Achter Moment

Vor vierzehn Jahren

Alexander

Bewusst sammle ich alle flachen Steine, die ich finden kann, auf. Sie liegen kühl in meiner Hand. Der Wind gleitet sanft durch das Land. Er lässt die restlichen braun roten Blätter nach unten segeln, wo sie sanft auf den klammen Boden treffen. Sie fügen sich wie vor Jahren zusammen, zu einer Decke. Dabei sehen sie sehnsüchtig nach oben, gehören doch zu ihrem Baum, wie die Sterne zu ihrem Himmel.

Ich sehe auf mein Handy Display. Noch fünfzehn Minuten, dann ist Mitternacht. Mit ruhigen Schritten trete ich näher an das Ufer. Der Erboden verändert sich. Ich spüre jetzt die kleinen Kieselsteine. Meine Schritte geben knirschende Geräusche von sich. Die Nacht liegt im schweigen vor mir und selten habe ich die funkelnden Sterne so genoßen wie jetzt.

Tief atme ich durch und lausche meinen eigenem Atem, erinnere mich sogleich an ihn. Ich sehe auf die Steine in meiner Hand. Sie sind durch meine eigene Körperwärme aufgewärmt. Ich werfe sie flach über das Wasser, sehe ihnen dabei zu, wie sie anmutig über das Wasser laufen und irgendwann ertrinken. Dabei stelle ich mir die Frage ob sie, wenn sie könnten, nach Luft schnappen und ob sie Erstickungsangst haben. Sollten sie es nicht gewohnt sein unter zugehen? Und was ist das für ein Gefühl, dafür bestimmt zu sein, nie auf der Oberfläche schwimmen zu können? Steine sind großartige Taucher. Ihnen ist diese Gabe von Natur aus auferlegt. Vielleicht würden sie gerne mal ihre Bestimmung ändern, wenn sie nur könnten.

Jeden einzelnen Stein bringe ich das laufen bei und beobachte die gezählten Schritte. Wie viele Schritte ich gegangen sein muss, um hier zu stehen? Die Leere war noch lange beständig, konnte von keinem neuen Wissen gefüllt werden. Und auch jetzt, wo sich so vieles wieder ändern würde, wäre sie noch da. Ich habe erkannt, das ich anders war und das ich nicht nur mit meinem Wissen aneckte sondern wahrscheinlich auch mit manch anderen Dingen. Nur Clary, Jace und Izzy wussten bis jetzt davon. Die zwei erst genannten waren seit geraumer Zeit ein Paar. Sie waren nervig aber auch gleichzeitig schön. Die beiden passten einfach zusammen. Das konnte keiner abstreiten. Izzy und ich hatten uns noch an dem Ball Abend ausgesprochen. Es war nicht wie früher, eher anders aber dennoch gut.

Ich fühlte mich wie ein Schiff. Es sank nicht durch das Meer, sondern weil es irgendwo einen Schaden trug und dadurch das Wasser in sich hinein ließ. Ich ließ zu viele Gefühle in mich hinein, die mich auf irgendeine Art kaputt machten. Als Kind fand ich die Welt noch toll und auch jetzt war mein Wissensdurst noch nicht gestillt. Aber ich fühlte mich nicht mehr so wohl. Selbst jetzt hier zu stehen, erschien mir falsch. Schon oft habe ich versucht davor zu flüchten. Schnell habe ich bemerkt, das mich die Wassermassen schwer machten. Es würde mich alles wieder einholen. Irgendwann.

„Wie viele Schritte schaffst du?" Mein Herz bleibt kurz stehen, nur um dann acht Schläge auf einmal zu überspringen. Ich drehe mich nicht um, denn der Junge stellt sich bereits neben mich. Er hatte sich verändert. Die Haare lagen nicht mehr platt sondern waren nach oben gestylt. Seine markanten Augen wurden von dem Vollmond in ein Licht getaucht, wie ich es vorher noch nie gesehen habe. Die Milchstraße schien mir noch nie deutlicher. Auch ein paar Zentimeter Körpergröße sind nochmal dazu gekommen. Magnus sah unheimlich gut aus.

„Mein höchstes war sieben. Der Durchschnittswert ist allerdings vier, wenn ich mich nicht verrechnet habe." Instinktiv reiche ihm einen Stein. Mit einem guten Handschwung, schubst er diesen auf den Weg zum tauchen. Es sind drei Schritte. „Du müsstest deinen Abschluss mittlerweile haben. Wenn ich mich nicht verrechnet habe." Ich sehe ihn von der Seite an. Magnus zwinkert mir zu und es bringt mich unbewusst zum Lächeln. „Ja ich muss mich jetzt eigentlich nur noch für ein Studium bewerben." Ich spürte seine Körperwärme so deutlich wie die letzten Steine in meiner Hand.

Ich reichte ihm noch ein Stein, bevor gleichzeitig ihnen das laufen beibrachten. Sie schafften beide vier Schritte bevor sie sich dem See hingaben. Wie ein Gemälde spiegelte dieser den Nachthimmel wieder. "Weißt du schon was du machen möchtest?" Ich schüttle den Kopf, so wie bei jedem mal, wenn mir diese Frage gestellt wird. Nur das ich bei Magnus nicht das Gefühl habe mich rechtfertigen zu müssen.

