinen Blick zu.

»Kann ich dich irgendwie glücklich machen?«, fragte er ein wenig zaghaft.

Eilig schüttelte ich den Kopf, während ich spürte, wie meine Lippen sich zu einem breiten Lächeln verzogen. »Du hast schon genug getan!«

»Eigentlich ist es normal, das zu tun. Das verstehen diese ganzen Menschen nur nicht«, erwiderte er, doch mir entging nicht, dass in seinen Augen ein wenig Freude auffunkelte, sie für einen kurzen Moment die Trauer in seinem Blick überschattete.

Ich zuckte die Schultern. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass es viele Themen gab, die Viktor bis ins letzte Detail durchdacht hatte, während ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendete.

»Lass uns mal da schauen!«, meinte er und zog mich zu einem Laden, an dem außen ein großes Schild in Form eines Lollis angebracht war. Gemeinsam betrachteten wir die zuckersüßen Sachen hinter dem Schaufenster, an dem ein paar Fingerabdrücke zu sehen waren. Überall standen Gläser und Schalen herum, gefüllt mit rotweißen Zuckerstangen, kunterbunten Bonbons und allen möglichen Sorten an Schokolade.

»Was gefällt dir am besten?«, wollte Viktor wissen. Sein aufmerksamer Blick ruhte auf mir.

Ich deutete auf ein paar knallrote Bonbons, die aussahen wie kleine Herzchen. »Schau mal, die da. Die sind bestimmt lecker!«

Viktor nickte zustimmend, dann wandte er sich von mir ab. Ich sah zu, wie er die drei Stufen zur gläsernen Eingangstür hinaufging und im Inneren des Ladens verschwand. Durchs Schaufenster beobachtete ich, wie er an den Gläsern entlangging und seinen Blick über die vielen Bonbons gleiten ließ.

Dann sah ich, wie er in das Glas mit den Herzchen griff und eine ganze Handvoll in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Wollte er die ernsthaft klauen?

Während ich überrascht meine Augenbrauen hochzog, ging Viktor noch draußen ohne eine Miene zu verziehen. Er schien überhaupt nicht aufgeregt zu sein, sich gar nichts daraus zu machen.

Der Verkäufer wurde stutzig und rieb sich nachdenklich über seinen Bart, da tauchte Viktor schon wieder neben mir auf.

»Schnell weg von hier.« Er griff nach meiner Hand und zog mich hinter die nächste Hausecke, wo wir uns zwischen zwei abgestellten Fahrrädern und Mülltonnen wiederfanden.

»Ihr verdammten Kinder! Ich krieg euch noch!«, hörte ich auf einmal jemanden brüllen. Entsetzt sah ich Viktor an. Der Verkäufer!

In diesem Moment kam er schon um die Ecke gebogen, wenn auch er dick war und nur langsam voran kam. Wir rannten los und mit Viktors Hilfe schaffte ich es, auf eine der Mülltonnen zu klettern und von dort aus auf die Mauer, die den Spalt zwischen den beiden Häusern nach hinten hin abtrennte.

Ich warf einen nervösen Blick über die Schulter. Aufgeregt pochte mein Herz. Was würde passieren, wenn er uns kriegte?

»Hab keine Angst!«, sagte Viktor beruhigend. Er sprang von der Mauer nach unten und streckte mir die Hand entgegen. Ich landete sicher neben ihm auf dem Boden, dann rannten wir weiter. So schnell wie noch nie in meinem Leben. Durch schmale Gassen, über enge Hinterhöfe und kleine Gärten.

Bald vertrieb die Aufregung die Angst.

Wir passierten eine Schrebergartensiedlung und ließen die Stadt endgültig hinter uns. Der Verkäufer war längst nicht mehr zu sehen. Trotz dass ich Seitenstechen hatte und auch Viktors Atmung nur noch stoßweise ging, liefen wir weiter.

Als der Weg hügeliger wurde, hielten erst er und dann ich inne. Für einen Moment war nur unser angestrengtes Schnaufen zu hören.

Dann lachte ich ausgelassen los. »Das war richtig verrückt!«, keuchte ich und er nickte zustimmend.

Langsam kamen wir wieder zu Atem und liefen schließlich weiter, Viktor hatte ziemlich zielstrebig eine Richtung eingeschlagen. Die Schürfwunden an meinen Armen brannten und beim Auftreten tat mir mein linker Fuß etwas weh, doch bei all den aufregenden Sachen, die heute passierten, gab ich nicht viel darauf.

»Ich möchte dir was zeigen«, verkündete er, als wir in den Wald traten. Das Licht brach nur an manchen Stellen durchs Blätterdach, im Unterholz raschelte es gelegentlich.

»Und was?«, fragte ich neugierig.

»Du wirst schon noch sehen«, grinste er und legte eine geheimnisvolle Miene auf. »Wir sind gleich da.«

Bald weitete sich der Weg und wir erreichten eine Lichtung, auf der sich eine heruntergekommene Fabrik befand.

