Kapitel 5

Unruhig warf ich mich im Schlaf hin und her. Ich träumte, ich wäre wieder dort im Wald. Mit ihm. Diesem Fremden. In meinem Traum hatte der Mann kein Gesicht, es könnte jeder sein. Und genau das bereitete mir eine unheimliche Angst: Jeder Mann wäre im Prinzip zu so einer Tat fähig.

Erfüllt von Ekel und Scham strampelte ich mir mit hektischen Bewegungen meine Decke von den schwitzigen Beinen. Ich konnte beinahe fühlen, wie seine warme Hand über meinen Körper gleitete und mich überall berührte.

Schreiend wachte ich auf.

Um mich herum war es dunkel, tiefste, schwärzeste Nacht. Ich fing an zu zittern, meine Schultern bebten und ich hörte mein eigenes, hysterisches Schluchzen. Mein tränennasses Gesicht wurde von meinen Händen verborgen, in die ich meinen ganzen Kummer und meine Angst hineinweinte.

Es fühlte sich wahrlich an, als hätte ich Stunden damit zugebracht, hemmungslos schluchzend auf meinem Bett zu sitzen. Das weiße Laken war feucht von meinen Tränen, die nun langsam versiegten. Meine verzweifelten Laute verwandelten sich in ein Lachen. Es klang viel zu laut und schrill in der Stille, doch in meinem Wahn konnte ich nicht aufhören. Die Angst packte mich und ich drückte mir das Kissen auf den Mund, sodass es sich noch viel animalischer anhörte als zuvor.

Irgendwann stoppte ich abrupt.

Schniefend richtete ich mich auf und band mir das Haar zu einem lockeren Dutt zusammen.

Plötzlich war da wieder dieses Gefühl. Es kroch von meinem Herzen in meinen ganzen Körper und ging mir tief unter die Haut. Ein Kribbeln durchfuhr mich.

Da war Dreck. Überall. Auf meiner Haut, unter meiner Haut, in meiner Haut.

Ohne darüber nachzudenken, wie ich im Bett so dreckig geworden war, rannte ich ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Ich verbrauchte den gesamten Vorrat an fester Seife und musste sogar zu der Handseife vom Waschbecken greifen, um wieder sauber zu sein.

Ich verbrachte über zwanzig Minuten in der Dusche, bevor ich beruhigt in mein Bett zurückkehren konnte, doch auch wenn das schmutzige Gefühl vorerst verschwunden war, blieb die Panik tief in mir sitzen. Sie würde so schnell nicht verschwinden, das wusste ich. Ich wusste auch, dass ans Einschlafen wohl kaum zu denken war.

Noch immer leicht keuchend legte ich mich auf das Bett, die Hände auf der Brust schützend zusammengefaltet. Ich schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Ich scheiterte kläglich.

Meine Gedanken kehrten immer wieder zurück in den Wald, den traumhaft schönen Wald, in dem so etwas erschreckend grausames geschehen war. Das merkwürdige an der Sache war ja, dass ich mich noch immer nicht erinnern konnte. Der ziehende Schmerz sorgte schon dafür, dass ich ständig daran denken musste, aber die Details der Tat wollten mir nicht einfallen. Es war besser so. Viel besser.

Schlaflos wanderte ich im Raum umher und sehnte mich nach dem hellen Morgen. An Mama und Papa wollte ich nicht denken, ebenso wenig an Margot oder Nikki oder die bevorstehende Therapie. Ich wollte einfach nur nach Hause, in mein vertrautes Umfeld.

Kurz dachte ich an Tamaras Ratschlag umzuziehen. Ich musste schwer schlucken. Ein Umzug war das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte.

Komisch.

Vor ein paar Tagen hatte ich es kaum erwarten können, im Herbst endlich mein Elternhaus zu verlassen. Mein ganzes Leben hatte ich in Berlin verbracht, genauer gesagt in Pankow, wo es wie in einem Vorort zuging und es viel Grünfläche gab. Genau das Richtige für jemanden wie mich. Jeden Morgen war ich in die Großstadt gefahren worden, um dort zur Schule zu gehen. Papa hatte mich mitgenommen, da seine Psychatrie ebenfalls mitten in Berlin lag. Ich liebte Berlin, genau wie ich unseren Garten und unseren Wald und die etwas ländliche Ruhe genossen hatte.

Anfang September wäre ich jedoch nach Köln gezogen.

Köln. Schon so lange Stadt meiner Träume. Weit weg von Mama und Papa, weit weg von allem. Köln bedeutete für mich Abenteuer und der Anbruch eines neuen Lebens. Es war ein Neuanfang.

Gewesen.

Nun war da eine Leere in mir, die kaum zu füllen war. Ich wusste nicht mehr, wer ich war oder was ich wollte. Mein ganzes bisheriges Leben erschien mir wie eine ferne Erinnerung, unerreichbar und weit weg. Ich versuchte krampfhaft mich zu erinnern, wie ich früher gewesen war.

