Kapitel 3
Es klopfte an der Tür. Mit einem müden Blick krächzte ich matt ein heiseres "Herein".
Man hatte mir eine Beruhigungsspritze gegeben, nun war ich ans Krankenhausbett gefesselt. Nicht wirklich gefesselt. Man wollte mich nur über Nacht hier lassen, damit ich weiterhin psychologisch betreut werden konnte. Das klang ja wunderbar.
Eine dunkelhäutige, stämmige Frau trat ein. Sie hatte ihr schwarzes, gelocktes Haar zu einem strammen Zopf gebunden und in ihren schokobraunen Augen lag etwas Wachsames und Verständnisvolles.
"Hallo Elinor", begrüßte sie mich lächelnd und stand mit wenigen Schritten am Fußende meines Bettes. "Hallo", murmelte ich zurück und musterte sie.
Die Frau war keine Krankenschwester und auch keine Ärztin, sie trug einen schlichten, grünen Pullover und eine blaue Jeans, die ihre Rundungen betonte. Das Einzige, was verriet, dass sie zum Persinal des Krankenhauses gehörte, war das weiße Narmensschild, das oberhalb ihrer Brust angesteckt war.
Ihren Namen konnte ich aus der Entfernung jedoch nicht entzifferm, aber das war kaum weiter schlimm, da sie sich gütigerweise in diesem Augenblick selber vorstellte. "Ich bin Tamara und heute für dich da. Wie fühlst du dich, Elinor?", fragte sie mit einer tiefen, melodischen Stimme.
Einen Moment lang wollte ich Tamara für diese bescheuerte Frage anschnauzen. Ich war vergewaltigt worden, wie sollte es mir schon gehen? Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es sie tatsächlich interessierte, wie es mir ging. Außerdem fehlte mir die Kraft für eine abweisende, unfreundliche Antwort, daher zuckte ich lediglich mit den Schultern. "Ich weiß nicht", antwortete ich. Ich klang gebrechlich. Eingeschüchtert.
Tamara nickte. Ich war dankbar, dass sie sich keine Notitzen machte oder unser Gespräch dokumentierte. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte ich neben mein Bett. "Es tut mir sehr Leid, dass dir das passieren musste", meinte Tamara und sah mich mitfühlend an.
Wieder wusste ich nicht so richtig, was ich dazu sagen sollte, daher schwieg ich lediglich. Allerdings schien Tamara auch keine Antwort von mir zu erwarten, denn sie fuhr rasch fort: "Bitte sag mir alles über die Vergewaltigung, was du für nötig hältst, damit ich dich verstehen kann."
Hitze schoss durch meinen Körper und ich begann zu zittern. "Was soll ich Ihnen denn da erzählen?", reagierte ich mit einer schüchternen Gegenfrage und versuchte, meine bebenden Hände zu verstecken.
"Alles was du loswerden willst", lautete die Antwort. Am liebsten hätte ich pampig erwidert, dass sie das gar nichts anginge. Ich hatte mich immer für einen starken, selbstbewussten Menschen gehalten, der nicht gern über seine Gefühle sprach. Während Margot mir alles hatte anvertrauen können, hatte ich eher zugehört. Mit meinen eigenen Gefühlen kam ich schon alleine klar.
Aber nun stellte ich fest, dass ich mich einfach fallen lassen wollte. Ich wollte Tamara sagen, wie es mir ging. Ich wollte jemandem davon erzählen.
"Ich war im Wald", fing ich stockend anzusprechen. "Laufen. Dann habe ich gemerkt, dass irgendetwas anders war und mich umgedreht. Er - er muss mich mit etwas niedergeschlagen haben. Als ich aufgewacht bin, war er- war er- er hat-" Weiter kam ich nicht.
Aus meinem wirren Gerede konnte Tamara wohl doch einige Schlüsse ziehen. Sie akzeptierte es, dass ich an meine Grenzen gestoßen war. Zumindest hakte sie nicht weiter nach, sondern erkundigte sich erneut nach meinem jetzigen Befinden.
"Ich will duschen", fiel mir der Grund für die Beruhigungsspritze plötzlich wieder ein.
"Ich weiß. Das ist nicht ungewöhnlich", bemerkte sie und ich gab Ruhe. Etwas verärgert verschränkte ich die Arme. "Darf ich sie etwas fragen?", wollte ich wissen. "Natürlich", lautete ihre Antwort. Ich schaute an die gegenüberliegende, weiße Wand. Hier war alles weiß.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Tamara mich genau beobachtete, doch ich guckte weiterhin weg, als ich meine Frage stellte: "Wie soll man sich nach einer Vergewaltigung verhalten? Ist mein Verhalten normal oder-" Ich brach ab. Was, wenn ich mich komisch verhielt? Gab es eine Norm, die mir vorschrieb, was ich zu sagen und zu fühlen hatte? Sollte ich besser gar nichts mehr sagen? Oder hysterisch herumschreien wie vorhin?
