Kapitel 27

Auch die nächsten Tage wurde es nicht besser. Ich hatte zwar keine Probleme mehr mit der Kasse und wusste, welcher Lappen wofür geeignet war, doch Ingrid blieb unfreundlich und die  Kunden waren weiterhin anstrengend.

Am Freitagnachmittag hielt eine besonders dicke Frau mit ihren zwei ebenso übergewichtigen Kindern den ganzen Laden auf.

Etwas ungeduldig wartete ich, die Zange schon in der Hand, auf ihre Entscheidung. Sie stand vor der schweren Wahl zwischen einem belegten Brötchen mit Bulette oder mit Hähnchenfilet, aber ihre gierigen, wässrigen Augen huschten immer wieder zu all dem süßen Gebäck.

Menschen haben die schreckliche Neigung, stets das zu wählen, was am schlechtesten für sie ist.

Stellte man sie vor die Wahl zwischen Geld und Liebe, entschieden sie sich für das Geld.

Stellte man sie vor die Wahl zwischen Ruhm und Freundschaft, entschieden sie sich für den Ruhm.

Stellte man sie vor die Wahl zwischen Macht und Freiheit, entschieden sie sich für die Macht.

Und stellte man diese fettleibige Frau vor die Wahl zwischen belegten Brötchen und klebrigem Süßkram, entschied sie sich - wie zu erwarten war - für den Süßkram. Gerade als ich dabei war, der äußerst schwierigen Kundin ihre Torte mit extra viel Sahne einzupacken, hörte ich es.

Meinen geflüsterten Namen.

Erst glaubte ich, mich getäuscht zu haben, doch ein möglicher Irrtum wurde rasch aus dem Weg geräumt, als ich erneut ein aufgeregtes Murmeln vernahm: "Ja, Elinor Wagner! Ja, wenn ich es dir doch sage! Sie wurde angeblich vergewaltigt!"

Ich erstarrte.

Tatsächlich blieb meine Hand mit dem Wechselgeld in der Luft schweben. Wie betäubt hob ich langsam den Blick und entdeckte Frau Kaspar in der Reihe der Wartenden. Die bereits stark gealterte Blondine war die Mutter von Eduard, einem Klassenkameraden.

Eduard Kaspar, der auch von meiner "angeblichen" Vergewaltigung erfahren hatte.

Eduard Kaspar, der all die Lügen der anderen seiner Mutter erzählt hatte.

Zwar war Eduard nicht so ein hohler Vollpfosten wie Arthur oder Noah - tatsächlich konnte man mit ihm sogar ganz vernünftig reden - allerdings war er auch gegenüber seiner Mutter ziemlich gesprächig, das wusste jeder. Victoria hatte oft spaßhaft gemeint, dass die beiden die allerbesten Freundinnen waren, womit sie nicht ganz Unrecht hatte.

Der Schweiß brach mir aus und ich rang krampfhaft nach Atem. Wie sollte ich mich nun am besten verhalten? Sie anfauchen? Mich verteidigen? Weinen? Ihre Worte ignorieren?

"Ach wirklich?", gab ihre Gefährtin in dieser Sekunde abschätzig zurück. "Sie sieht aber gar nicht so aus, findest du nicht?" Eduards Mutter runzelte die Stirn.

Das hat Eduard auch immer gemacht, wenn ihm das Verhalten der anderen Jungen suspekt vorkam oder er sich über den Lehrer ärgerte.

"Wie meinst du das? Wie sieht sie nicht aus?", hakte sie dann neugierig nach.

"Na, wie ein Vergewaltigungsopfer! Schau sie dir doch an, wie sie da steht und verkauft, das ist doch kein Opfer, ich bitte dich!", rief Frau Kaspars Freundin. Sie war laut geworden und hatte mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als mir persönlich lieb war. Nun ruhten viele neugierige und musternde Blicke auf mir.

Zu viele.

Das Wechselgeld fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden. Ohne ein weiteres Wort zog ich mir im Laufen meine Schürze aus und warf sie achtlos beiseite. Erst als ich durch den Mitarbeitereingang auf den Innenhof gelangt war, gestattete ich mir eine Pause.

Erfüllt von hilfloser Verzweiflung vergrub ich den Kopf in den Händen. Eben in der Bäckerei, da vorne an der Theke, als alle Blicke schwer auf mir gelastet hatten und ich gezwungen war, den Schmach zu ertragen, den die Lügen der beiden Frauen unvermeidlich mit sich brachten, hatte ich mich so ohnmächtig gefühlt.