Früher? Gestern. Vorgestern. Schon immer.

Ich war müde, so verdammt müde, doch schlafen konnte ich nicht.

Was hätte die alte Elinor gemacht? Wahrscheinlich Hausaufgaben. Sie hätte gelernt bis zum Umfallen.

Im Moment kam es mir so vor, als müsste die neue Elinor alles von vorne lernen und komplett neu starten, um die Welt wieder zu verstehen. Mir fiel ein, dass die alte Elinor Rätsel gemocht hatte. Nein, falsch. Elinor hatte Rätsel geliebt.

Mir fiel auf, dass es mir noch immer so ging, daher durchwühlte ich die Schublade meines Nachttisches nach einem Heft mit Kreuzworträtseln oder Sudoku oder etwas Ähnlichem. Gab es in Krankenhäusern nicht immer so etwas? Hier ganz offenbar nicht.

Frustriert ließ ich mich ins Kissen zurückfallen.

Musik.

Völlig talentfrei hatte ich es geliebt, Musik zu hören. Ans eigene Singen war nicht zu denken, die Party von Arthur war dafür ja der klare Beweis. Kurt Cobain hingegen vergötterte ich, so griff ich zu den wenigen Sachen, die Mama und Papa für mich hier gelassen hatten. Dazu gehörte auch mein Handy und meine Kopfhörer. All die besorgten Nachrichten auf Whatsapp, die vielen SMS und die Anrufe ignorierte ich.

Ein schlechtes Gewissen hatte ich schon, aber ich empfand Unmut und Ärger bei dem Gedanken, dass offenbar schon mein ganzes Umfeld von der Vergewaltigung erfahren hatte. Statt mich also all den neugierigen Fragen und geheuchelten Beleidsbekundungen auszusetzen, steckte ich lieber die Stöpsel rein und scrollte zu meiner Nirvana-Playlist.

Während der erste Titel anlief, lehnte ich mich in mein weißes Kissen zurück. Alles hier war so weiß und rein, in gewissem Maße beruhigte es mich. Nach einem kurzen Blick auf das Display stellte ich fest, dass es sich um Lithium  handelte.

Das war gut. Sehr gut. Wirklich? Und warum zitterte ich dann so sehr?

Woher kam die Panik, die meinen ganzen Körper einzunehmen schien?

I'm so happy
'Cause today I found my friends
They're in my head, I'm so ugly
That's okay 'cause so are you

Mein Magen rebellierte und ich musste würgen. Das widerwärtige Abendbrot, das ich vorhin gezwungen war zu essen, kam mir hoch. Kurt sang einfach weiter, während ich erschrocken die Hände auf meinen Bauch presste und versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

Broke our mirrors
Sunday morning is everyday for all I care
And I'm not scared, light my candles
In a daze 'cause I've found God

Das war zu viel. Die Übelkeit ließ nicht nach, stattdessen spürte ich, wie ich nicht länger gegen den Brechreiz in meiner Kehle ankämpfen konnte. Mit einem ekelerregendem Geräusch erbrach ich, ich kotzte mir wahrlich die Seele aus dem Leib. Keuchend wartete ich ab, bis es vorbei war, doch als nichts mehr da war, was ich erbrechen konnte, setzte der Schwindel ein. Panisch bemühte ich mich darum, die Orientierung wiederzufinden und krallte meine Fingernägel in das weiße Bettlaken.

Weiß.

I like it, I'm not gonna crack
I miss you, I'm not gonna crack
I love you, I'm not gonna crack
I killed you, I'm not gonna crack

Da begriff ich. Es war die Musik. Mein geliebtes Nirvana, mein geliebter Kurt Cobain.

Rätsel gelöst.

Erfüllt von Wut riss ich mir die Ohrstöpsel aus den Ohren und schleuderte sie samt Handy gegen die gegenüberliegende Wand. Das laute Rumsen musste wohl die Krankenschwestern alarmiert haben, denn ein paar Sekunden später betraten gleich zwei mein Zimmer. Auch eine gute Methode, um Hilfe zu holen.

Während sie meine Bettwäsche wechselten und mich erneut duschen ließen, war ich wie betäubt und starrte nur emotionslos vor mich hin. Es war ja nicht genug, dass ich seelische und körperliche Schmerzen hatte.

Nein.

Der Vergewaltiger hatte mir auch meine Lieblingsmusik genommen. Ich erinnerte mich schwach, beim Laufen Nirvana gehört zu haben. Tränen stiegen in mir hoch und ich versuchte gar nicht erst, sie zu unterdrücken. Verbittert leckte ich mir über die salzigen Lippen.

In dieser langen Nacht duschte ich noch drei weitere Male, um mich von dem Schmutz zu befreien und zu lösen, bis ich schließlich am nächsten Morgen von meinen Eltern abgeholt wurde.


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