Tamara antwortete nicht sofort, sagte aber schließlich: "Nein, es gibt kein gewöhnliches oder typisches Verhalten. Jede Frau verhält sich anders, es gibt kein richtig oder falsch."
Ich nickte. Beruhigt war ich nicht, aber so etwas wie Erleichterung stieg in mir hoch. "Wie geht es jetzt weiter?", fragte ich unbeholfen nach. Für eine Sekunde bildete ich mir ein, so etwas wie Verwunderung in Tamaras Blick zu sehen. Falls dem so war, hatte sie sich schnell wieder im Griff.
"Nun, ich werde dich schnellstmöglichst an eine Psychologin aus deinem Umfeld überweisen, damit du mit der richtigen Therapie beginnen kannst." Ich verstand: Tamara war nur eine Not-Psychologin gegen den ersten Schock, vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt.
"Aber ich mag Sie!", rutschte es mir heraus. Was war denn bloß los mit mir? Normalerweise brauchte ich viel länger, um Sympathie so direkt zum Ausdruck zu bringen. Normalerweise klammerte ich mich nicht so sehr an eine Person, die ich noch nicht einmal sonderlich gut kannte.
Normalerweise.
Normal.
Was war denn schon normal? Normalerweise wurde ich auch nicht vergewaltigt. Normalerweise saß ich nicht nachts mit einer fremden Frau und redete über meine Sorgen. Normalerweise drehten sich meine Gedanken nicht um Schwangerschaft und sexuell übertragbare Krankheiten.
Tamara schmunzelte. "Danke, Elinor. Das freut mich sehr. Aber ich bin bedauerlicherweise nur für Patienten des Krankenhauses zuständig. Für eine langjährige Therapie brauchst du eine Psychologin mit einer eigenen Praxis. Also, wenn du das willst."
Etwas fragendes lag in ihren dunklen Augen. "Was würden Sie mir denn empfehlen?", erkundigte ich mich mit matter, lebloser Stimme. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens erwiderte sie: "Du solltest auf jeden Fall eine Therapie machen, am besten so schnell wie möglich. Viele Opfer warten Jahre, bis sie überhaupt jemandem davon erzählen. Ein schweres Trauma sollte behandelt werden, je früher du damit anfängst, desto schneller geht es dir wieder besser."
Ich nickte beklommen. Verzweiflung und Panik stieg in mir hoch. Mir fiel auf, dass ich gar nichts darüber wusste, was ich jetzt am besten tun sollte. Die Angst schien mich zu kontrollieren, die Angst vor dem Ungewissen.
Gerne hätte ich Tamara um weitere Tipps gebeten, doch das kam mir albern vor. Sie erahnte meine Gedanken und bevor ich etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: "Ich finde, du solltest auch über einen Umzug nachdenken, Elinor."
Überrascht hob ich den Kopf.
"Da es nahe deines Hauses und deiner gewohnten Umgebung geschehen ist, wäre ein wenig Abstand nicht verkehrt. Aber mach' dir keinen Stress, denk in Ruge darüber nach. Du hast Zeit."
Ich konnte nur wild nicken und begann wieder damit, meine Finger zu kneten und auf meiner Unterlippe herumzukauen.
"Und ich würde dir auch anbieten, zu unserer wöchentlichen Gesprächsrunde zu kommen. Mit einigen Kolleginnen spreche ich dort mit anderen Mädchen und Frauen, denen das Gleiche passiert ist wie dir. Es würde dir sicher gut tun, Zeit mit anderen zu verbringen, die deine Gefühle und Ängste nachvollziehen können", schlug Tamara vor und erlaubte sich ein kleines Lächeln.
In mir zog sich alles zusammen. Wöchentliche Gesprächsrunden? Das klang ja wie eine Selbsthilfegruppe! Mühsam versuchte ich, meine Empörung zu verbergen. Ich sträubte mich dagegen, m ich als Opfer zu betrachten.
Ein Opfer.
Aber war ich das nicht? Ich war Opfer einer Vergewaltigung geworden. Verdammt. Das klang noch immer völlig unreal und ich begriff es nicht.
Man sah wohl, dass dieser Gedanke mir zuwider war, denn Tamara ergänzte rasch: "Aber das musst du entscheiden, okay? Dafür ist es jetzt noch viel zu früh."
Wieder ein Nicken meinerseits. Immer brav nicken.
"Würden Sie mir empfehlen, Anzeige zu erstatten?", fragte ich hastig. Tamara setzte sich aufrechter hin und wählte ihre Worte mit Vorsicht und Bedacht: "Nun, ich will nicht leugnen, dass es schlimm ist, den Fall komplett neu aufzurollen. Du erlebst alles noch einmal und vor allem bist du jetzt noch lange nicht bereit dafür. Elinor, ich muss dich das fragen: Hast du irgendwelche Erinnerungen an die Tat?"
Ich musste schwer schlucken. Dann sah ich hoch, direkt in Tamaras große, wache Augen. "Nein", meinte ich. "Nicht wirklich. Nur an die Zeit danach. Ansonsten erinnere ich mich an nichts."
Nichts.
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