Ich war nicht imstande, den Gerüchten zu trotzen, mir war nicht egal, was andere über mich sagten. Mir war auch nicht egal, dass meine Vergewaltigung jetzt schon in Berlin die Runde machte.

Meine Unterlippe bebte, als ich daran dachte, wer wohl schon alles davon wusste und sich das Recht herausnahm, über Wahrheit und Lüge zu urteilen. Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen, allein die Vorstellung war grauenhaft und aufwühlend.

Ich schluckte schwer und hob den Blick. So peinlich und entblößt war ich mir noch nie vorgekommen. Wie ich jetzt weitermachen sollte, wusste ich auch nicht. Wieder an die Arbeit gehen, als sei nichts gewesen? Wegrennen? Oder einfach hier im Hinterhof sitzen bleiben?

Doch wahrscheinlich, dachte ich verbittert, würde ich sowieso wieder die Flucht ergreifen. Wie immer. Ich war halt kein Raubtier. Noch nie gewesen, würde es nie sein. Ich war ein Fluchttier, ein Hase, der schnell rannte - vor etwas davon rannte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür erneut und Becca gesellte sich zu mir. Wortlos zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die warme Sommerluft. Vergeblich bemühte ich mich, meine Verwunderung zu verbergen und starrte meine Kollegin lediglich perplex an.

"Alles jut?", fragte Becca nach einiger Zeit, das blasse und knochige Gesicht zu mir gewandt.

Ich zuckte nur mit den Schultern, aus Angst, der Kloß in meinem Hals könnte eine Flut aus Tränen auslösen, die meine Stimme weinerlich klingen lassen würde. In dem besorgten Blick ihrer blauen, grün-Gold gesprenkelten Augen erkannte ich, dass sie es wusste. Scheinbar wusste jeder es.

Es.

"Weißte wat?", sagte Becca plötzlich. "Jeh mal nach Hause, Elinor."

"Was?", brach es aus mir hervor.

"Ick werde Injrid irjendwat erzählen. Jeh einfach!", forderte sie mich erneut gnädig auf.

Völlig überrumpelt stolperte ich durch die weiße, zerkratzte Hintertür, die Becca mir aufhielt. Eine Sekunde später stand ich tatsächlich im Freien, auf der belebten Straße, mitten in Berlin. Als ich mich umdrehte, um mich bei Becca zu bedanken, hatte sie die Tür bereits wieder geschlossen.

Vor mir sah ich lediglich das Weiß der Tür. So unschuldig. Doch die Kratzer und Schrammen vermochten diese Unschuld zu trüben. Nach Orientierung suchend sah ich mich um. Der Eingang zum Bäcker musste sich eine Straße weiter befinden.


Achtlos schob ich mein Rad in den Keller. Mit Tränen in den Augen hastete ich die Treppe nach oben in den dritten Stock.

Wie war ich überhaupt hierher gekommen? An die Fahrt vom Bäcker nach Hause konnte ich mich kaum erinnern, alles war wie in Trance an mir vorbei gezogen. Erleichtert stellte ich fest, dass Valerie noch in der Uni war.

Ich war allein.

Allein in unserer Altbauwohnung. Allein mit meinen Gedanken und Gefühlen.

Allein mit der Schmach, der unerträglichen Schande, dass die Leute - fremde Leute, wohlgemerkt - über mich redeten. Sie zerrissen sich ihre Mäuler, ihre dummen, unfassbar dummen Mäuler. Geschwätzig wie sie waren wussten sie nichts besseres anzufangen mit ihrer Zeit, als öffentlich zu spekulieren, ob ich nun vergewaltigt worden war oder nicht. Ihre Zeit war begrenzt, kostbarer als Geld, und sie verschwendeten sie mit dem Verbreiten von Lügen und Gerüchten über mich, ein Mädchen, das sie kaum kannten.

Sie waren wirklich dumm. Unfassbar dumm.

Dummheit und Dreistigkeit waren schon immer eine schlechte, ungesunde Mischung gewesen.

Ich hingegen wusste, wie lächerlich sie sich aufführten und - verdammt - ich wünschte, es würde mir nichts ausmachen. Tat es aber trotzdem.

Ich ließ meine Schlüssel und meine Tasche gleich neben der Tür fallen und streifte auf dem Weg zum Bad rasch meine Klamotten ab. Vor der Dusche taumelte ich in meiner Eile, doch ich fing mir rasch wieder.

