Prolog

Ihre Schritte hallten laut auf dem Sandweg wieder, ihre Atmung ging gleichmäßig. Während des Laufens sah sie prüfend auf ihre Armbanduhr. Ein stolzer Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie erhöhte ihr Tempo noch etwas. Kurt Cobains Stimme in ihrem Ohr trieb sie weiter voran. Jeden Tag lief sie nachmittags durch den Wald, um ihre Kondition auf kurzen Strecken zu verbessern. Dieses Mal dämmerte es bereits, den restlichen Tag hatte sie erst Mal auskatern müssen. Doch auch die raue Menge an Alkohol von gestern Abend würde sie nicht von ihrer sportlichen Routine abbringen. Sport war ihrer Meinung nach das beste Mittel gegen den Scham, den sie empfand. Es würde sie gewiss von ihren Gedanken ablenken.

Von dem Knacken hinter sich ließ sie sich nicht beeinflussen, in einem Wald gab es schließlich Geräusche. Plötzlich wurde sie von einem Gefühl des Unbehagens mitgerissen, es kroch von ihrem Herzen bis in ihre Zehen und darüber hinaus. Mit einem Mal kam es ihr zu still vor, hinter jedem Baum schien ein dunkler Schatten zu lauern. War es Zufall, dass das flutende Sonnenlicht mit einem Schlag verschwand? Wolken und Tiere waren völlig normale Sachen, kein Grund zu Panik. Doch trotzdem stockte sie und lief nicht weiter.

Sie blieb stehen.

Mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier wandte sie sich um. Der Wald wirkte nun eher bedrohlich als einladend, obwohl sie hier viele schöne Stunden verbracht hatte. Da war es wieder, dieses Rascheln! Erschrocken fuhr sie herum, die Arme abwehrend erhoben. Dann musste sie über sich selber schmunzeln: Bäume hatten nun mal Äste, und Äste bewegten sich im Wind. Nur dumm, dass es schon den ganzen Tag komplett windstill war. Ihr wurde eiskalt und im selben Moment spürte sie einen Blick auf sich. Die blanke Angst packte sie ohne Vorwarnung. Adrenalin strömte durch ihren Körper und sie setzte sich ruckartig in Bewegung.

Sie rannte, sie rannte wie sie noch nie in ihrem ganzen Leben gerannt war. Bei keinem Training, keinem Lauf, keinem Wettbewerb. Aber im Vergleich dazu ging es hier um etwas, das wusste sie. Etwas wichtiges. Ihr Leben? Quatsch! Nach einer weiteren Minute im Sprint kam sie ruckartig zum Stehen. Schwer schnaufend stützte sie mit geschlossenen Augen ihre bebenden Hände auf ihren Knien ab. Nach Luft ringend ging sie in die Hocke. Ihre weißen Turnschuhe waren sowieso schon dreckig, Mama würde sauer sein. Der Reißverschluss ihrer Trainingsjacke berührte den Boden. Es war erst Anfang Juni, die Temperaturen waren noch nicht allzu hoch.

Sie schluckte schwer und hob den Kopf. Sie hatte es abgeschüttelt, was auch immer es gewesen war: Es war weg. Erleichtert sprang sie auf und erstarrte sogleich wieder. Oh Gott. Ihr Lächeln gefror und ihr Mund öffnete sich, bereit um zu schreien. Zu schreien, wie sie noch nie in ihrem ganzen Leben geschrien hatte. Laut und unbeherrscht. Panisch. Hilflos. Unkontrolliert. Bevor sie auch nur einen Ton von sich geben konnte, sauste etwas Schweres auf sie herab und traf sie am Kopf. Um sie herum wurde alles schwar und sie merkte, wie ihre zitternden Beine nachgaben.

Langsam öffneten sich ihre Augen und verschwommen nahm sie Bäume um sich herum war. Bäume. Das war gut. Bäume bedeuteten Wald, Wald bedeutete Sicherheit. Im Wald fühlte sie sich wie zu Hause. Wald war wunderbar. Ihre Sinne wurden klarer und ihr Blickfeld lichtete sich. Sie lag auf dem Rücken, unter ihr war sandiger Boden. Die Sonne schien durch die grünen Blätter und knorrigen Äste hindurch, der Wald bekam dadurch etwas Friedliches.

Nun setzte auch ihr Gehör wieder ein. Sie hörte Vogelgezwitscher, ein munterer Gesang aus den verschiedensten Vogelstimmen. Ihre Kenntnisse in Heimatkunde waren mehr als schlecht, mit Mühe hörte sie den klangvollen Gesang der Nachtigall heraus. Allerdings stimmte etwas nicht. Diese Erkenntnis traf sie schlagartig, denn nun begannen auch ihre restlichen Sinne wieder zu funktionieren.

