Kapitel 29

Angestrengt dachte ich nach, meine Hände verkrampften sich im Schoß meiner blauen Jeans.

Ein sicherer Ort.

Grace hatte mich nach meiner Vorstellung eines sicheren Ortes gefragt.

"Entspanne dich, Elinor", fügte sie hinzu, als sie meine Unruhe bemerkte. "Bitte schildere mir ein Bild, das dir ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Es ist ganz einfach."

Tatsächlich fühlte ich mich leichter, nachdem die Worte in mein Ohr gedrungen waren und ich kniff fest die Augen zusammen. Ich brauchte jedoch ein paar Sekunden, bis ich mich tatsächlich entspannen konnte und schloss meine Augen erneut, dieses Mal weitaus weniger verzweifelt.

Zu Anfang blinzelte ich ein paar Mal, besorgt, wie blöd ich bei dieser Übung wohl aussehen musste.

Es dauerte eine Weile, bis ich schließlich von einem beflügelndem Gefühl der Schwerelosigkeit ergriffen wurde, das mich weit über die Wolken hinaus trug. Ich war nun so ruhig wie schon lange nicht mehr, zumindest für den Augenblick schienen all meine Probleme so fern, so unbedeutend, ganz weit weg.

Ein sicherer Ort.

Ich ließ meine Gedanken durch die Wälder meines Gedächtnisses streifen, durch meine gesamte gewohnte Umgebung, flog hoch, fiel tief, landete sanft. Landete sanft im Sand.

Das war es! Mit einem breiten Lächeln im Gesicht schlug ich die Augen auf und konnte nicht vermeiden, das ein wenig Stolz in meiner Stimme mitschwang, als ich zu Grace sagte: "Ich weiß, was mein sicherer Ort ist. Das Meer, das ist es, die Ostsee."

Meine Psychologin nickte anerkennend. "Sehr gut, Elinor, das ist fantastisch!"

Ich errötete leicht und senkte rasch den Blick.

"Was verbindest du mit dem Strand? Wieso fühlst du dich da sicher?", hakte sie nach und machte sich eine Notitz auf ihrem Klemmbrett, jedoch ohne mich aus den Augen zu lassen.

Ganz ruhig erwiderte ich: "Ich habe früher dort oft Urlaub gemacht. Mit meiner Familie. In einem kleinen Ort, an der Ostsee, direkt am Meer. Wir sind fast jedes Jahr dort hingefahren."

"Warum jetzt nicht mehr?", wollte sie wissen. Echtes Interesse schwang in ihrer Stimme mit, es ließ sich nicht so leicht verbergen.

Ich biss mir auf die Lippe und brauchte einen Moment, bis ich bereit war, um zu antworten. "Ich fürchte, es ist zu klein für uns geworden. Der Ort, meine ich, die Ostsee. Wir fahren nun eher ans Mittelmeer, oder fliegen in eine der größten Metropolen dieser Welt, zumindest war das in den letzten Jahren so."

Merkwürdigerweise keimte in mir das Gefühl auf, mich dafür verteidigen zu müssen, nicht mehr an unseren kleinen Ort am Meer zu fahren, der doch so sicher schien.

"Würdest du gerne zurückkehren?", fragte Grace.

Etwas in dem durchbohrendem Blick ihrer blauen Augen verriet mir, das sie nicht den Ort meinte, sondern von etwas anderem sprach. Als ich sie mit einem müden Lächeln darauf hinwies, dass ich wusste, dass sie nicht das Meer an sich meinte, schmunzelte sie vage und legte ihren Kopf schräg.

"Von was, glaubst du, rede ich dann, wenn ich dich frage, ob du zurück willst, wenn nicht von dem Ort?" Ganz sachlich musterte sie mich über ihre Brille hinweg. Ich gab mir große Mühe, mich nicht unwohl zu fühlen und versuchte, mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bekommen.

"Sie meinen die Zeit, in der wir da waren? Ob ich gerne wieder das Mädchen wäre, das ich damals war?" Auf ihr zögerliches Nicken hin schluckte ich schwer. Die Tränen brannten mir in den Augen, doch ich war fest entschlossen, nicht zu weinen. Dieses eine Mal nicht.

Ich sah sie nicht an, als ich nachdenklich erwiderte: "Sie haben ja Recht, verdammt. Natürlich haben Sie das. Nicht der Ort ist zu klein geworden, mein ganzer Horizont hat sich erweitert, meine Welt ist größer geworden. Aber das hat doch nichts mit meiner - mit meiner - Sie wissen schon - zu tun. Das gehört doch zum Älterwerden dazu, nicht wahr?"