Ich ermögliche dem letzten Sein zu tauchen. Dabei sind es fünf Schritte. Anstatt jetzt zu gehen, setzt sich Magnus auf die Kieselsteine. "Du könntest dich verkühlen." Eine Sorge, die mich trifft wie der Stein auf das Wasser, sinkt in die Tiefe meines Inneren. "Ja das stimmt. Aber ich könnte auch mit achtzig bereuen mich jetzt nicht hier her gesetzt zu haben, weil ich mich nicht verkühlen wollte. Wir kommen hier sowieso nicht lebend raus." Ich lasse mich ebenfalls nieder, lehne mich etwas nach hinten mit dem Wissen das meine Hände mich stützen. "Ok, das war vielleicht etwas harsch. Aber ich möchte einfach jede Sekunde, die die Welt geben konnte zu meiner eigenen machen. Ich will einfach irgendwann sagen, das ich gelebt habe und nicht einfach nur lebendig war." Magnus schaffte es erneut mir ein Lächeln in das Gesicht zu hauchen. Er erinnerte sich an die Frage und an meine Worte. Es war ein Zauber, der nur er vermacht.

Ich sehe ihm an, das auch er etwas hat, was ihn bedrückt. Es ist so deutlich wie die Leere in mir. "Wie geht es dir?" Die Frage bei der die meisten Antworten gelogen sind und trotzdem stelle ich sie ihm. "Meine Eltern sind unzufrieden mit mir und das ist etwas was mich zum nachdenken bringt. Alles was ich tue.. ich frag mich ob das wieder nicht genug ist oder ob sie wieder darüber urteilen." Magnus sitzt im Schneidersitz da und legt mit den einzelnen Kieselsteinen kleine Bilder. Ich erkenne einen Smiley, eine Sonne und ein Bild was noch nicht fertig ist.

"Du lebst für dich, nicht für deine Eltern oder für irgendjemand anderen." Ich sehe auf den See als mein Handy vibriert. Es ist Mitternacht. "Ich.. ich bin bisexuell und mache mich selbst dafür jeden Tag fertig. Sie verstehen es nicht. Dabei hatte ich mir nichts anderes als Akzeptanz gewünscht." Magnus Blick liegt dabei auf mir. Er ist soviel weiter als ich. "Ich finde wenn man Probleme mit der Sexualität seines Kindes hat, dann hätte man keine Kinder bekommen sollen." Es klingt in meinen eigenen Ohren hart. Er sieht mich einfach an und wartet darauf das ich fortfahre. "Ich meine Kinder sollte man bedingungslos lieben und nicht nur wenn sie perfekt der Ideologie der Eltern entsprechen. Auch wenn das am Anfang schwer ist zu verstehen, aber irgendwann wird das eigene Kind zu einem Individuum mit eigenen Interessen, Neigungen und Vorlieben. Wenn man das nicht versteht ist das ein Problem für die Eltern. Das hätte ihnen vorher klar sein müssen. Solange du dich selbst akzeptierst, kann dir keiner etwas anhaben. Unsicherheit ist laut. Selbstvertrauen meist leise."

Magnus sieht mich an. "So habe ich das noch gar nicht gesehen." Kurz zögert er. "Würden es deine Eltern akzeptieren?" Es ist der Punkt der mich selbst beschäftigt. "Das werde ich noch heraus finden. Aber vorher muss ich das alles selbst verstehen." Er versteht den Wink. Traurig zuckt mein Mundwinkel nach oben. "Ich wusste wahrscheinlich schon sehr früh das ich Mädchen nie anziehend finden würde." Der Mond ist ein stummer Zeuge unseres Coming Outs. Es war leichter als bei Jace.

Es wundert mich nicht wirklich. Jeden Zug meines Atems spüre ich in jeder einzelnen Zelle durch ihn. Mit Magnus ist vieles anders. Ein Blick von ihm wog schwerer als jedes Wort von jemand anderen. Wir sahen uns in die Augen. Grün lächelte das undefinierbare an. Wir trugen immer noch den Schlüsselanhänger des jeweils anderen herum. Niemals mehr würden wir sie tauschen.

Mein Handy brummte erneut, riss mich aus dem Ertrinken des Universums, welches ich betrachtete. Izzy hatte mir geschrieben. Ich lächelte leicht. "Ein Verehrer?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein, da gibt es keinen. Meine Schwester hat mir nur geschrieben. An unseren Geburtstag machen wir nur immer ein Battle wer dem anderen schneller gratuliert, weil wir ja Zwillinge sind. Das haben wir schon immer als Kind gemacht." Schnell schreibe ich ihr zurück. "Du hast Geburtstag?" Ich stecke mein Handy wieder weg und nicke dann vorsichtig. "Deswegen bin ich auch mal wieder hier." Er lächelt leicht. "Happy Birthday, Alexander." Überrascht sehe ich ihn an. Mein Name klang selten so schön. "Woher weißt du meinen vollständigen Namen?" Magnus zuckt nur grinsend mit seinen Schultern. Es bringt mich wieder einmal zum schmunzeln. Langsam schmerzen sogar schon meine Wangen.

"Warum eigentlich der Springer?" Magnus hebt ein paar Kieselsteine auf und wirft sie dann in den mondschimmernden See. "Ich mag es das er sich anders bewegt als alle anderen." Ich nicke bevor mein Blick auf seine gelegten Bilder gleitet. Es ist ein Herz. Wir beide sehen uns immer wieder an.

Die Nacht breitete ihr wunderschönes Gewandt über die Zeit aus, dämpfte das Ticken ihrer Schritte. Dadurch vergingen Sekunden, Minuten, Stunden, welche wir kaum merkten. Sie vergingen stumm, ertranken in den See wie die Steine, ließen uns mehr als nur einen Moment.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top