Die Realität durchströmte sie wie ein vorbei fahrender Zug und riss sie mit sich. Ihr ganzer Körper war voller Schweiß und sie spürte plötzlich etwas Hartes in sich. Voller Entsetzen keuchte sie auf und wandte ihren hypnotisierten Blick von den Baumkronen über sich ab, ihre Augen wanderten an sich herab.

Ein junger Mann lag auf ihr. Ein junger Mann war in ihr. Dieser Umstand wurde ihr in diesem Moment bewusst und sie schrie voller Qualen auf. Unsanft presste er eine Hand auf ihren Mund. Kein weiterer Laut kam ihr über die Lippen, doch ihr ganzer Körper war erfüllt von Schmerz. Es tat höllisch wer und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es aufhörte, jetzt. Sie zuckte immer wieder zurück, während er immer wieder zustieß. Ihre Stimme war leidvoll, seine lustvoll. Sie wimmerte, er stöhnte.

Wann war es endlich vorbei?

Die Bewegungsfreiheit kehrte zurück und sie war wieder Herr über ihren Körper. Wild begann sie um sich zu strampeln und versuchte, ihren Peiniger zu treten. Seine Hand schloss sich um ihren Hals und er festigte seinen Griff. "Ruhig, Süße, entspann dich!", raunte er lüstern in ihr Ohr. Der Schweiß lief ihr in Strömen die Stirn herunter, auch sonst war ihr ganzer Körper bedeckt von Flüssigkeit. Wie lange war sie wohl ohnmächtig gewesen? Was hatte er bereits alles mit ihr angestellt?

Übelkeit stieg in ihr auf und sie würgte in die nasse Innenseite seiner Hand hinein. Er ließ sich nicht beeinflussen und drückte nur fester zu. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann langsam ihre gerötete Wange herunter. Kannte er denn keine Gnade? Verzweifelt versuchte sie nach Atem zu schnappen, da ihr die Luft ausging. Panisch biss sie in seine Handfläche und strampelte sinnlos mit ihren Beinen.

"Hör auf", knurrte der Mann. Wut schwang in seiner Stimme wird. "Hör auf, oder ich erwürge dich, ich schwör's!" Verächtlich spuckte er ihr ins Gesicht und prompt stellte sie ihren Widerstand ein. "Na bitte, geht doch!", grinste er dreckig. Sie wimmerte kläglich und wünschte, sie wäre tot. Der Tod war besser als das hier. Alles war besser als das hier.

Vielleicht, dachte sie, vielleicht, wenn ich einfach still halte und abwarte, vielleicht geht es dann schneller vorbei. Vielleicht.

Es war die verzweifelte Hoffung, die sie dazu trieb, ihre Konzentration auf etwas anderes zu lenken. Ihr fiel auf, dass der Fremde ein Tattoo am rechten Handgelenk hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie darauf, um sich vom Schmerz abzulenken.

Es handelte sich um züngelnde Flammen, die einen Kreis um das Gelenk schlossen und in Richtung der oberen Armhälfte gerichtet waren . . .

Sein Atem wurde schneller und lauter . . .

Eine rötlich-orange Färbung füllte den Umriss der Flammen aus . . .

Nun wurde ihr ganzer Körper von seinen Handlungen erschüttert, doch es war kein schönes Beben . . .

Flammen waren heiß, mit Feuer spielte man nicht . . .

Ihr Mund wurde ganz trocken und ihr drohte schon wieder schwarz vor Augen zu werden. Aber sie musste bei Bewusstsein bleiben! Sie musste hier wieder raus. Sie musste durchhalten . . .

Als kleines Kind hatte sie sich an ihrem sechsten Geburtstag fast verbrannt, da ihre Mutter den Kuchen hatte anzünden wollen. Seitdem begegnete sie dem Feuer nur mit Vorsicht. In der Schule im Chemieunterricht hatte immer eine ihrer Freundinnen den Bunsenbrenner anzünden müssen . . .

Die Höllenqualen verschwanden, zurück blieb nur ein ziehender Schmerz in ihrem Unterleib. Zitternd setzte sie sich auf, das Gesicht leidend verzogen. Ihr Vergewaltiger hatte sich ebenfalls erhoben und knüpfte sich in Seelenruhe die Hose zu, als hätte er alle Zeit der Welt. Er sah so selbstfrieden aus, dass es ihr hoch kam und sie neben sich erbrach. Ihr letztes bisschen Kraft hatte sie soeben ausgekotzt und ihr letztes bisschen Würde verschwand, als ihr Kopf erschöpft in ihr Erbrochenes sank. Da lag sie nun, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen.

Er soll gehen, dachte sie. Bitte geh. Lass mich allein. Bitte, tu mir nicht weitere Sachen an, von denen ich weiß, dass du es gern tun würdest. Ihre Gebete wurden erhört, erhört von einem Gott, den es nicht gab und an den sie nie geglaubt hatte. Denn wenn es einen Gott gäbe, würde er so etwas nicht zulassen. Ein guter Gott würde es nicht dulden, dass ein Mann eine Frau auf so eine Art und Weise demütigte und erniedrigte. Zögernd hob sie den Kopf, die Überreste ihrer Mahlzeit klebten auf ihrer Haut.