Hilflos krallten sich meine Finger in das rote Samt des Sessels. Ich wartete nicht ab, bis Grace antwortete, sondern fuhr sogleich fort: "Es mag sein, dass ich mich verändert habe, richtig. Seitdem hat sich alles verändert, verdammt! Damals war ich anders, keine Frage, die Welt war anders."

Grace legte ihren Kopf schräg und fragte nachdenklich: "Denkst du wirklich?" Wie immer bewegte sie mich dazu, meine Aussage zu hinterfragen und ich tat einfach, was sie verlangte, ohne mich närrisch dagegen aufzulehnen oder bockig zu widersprechen.

Nach einem Moment des Zögerns gab ich zu: "Nein. Die Welt hat sich nicht verändert, seit Menschgedenken war sie so . . . grausam. Niemand bleibt ewig vor der Realität verschont, nicht wahr? Mein Blick auf die Welt hat sich verändert, meine ganze Sichtweise auf die Dinge war damals harmloser."

Es ist ein bitteres Eingeständnis, das mir einen merkwürdigen Geschmack in den Mund treibt.

"Seit Menschgedenken und schon davor", bestätigte Grace mit einem Nicken.

Kurz schwiegen wir, während sie sich etwas weiteres notierte. Meine Fingerknöchel waren bereits ganz weiß, da ich sie noch immer so tief in die Lehne des Sessels krallte, um mich zu konzentrieren.

"Bitte schließe nun deine Augen, Elinor, und beschreibe mir den Strand, so wie du ihn siehst", forderte sie mich auf.

Ich tat, was sie verlangte und ließ meine Gedanken erneut an den Ort wandern, der meine Kindheit geprägt hatte wie nur wenige Plätze auf der Welt. Dieses Mal musste ich nicht lange nachdenken, die Wörter kamen einfach aus meinem Mund heraus, sprudelten über meine Lippen nach draußen, ohne dass ich meine Beschreibungen zurückhalten konnte.

"Der weiße Sand fühlt sich ganz weich unter meinen Füßen an, ich würde mich am liebsten da drin vergraben. Der Wind fährt durch meine Haare, ständig hängen mir braune Locken im Gesicht, doch es stört mich nicht. Ich atme die Salzluft ein, sie dringt in meine Lungen, und ich atme die verbrauchte Stadtluft wieder aus. Sie reinigt mich, diese Meeresluft. Das Wasser schwappt an Land und über meine Füße, es lässt den Boden unter mir ganz nass und schlammig werden. Mein Blick wandert den ganzen Strand entlang, ich bin ganz alleine, keine weiteren Besucher. Die schlafen alle noch."

An dieser Stelle unterbrach ich mich selber.

Als ich die Augen wieder öffnete, schaute Grace mich an und notiert sich nichts.

"Sehr gut. Elinor, der Strand und das Meer sind dein sicherer Ort, an den du sich in Situationen, in denen du dich unwohl fühlst, zurückziehen kannst. Wenn du einen Flashback hast, versetzt du dich in Gedanken an deinen sicheren Ort", erklärte Grace mir.

Interessiert beugte ich mich vor. "Und das funktioniert?", fragte ich nach und konnte die Skepsis nicht ganz aus meiner Stimme verschwinden lassen.

"Es ist eine gute Methode, die dich vor Flashbacks bewahren kann und oft in einer Traumatherapie angewandt wird. Für Kinder heißt es eher 'die eigene Insel' oder 'der eigene Planet'. Mit diese Phantasiereisen kannst du dir selbst helfen, Elinor!", versicherte sie mir.

"Ich weiß nicht", rutschte es mir heraus. "Ob ich das schaffe, meine ich." Mir kam die Wucht der Gefühle in den Sinn, die mich in den Situationen vor einem Flashback überrollte. Ich bezweifelte stark, dass die Erinnerung an einen Strand mir dabei helfen sollte, die schrecklichen Flashbacks zu verhindern.

"Du schaffst das", ermutigte Grace mich. "Mit meiner Hilfe."

Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn mir. "Ich möchte, dass du mich anrufst, wenn ein Flashback droht. Dann können wir zusammen daran arbeiten, per Telefon, versteht sich."

Mir war klar, dass ich Grace nicht mein ganzes Leben lang anrufen konnte, wenn ich einen Flashback bekam. Das würde nicht funktionieren, ich würde irgendwann selbst damit fertig werden müssen. Allerdings hoffte ich ja auch, dass ich irgendwann keine Flashbacks mehr bekommen würde, und befreut wäre, dass all die Trigger mir nichts mehr anhaben könnten . . .

Bis dahin war es ein langer Weg und ich wusste, dass ich Hilfe brauchen würde, um ihn zu beschreiten. Hilfe von Grace. Deshalb nahm ich ihr großzügiges Angebot dankbar an.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top