5. Rot, wie der Wein
„Und was machen wir jetzt?", fragte James, als wir beide die Zuckerwatte aufgegessen hatten. „Wir können ein bisschen über den Markt schlendern", meinte ich schlicht und erhob mich von der Bank. Es wurde später Nachmittag und der Himmel wurde langsam aber dunkel. Ein blutrotes Licht erfüllte die Gegend und der Nebel, der immer noch über der Stadt schwebte, wirkte beängstigend.
„Sehr wohl, die Dame", sagte er galant und zog einen unsichtbaren Hut von seinen unordentlichen Haaren. Ich verdrehte die Augen, musste aber trotzdem lächeln. „Idiot bleibt bisher immer noch bestehen", teilte ich ihm mit und zwinkerte. „Aber du hast ja noch ein paar Stunden." Mein ursprünglicher Plan, James Potter abzuschrecken, war bereits vergangen. Ich hatte sogar Spaß. Und das war etwas, was mir irgendwie Angst bereitete.
Den ersten Stand, den ich entdeckte, war eine Dosenwerfbude. James war sofort Feuer und Flamme dafür. „Lily, das ist ja wie Quidditch! Man muss nur treffen, oder?", sagte er begeistert und seine Augen leuchteten auf. „Genau, du musst alle Dosen umwerfen", erklärte ich lachend und James zog mich sofort zu dem gelangweilt aussehenden Verkäufer, der aufblickte. „Ich will die Dosen umwerfen!", sagte er und ich musste mir ein Prusten verkneifen, als der Mann ihn irritiert anblickte.
James bekam einen Korb zugeschoben, in dem drei lederne, knallrote Bälle lagen. „Die sehen ja genauso aus wie Quaffel!", sagte er erstaunt und drehte einen der Bälle in der Hand. Der Mann warf ihm wieder einen merkwürdigen Blick zu und ich versuchte ihm via Gedanken mitzuteilen, dass James ein Idiot aus dem Ausland war.
Mit einem Wurf räumte James alle Dosen ab. Er jubelte laut und sowohl ich als auch der Verkäufer hoben unsere Augenbrauen an. „Muss ich noch mehr abwerfen?", fragte er und blickte mich fragend an. „Äh..."
„Du hast schon gewonnen", meinte der Mann grummelnd und irgendwie konnte ich es ihm nicht verübeln. Normalerweise spielten hier Kinder, die gerade einmal die motorischen Fähigkeiten hatten, einen Ball halbwegs geradeaus zu werfen und keine Quidditchstars, die seit Jahren auf der Position des Jägers spielten und darin geübt waren, Bälle zu werfen und Ziele zu treffen. „Du kannst dir jetzt irgendeinen der Preise aussuchen." Meine und auch James' Augen wanderten über die Auslage; da gab es billiges Plastikspielzeug, welches nach wenigem Benutzen schon zerbrechen würde, Kugelschreiber in allen möglichen Farben, Plüschtiere in Form von Hunden, Bären und Elefanten und -
„Ich nehme die Lilie." Irritiert sah der Mann James an. „Was? Ich habe hier keine - " Er wandte sich um, als James den Finger hob und blickte erstaunt auf die Blume, die in einer kleinen Vase stand. „Aber... seit wann steht die denn hier?", meinte er perplex und nahm die Blume in beide Hände, um sie James zu überreichen. Er lächelte verschmitzt, als er sich bedankte und dem Dosenwerfenstand den Rücken zudrehte.
„Warst du das?", fragte ich ihn tadelnd und er grinste mich galant an, ehe er die Blume aus der Vase zog und sie mir überreichte. „Ich weiß nicht, was du meinst", meinte er lässig. „Aber hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen? Zu gut." Ich lächelte und hielt mir die Blume an die Nase, um einen süßlichen Geruch einzuatmen, dann wollte ich sie ihm wiedergeben.
„Nein", sagte James schlicht. „Behalt sie." Er reichte mir nun auch die Vase und als gerade niemand hinsah, zauberte er sie so, dass das Wasser nicht auslaufen konnte. Mit einem leichten Lächeln auf meinen Lippen und erhitzten Wangen – was sicherlich nur an der Hitze dieses Würstchenstandes dort lag – steckte ich die Blume in die Tasche meiner Jacke.
„Wow, was ist das?", fragte James nun und zog mich mit kindlicher Freude zu einem Stand, an dem mit Schokolade überzogenes Obst, Lebkuchen und gebrannte Nüsse verkauft wurden. „Bei Merlins Bart!", rief er aus, als wir vor der Auslage stehen blieben – ich war etwas außer Atem – und er sich die Leckereien alle betrachtete. „Hätte ich gewusst, dass es auf Weihnachtsmärkten so viel leckeres Zeug gibt..." Eine Spur Bitterkeit lag in seiner Stimme. Dann wandte er sich an mich. „Was möchtest du?"