"Danke für den netten Fick", sagte er mit schleppender Stimme. Ein dreckiges Grinsen umspielte seine sich kräuselnden Lippen. Höhnisch sah er auf sie herab. Dann lachte er ein letztes Mal, gab ihr einen kräftigen Stoß mit seinem Fuß und verschwand. 

Keuchend blieb sie auf dem sandigen Boden liegen. Sie begann hemmungslos zu weinen, ihre Schluchzer hallten durch den ganzen Wald. Alles an ihr tat ihr weh. Sie wollte weg, sie wollte aus sich raus. Denn er war in ihr gewesen. Sie wollte aus sich raus, sie wollte aus sich raus, SIE WOLLTE AUS SICH RAUS! Sie wollte ihren Körper verlassen, weg, einfach nur weg. So beschmutzt und würdelos hatte sie sich noch nie gefühlt.

Mittlerweile war es Nacht geworden und die Dunkelheit schien sie einzulullen. Wenigstens musste sie nun nicht mehr den Anblick ihrer nackten Beine oder dem dreckigem, in der Mitte zerrissenem T-Shirt ertragen. Lediglich der pralle Vollmond, der zwischen den Wolken hervorlugte, spendete etwas Licht. Sie wünschte sich, in einer vollkommen dunklen Hülle gefangen zu sein. Der Schein des Mondes blendete sie und ihre Augenbrauen zogen sich eng zusammen, sodass sie eine durchgängige Linie bildeten.

Ich muss hier weg, dachte sie. Was, wenn er zurück kommen würde? Der Gedanke versetzte sie in eine solche Furcht, dass sie sich taumelnd und ohne groß Nachzudenken aufrappelte. Ein unüberlegter Zug, denn im nächsten Augenblick lag sie schon wieder am Boden. Wimmernd und stöhnend stand sie erneut auf, dieses Mal mit bedachter Vorsicht.

Stockend machte sie den ersten Schritt.

Ihr Unterleib schmerzte so sehr, dass es ein normales Gehen völlig unmöglich machte.

Ein Schritt.

Und noch einer.

Ein Schritt nach dem anderen.

Ein Schritt.

Ein Schritt noch.

Ein paar Schritte weiter, und sie hätte den Ausgang des Waldes erreicht.

1000 Schritte weiter, und sie wäre am Vorgarten ihres Hauses angelangt.

Sie wurde von etwas wie Erleichterung gepackt und beschleunigte ihre Schritte. So wacklig auf den Beinen, wie sie war, würde sie es ohnehin nicht länger aushalten, so viel war sicher. Wasser. Sie brauchte Wasser. Ihr Verstand arbeitete nur langsam und stockend, nichts schien mehr zu funktionieren. Psychisch und physisch war sie total am Ende.

Und während ihre wirren Gedanken sich überschlugen, trat jemand aus dem Gebüsch am Waldausgang. Ohne zu überlegen kreischte sie laut auf und riss die Hände vor das Gesicht. Bei dem sinnlosen Versuch, sich umzudrehen und wegzulaufen, stolperte sie über ihre eigenen Füße und schlug auf dem harten Untergrund auf. Von ihrem Emotionen geschüttelt verharrte sie wie ein Baby in sich zusammengerollt, wie ein Igel in Schutzstellung gekrümmt.

Eine stark bebende Hand tastete suchend nach ihr und legte sich schließlich fragend auf ihre Schulter. Mit einem leisen Schrei schüttelte sie die sich in ihre Haut krallenden Finger ab. "Elinor" Eine fragende, raue Stimme erklang. "Was ist passiert? Geht es dir gut?", krächzte der Alte und drehte sie etwas unbeholfen herum, sodass sie sich direkt ansahen.

Ein Mann, dachte sie. Es ist ein Mann. Sie erkannte ihn nicht. Panik kroch in ihr hoch, Panik und der Drang, sich zu wehren, zu kämpfen. Noch einmal würde sie es nicht zulassen.

Sie schrie, sie schrie aus Leibeskräften, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht gab es das auch nicht. Zumindest nicht für sie. "Elinor!", rief er dieses Mal lauter gegen ihr unbeherrschtes und hohes Geschrei an. "Nicht - fassen - Sie mich - nicht an - nicht -", brach es nacheinander abrupt aus ihr hervor.

Erstaunt zog er seine Hand zurück. Ihr Geschrei war zu einem Wimmern geworden. Sie realisierte kaum, wie er aufstand und sein Handy hervor holte. Mit leiser Stimme sagte er eindringlich etwas in den Hörer, schilderte die Situation, warf besorgte Blicke zu dem kauernden Mädchen zu seinen Füßen.

Es war ihr egal. Ihr war alles egal. Nichts war von Bedeutung. Alles und nichts. Alles. Nichts. Nichts. Nichts.

Nichts.

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