Da war etwas Kaltes in meinem Herze, das eisige Wissen, dass mir niemand so richtig glauben wollte.

Scheiße.

Sie hatten keine Ahnung, verdammt! Wenn sie gesehen hätten, wie ich dort wimmernd auf dem Waldboden gelegen hatte, würden sie die Sache sicher anders betrachten.

Ich stellte das Wasser so heiß, dass es mir fast die Haut wegbrannte und mich zum Schwitzen brachte. Gegen das kalte Gefühl konnte es allerdings nichts ausrichten.

Die zweite Haut bildete sich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Meine zweite, verfluchte Haut. Heraufbeschworen durch die schmutzige Schande, das Gesprächsthema von Berlins Bäckern zu sein. Egal wie heiß ich duschte, auch als er Hahn nicht weiter nach links zu drehen war und meine Haut ganz rot von der Hitze war, machte ich weiter.

Der Schmutz war immer noch da.

Hysterisch wimmernd kippte ich beinahe aus der Dusche, als ich in die Küche torkelte. Ich hinterließ viel Wasser auf dem Boden, da ich mich nicht abgetrocknet hatte, doch es kümmerte mich nicht. Hektisch durchwühlte ich auf allen vieren kniend Valeries Haushaltsschränke, während die Panik mich weiter beherrschte.

Lange suchen musste ich nicht, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Mit zitternden Fingern drehte ich den Rohrreiniger auf und spritzte ihn auf meine feuchte Haut. Chemie war zwar nie mein Lieblingsfach gewesen, doch die Formeln hatten schon ihren Reiz für mich gehabt, im Unterricht aufgepasst hatte ich sowieso.

Die mit unendlichen vielen Warnungen versehenen Schilderungen meiner Lehrerin bezüglich des Umgangs mit dem ätzenden Rohrreiniger waren mir ziemlich gut in Erinnerung geblieben, ebenso wie die chemische Erklärung für diesen Vorgang: Rohrreiniger besteht aus Natriumhydroxid, in Wasser gelöst entsteht eine stark ätzende Natronlauge. Eine notwendige Eigenschaft für Rohrreiniger, da so Haarknäuel oder Fettreste im Abflussrohr beseitigt werden können.

Auf der Haut und im Auge war es jedoch ätzend, sehr ätzend.

Als die Flüssigkeit mit meinen nackten, noch immer nassen Armen in Kontakt kam, schrie ich laut auf. Der Schmerz zwang mich erneut in die Knie und trotz des immer stärker werdenden Brennens verschwand das schmutzige Gefühl auf meinen Armen.

Mit fest zusammen gepressten Lippen kippte ich - entschlossen, meine zweite Haut für immer loszuwerden - den Rohrreiniger auch auf meine Beine. Das animalische Kreischen, das nun aus meinem Mund kam, brachte mich erst zur Besinnung. Ich hörte sofort auf damit, die halbleere Flasche noch in der bebenden Hand.

Halbleer, halbvoll.

Das schon wieder.

Meine zweite, schmutzige Haut war verschwunden, dafür bildeten sich jetzt langsam große Blasen an meinen Armen und Beinen. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht wie ein Baby anfangen müssen zu weinen.

In diesem Moment hörte ich, wie wenige Meter von mir entfernt ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und vergeblich versucht wurde, die bereits offene Tür zu öffnen, gefolgt von einem verwirrten Murmeln.

Eine Sekunde später stand Valerie vor mir, gekleidet in ein merkwürdiges lilafarbenes Kostüm, das hinten bis zum Boden reichte, vorne jedoch nur kurze, bauschige Rüschen hatte. Oberhalb ihrer Taille war es mit schwarzer Spitze versehen, die sich in einem aufwendigem Muster über Valeries dünnen Körper spannte. Meine Schwester war stark und unnatürlich geschminkt, der neonpinke Lidschatten füllte ihre Augenlider bis zum Ansatz der Augenbrauen aus, welche schwarz und sehr dünn gezogen waren. Ihr ganzes Gesicht war weiß gepudert, so viel Make Up trug sie sonst nie. Ein dunkles Violett ließ ihre Lippen voller aussehen, ihr Wimpern waren - so vermutete ich - ebenfalls unecht.

Perplex starrten wir einander an, ich mit Blasen an den nackten Armen und Beinen auf unserem Küchenboden liegend, sie in einem faschingsartigem Kostüm und übertrieben viel Schminke in unserer Eingangstür stehend.

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