„Wie bitte?", fragte ich ihn perplex. „Was du essen möchtest?", wiederholte er langsam.
„Oh, ich – ich weiß nicht genau. Ich glaube, ein paar Trauben könnten ganz lecker sein." Mein Blick huschte zu den mit weißer Schokolade überzogenen kleinen Früchten. Die Verkäuferin, die uns schon mit abwartendem Blick ansah, horchte auf, als James die Stimme erhob. „Gut, dann einmal die Weintrauben und eine Packung mit gebrannten Mandeln, bitte." Er holte erneut seinen Geldbeutel hervor – ich fragte mich immer noch, wo er denn dieses ganze Muggelgeld herhatte – und wollte die Frau bezahlen, doch dieses Mal kam ich ihm dazwischen. „Ich übernehme das", sagte ich schnell, ehe er seinen männlichen und chauvinistischen Stolz heraushängen lassen konnte.
Glücklich aß ich die Schokoladentrauben und James gab mir ein paar seiner gebrannten Mandeln ab, während wir weiter über den Markt schlenderten und uns hier und da ein paar der Stände ansahen. Ich musste ihn von den Glücksspielautomaten wegziehen („Nein, du wirst sie nicht verhexen!") und auch von den Greifautomaten, in denen sich kitschige Plüschtiere befanden („Was willst du denn damit?"), aber bei dem Stand mit den Edelsteinketten und – ohrringen musste er mich wegziehen. Lachend sagte er zu mir: „Sowas unechtes steht dir sowieso nicht."
Ich besah ihn mit einem säuerlichen Blick. „Woher willst du das denn bitte wissen, Potter?" Er grinste. „Weil ich dich schon mit unechtem Schmuck gesehen habe."
„Wann das denn?", fragte ich ehrlich überrascht, denn ich konnte mich nicht erinnern, dass ich je Schmuck auf Hogwarts getragen hatte. „Am ersten Schultag dieses Jahres, erwiderte er lachend. „Hast du das etwa schon vergessen?"
„Oh", gab ich von mir, als ich mich wieder daran erinnerte, dass meine Mutter mich an diesem Tag dazu gebracht hatte, dass Armband zu tragen, welches Petunia mir zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte gesagt, es sei ein so besonderer Tag gewesen, weil ich doch endlich Schulsprecherin war.
„Das ist unecht? Es sieht aber so edel aus." James grinste noch ein Stück breite und warf die leere Tüte in einen Mülleimer. „Jep. Wenn man mehrere von Kobolden gefertigte Rüstungen, Waffen und Schmuck in seinem Haus hat, dann entwickelt man irgendwann ein Auge dafür."
„Und Tuni hat gesagt, sie hätte ein Vermögen dafür ausgegeben", grummelte ich säuerlich. James legte eine Hand auf meine Schulter. „Nimm es nicht so schwer. Du bist auch ohne Schmuck hübsch genug."
Eine Hitze durchströmte meinen Körper und an der Stelle, wo seine Hand mich eben berührt hatte, brannte es wie Feuer. Und das, obwohl ich die Berührung durch meine Jacke eigentlich kaum gespürt hatte. Was war denn nur los mit mir?
„D-Danke." Ich wandte das Gesicht ab, um mein Lächeln zu verbergen, welches sich auf meine Lippen geschlichen hatte. „Willst du noch was Anderes sehen?", fragte ich dann, als ich wieder die Kontrolle über meine Stimme hatte. „Es wird nämlich langsam spät." Tatsächlich war die Sonne schon lange verschwunden und auch der Nebel, der den Tag über geherrscht hatte, verflüchtigte sich allmählich. Der nun wolkenlose Himmel spiegelte sich ganz wunderbar in dem künstlichen See wider.
„Gibt es denn noch irgendwas, was man sehen müsste?", antwortete er mit einer Gegenfrage und mein Blick viel zu dem Plakat, welches an einen Laternenpfahl geheftet war. Feuerwerk um 21 Uhr!
„Naja. Nur noch das", sagte ich und deutete auf den grellen Schriftzug. „Ein Feuerwerk?", fragte James erfreut. „Das müssen wir uns ansehen, Lily!" Ich wusste nicht, seit wann ich es nicht mehr schlimm fand, dass er mich beim Vornamen ansprach, aber auch dieser Umstand machte mir irgendwie Angst, genau wie die Hitze, die mein Körper durchströmte, als er mich mit diesen leuchtenden Augen ansah. „Klar", erwiderte ich schwach.
Er lächelte mich breit an und zog mich wieder am Handgelenk mit, wobei seine Haut auf meine traf und mein Magen sich wie eine schnurrende Katze einrollte. Er führte mich wieder zu dem Platz, an dem wir zuvor die Zuckerwatte gegessen hatten und wir setzten uns auf die Parkbank. Es war kurz vor neun Uhr, gleich würde also das Feuerwerk starten. Und ich war unglaublich nervös deswegen.