»Wow«, flüsterte ich und blieb andächtig stehen, während ich das verwitterte Gebäude betrachtete. In dem gebrochenen Licht wirkte es ein wenig verwunschen. Ein verrosteter Container stand herum, am anderen Ende des Areals eine Baggerschaufel.

»Siehst du die Schaufel dort?«, fragte Viktor und deutete darauf.

Ich nickte und ließ weiterhin meinen Blick gleiten. Über Rohre, die ganz vermoost waren und den Schornstein, der hoch in den Himmel aufragte.

»Ich glaube, die wollten die Fabrik mal abreißen. Stell dir vor, wie schade das gewesen wäre, wäre sie einfach weg«, überlegte er. »Und wir würden vorbeigehen und gar nicht wissen, was es hier mal für einen großartigen Ort gab.«

Wir nahmen uns Zeit, um über das Gelände zu laufen. Es war an manchen Stellen so verwuchert, dass man nur weiterkam, wenn man durch enges Gebüsch kraxelte. Auf meinen Armen blieben frische Kratzer zurück.

Viktor führte mich zu einem Baum mit vielen gewundenen Ästen. »Da kann man super hochklettern«, sagte er und zeigte mir, wie man am besten nach oben kam.

»Du bist echt oft hier, oder?«, fragte ich nach, als ich mich hochzog, genauso wie er es gesagt hatte.

»Manchmal.«

Ich nickte, dabei wirkte es definitiv so, als käme er viel öfter hierher.

Schließlich hatten wir es beide in die Baumkrone geschafft, von der wir die ganze Stadt überblicken konnte. Sie lag zu unseren Füßen und ein wenig war es, als säßen wir auf dem Dach der Welt. Die Straßen waren nur gewundene Linien, die Häuser rote und schwarze Vierecke. Der Himmel mit seinen Schäfchenwolken war so nah, dass wir nach ihm greifen konnten.

»Mach mal deine Augen zu«, sagte Viktor und griff nach meiner Hand. Mit der anderen klammerte ich mich an dem Ast fest, weil ich mit geschlossenen Augen auf einmal schrecklich viel Angst hatte, nach unten zu fallen. Ich spürte, wie er mir etwas in die Hand drückte. »Und wieder aufmachen!«

In meiner Hand sah ich die roten Herzbonbons.

»Danke«, lächelte ich und hob meinen Kopf, als ich fühlte, dass er mich ansah.

Seine Augen hatten ein sanftes Grün. Auf den ersten Blick waren sie noch nicht einmal besonders auffällig, sondern ziemlich blass und matt, doch je länger man sich in ihnen verlor, desto mehr wurde einem ihre Schönheit bewusst.

Jetzt lag ein leichtes Funkeln in ihnen, das den traurigen Schatten kurzzeitig vertrieb.

Gemeinsam lutschten wir die Bonbons, während wir unsere Beine baumeln und unsere Blicke über die Stadt und die weite Landschaft dahinter schweifen ließen.

»Da unten müssen die anderen jetzt sitzen und lernen.« Er deutete mit einer vagen Handbewegung in Richtung des Flusses, hinter dem in etwa unsere Schule lag. »Und wir sind hier und haben es total schön. Es ist so viel besser, nicht das zu tun, was man soll.«

Ich nickte zustimmend. »Aber dass du den Mann beklaut hast, finde ich trotzdem nicht okay.«

»Ich finde, er hat genug davon. Es fehlen doch nicht viele«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

Wir schwiegen einen Augenblick lang. Er war es, der das Wort wieder ergriff. »Ich hoffe, es gefällt dir hier«, sagte er und lächelte ein wenig verlegen.

»Es ist wunderschön«, bekräftigte ich. Das war es wirklich. Hier, an diesem Ort, neben Viktor existierten all meine Probleme nicht mehr. Die Schule, die vielen Sticheleien und all die anderen schienen wie aus einem ganz anderen Leben zu stammen.

»Du, Viktor?«, fragte ich. Mein Herz pochte aufgeregt.

»Ja?«

»Möchtest du mein Freund sein?« Ich sah auf meine Hände, während ich redete, spürte, wie sich die Rinde in meine Haut drückte.

»Nein«, erwiderte Viktor und schüttelte den Kopf. In diesem Moment bekam ich Angst. Was, wenn er nur ein mieses Spiel mit mir gespielt hatte? Doch dann sah ich das spitzbübische Grinsen, das über sein Gesicht huschte. »Nicht nur Freunde. Wir sind die allerbesten, allercoolsten besten Freunde für immer und ewig.«

Jetzt musste ich lachen. Mit einem Mal fühlte ich mich so glücklich und befreit wie schon lange nicht mehr. Wie vielleicht nie zuvor.

»Weißt du«, erzählte ich dann. »Ich hatte noch nie einen Freund. Die anderen sind immer so gemein.«

»Das werden sie nie wieder sein, das verspreche ich dir. Ich werd' jeden fertigmachen, der dir was tut. Du hast das nicht verdient!«, schwor er mit ernster Miene.

Jahre später sollte mir Viktor mit schmerzerfülltem Blick gestehen, wie sehr es ihm leidtat, dass er sein Versprechen nie halten konnte.

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