„Sag mal, Lily", murmelte James neben mir und ich blickte ihn an. Er hatte etwas Abstand zwischen uns gebracht. „Wie stehen meine Chancen jetzt?" Er wollte mir dabei nicht in die Augen blicken und obwohl ich keine Antwort wusste, öffnete ich den Mund. „Also - "
Das Glück war dieses eine Mal auf meiner Seite, denn in diesem Moment explodierte der erste Feuerstern am Himmel und tauchte die Nacht in ein farbenfrohes Lichtermeer. Er lächelte schwach und richtete seinen Blick auf das Feuerwerk vor uns.
Kalter Wind kam auf und zerrte an meinen Haaren und meiner Kleidung. Es schien, als würde er sich mühelos durch die dicke Füllung meiner Jacke fressen und bis an meine Knochen dringen. Gänsehaut begann meine Arme hinab zu kriechen und die feinen Härchen an meinem Nacken stellten sich auf. „Ist dir kalt?", fragte James die überflüssige Frage und verdrehte die Augen. „Ein bisschen. Aber es geht." James wollte bereits – männlich, heldenhaft und Gryffindor, wie er war – seine Jacke ausziehen, um sie mir zu geben, aber ich schüttelte heftig den Kopf. „Lass das", war mein Protest. „Ich kann mir einen einfachen Wärmezauber geben."
Ich zog meinen Zauberstab aus meiner Hosentasche hervor und hüllte uns beide wieder in eine wärmende Blase ein, denn die, die James über uns gelegt hatte, als wir das Haus verlassen hatten, war schon lange verflogen. „Es wäre aber meine Pflicht gewesen", sagte er mit einem schiefen Grinsen, welches in diesem Licht unglaublich attraktiv wirkte – also, rein platonisch gesehen. „Lass das mal mit diesen schnulzigen Klischees", erwiderte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Ach ja, der Feminismus", seufzte er gespielt und blickte mich dann mit glänzenden Augen an. „Weiß du, ich könnte dieses doch recht langweilige Feuerwerk etwas aufpeppen." Seine rechte Hand fuhr zu seinen Haaren und er zupfte etwas an ihnen herum, während er mit den Fingern der linken Hand seinen Zauberstab umfasste. „Nein, James!", sagte ich schnell und schloss meinen Mund sofort wieder, während er große Augen machte.
„Was?" Ein dickes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du hast mich James genannt." Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Euphorie und sein Lächeln schien noch heller zu strahlen, als die Lichter des Feuerwerks. Er zog nun doch seinen Zauberstab hervor und schwang ihn.
Eine Flasche mit einer blutroten Flüssigkeit erschien in seiner Hand, sowie zwei Gläser. „Elfenwein", erklärte er. „Ich wollte ihn immer für etwas Besonderes aufheben. Und ich finde, jetzt passt er ganz gut." Sein Kopf zuckte in Richtung der bunten Lichter und er lächelte mich wieder an. Ich konnte nichts sagen, denn mein Hirn hatte sich gerade auf Autopilot gestellt. Dieser Junge neben mir... er sah es als so besonders Ereignis an, dass ich seinen Vornamen benutzt hatte, dass er das feiern wollte. Entweder, das war das bekloppteste oder das süßeste, was ich je gehört hatte. Und mittlerweile wusste ich bei ihm wirklich nicht mehr, was ich all die Jahre so schrecklich an ihm gefunden hatte. Der wahre James Potter gefiel mir sogar außerordentlich gut.
James reichte mir ein gefülltes Glas und prostete mir zu. „Auf dich, Lily." Er nahm einen Schluck und auch ich führte das Glas an meine Lippen. Der Wein schmeckte bitter und herb, aber irgendwie fruchtig. Ich hatte Sirius Black einmal darüber reden hören; Elfenwein sei ein sehr exquisiter Tropfen, den die reichen Reinblutfamilien wie Wasser tranken, damit sie sich noch besser fühlen konnten. Dass James so eine Flasche besaß und dass er sie für so eine Banalität öffnete, fand ich... beunruhigend und irgendwie auch berührend.
Noch lange, nachdem ich das Glas geleert hatte, konnte ich den fruchtigen Geschmack auf meinen Lippen spüren. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Alkohol in Elfenwein war, oder ob ein Glas überhaupt ausreichen würde, um mich beschwipst zu machen, aber ich verkleinerte den Abstand zwischen uns etwas, während die letzten Feuerwerkskörper am Himmel in bunte Sterne und Strahlen zerplatzten. Aus einem mir noch unerfindlichen Grund, wollte ich nicht mehr, dass der Abstand zwischen uns so groß, so greifbar war.
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