Kapitel 26
Ich hatte doch gleich gewusst, dass es eine bescheuerte Idee war, mit dem Rad zu fahren.
Es regnete in Strömen, dicke Tropfen fielen auf meine dunkelblaue Regenjacke. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck trat ich kräftiger in die Pedale und versuchte, einen klaren Blick zu behalten.
Trotz des schlechten Wetters waren auch zu dieser frühen Tageszeit viele Radfahrer in Berlin unterwegs. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit raste ein Mann in professioneller Sportkleidung und mit Helm an mir vorbei. "Pass doch auf, Mädchen!", rief er verärgert und machte eine wüste Handbewegung.
Meine halbherzig gemurmelte Entschuldigung hörte er schon gar nicht mehr.
Erschöpft schob ich mein Rad in den Fahrradständer vor dem Bäcker und wischte mir mit dem Handrücken das Regenwasser von der Stirn. Ich bemühte mich, nicht allzu lustlos auszusehen.
Der Bäcker würde in wenigen Minuten den hungrigen Berlinern seine Pforten öffnen, deshalb war ich schon etwas früher da.
Ich nutzte den etwas abgelegenen Mitarbeitereingang und klingelte wie verabredet. Mir war unbehaglich zumute und ich verspürte eine leichte Übelkeit, als ich vor der weißen Tür mit den vielen Kratzern und Schrammen wartete.
Eine junge Frau mit platinblondem Haar und einem Piercing in der Nase öffnete mir. Sie schenkte mir ein freches Grinsen und kaute weiter ihren Kaugummi. "Hey, man", begrüßte sie mich schmatzend. Sie war ziemlich blass und hatte einen Bob, ansonsten war sie unheimlich dünn und relativ klein. Ihre blauen Augen waren mit grünen und goldenen Sprenkeln übersehen, ein belustigtes Funkeln lag darin.
"Du bist Elinor Wajner, net wahr? Man, Injrid hat mir schon erzählt, dat du hier als Aushilfe arbeiten willst. Icke heiße Rebecca - aber man - du kannst mich jerne Becca nennen. Dat tun hier alle!", meinte sie und zwinkerte.
Mit einem unsicheren Lächeln folgte ich ihr in den Lagerraum.
"Hier kannste deine Tasche abstellen", sagte Becca und deutete in eine Ecke. "Okay", murmelte ich und bemühte mich, nicht allzu verschüchtert auszusehen.
"Injrid kommt heute erst später", informierte sie mich. Im Anschluss zeigte sie mir, wie die Kasse funktionierte, wo ich welches Gebäck fand, was ich beim Bedienen der Kaffemaschine beachten musste, wie ich die Bestände prüfte - und natürlich wo ich selber Pause machen konnte. "Wenn du etwas essen oder trinken willst", sagte sie mit wichtigtuerischer Miene und machte eine besonders große Kaugummiblase, "dann musst du dat da vor der Besenkammer machen, in der Ecke da drüben."
Die Kaugummiblase zerplatzte.
Verwundert starrte ich sie an. War das ihr Ernst?
"Da filmt die Kamera dich net", fügte sie mit einem Schulterzucken hinzu und deutete unauffällig auf das kleine schwarze Teil an der Decke. "Sonst sieht der Chef dich doch! Ist echt okay mit der Ecke - dat machen alle hier so!"
Besser, ich fragte gar nicht nach.
Während die ersten Kunden hereinkamen, dachte ich an den Morgen zurück, als Valerie und ich in einem Bäcker gefrühstückt hatten. Unsere Diskussion über einen möglichen Umzug von mir zu ihr war mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Lächelnd erfreute ich mich an dem Gedanken, dass das nun die reale Wirklichkeit geworden war.
Das Lächeln verging mir jedoch recht schnell, als sich der Laden immer mehr füllte und sich eine Schlange mit hungrigen, ungeduldigen Wartenden gebildet hatte. Hektisch vertauschte ich Cappuccino mit Latte Macchiato, vergaß die Bestellung eines Kunden, ließ ein ganzes Tablett mit Brötchen fallen, gab falsch Wechselgeld raus und wurde Ingrid angefaucht, weil ich den falschen Lappen für den Boden benutzt hatte.
Am Nachmittag war ich den Tränen nahe.
Meine zitternden Hände umklammerten fest den warmen Pappbecher mit grünem Tee, den ich vor der Besenkammer trank. Ich war die mieseste Verkäuferin überhaupt. Ingrid, die gegen Mittag mit angesäuerter Miene in die Bäckerei hereingeschneit war, kam nun nicht minder gut gelaunt auf mich zu.
Sie erinnerte mich an einen Maulwurf, mit ihren eng zusammenstehenden Augen und ihrer hässlichen Nickelbrille. Ihr Mund bildete eine gerade Linie und ihr kurzes schwarzes Haar lag in einem grässlichen Schnitt auf ihrem Kopf.
"Elinor", tadelte sie mich in einem warnendem Ton, sodass ich mich sogleich versteifte. "Du sollst nicht immer Pause machen!" Sie gab mir einen leichten Klaps auf den Hintern, als wäre ich ein ungezogenes Kleinkind. Unwillkürlich rückte ich von ihr ab.
Gerne hätte ich gesagt: "Lassen Sie das!"
Gerne hätte ich gesagt: "Ich will nicht, dass Sie mich so anfassen!"
Doch mir war so unbehaglich zumute, dass ich keinen Ton herausbrachte. "Becca hat gesagt, ich darf Pause machen", presste ich schließlich hervor und musste mich zusammenreißen um nicht bitterlich anfangen zu weinen.
"Na gut", sagte Ingrid daraufhin widerwillig und rang sich ein verzerrtes, grimassenartiges Lächeln ab. "Aber nachher wischt du bitte noch die Tische, ja?"
Ich nickte ruckartig. "Und wehe wenn nicht!", setzte Ingrid noch nach. Genervt trank ich meinen Tee unter ihrem kritischen Blick aus, als Becca glücklicherweise in diesem Moment von der Theke rief: "Elinor? Kommste mal bitte? Da ist jemand für dich."
Mit einem halbwegs entschuldigendem Blick eilte ich davon und ließ Ingrid alleine vor der Besenkammer stehen. Ein breites Grinsen lag auf meinen Lippen, als ich Yoko entdeckte.
Entgegen Victorias Vermutung war es der kleinen Asiaten doch möglich, über die Theke zu gucken. "Elinor!", quietschte sie vergnügt und winkte wild, was ihr einen spöttischen Blick von der kaugummikauenden Becca einbrachte.
"Yoko?", fragte ich freudig überrascht. "Was machst du denn hier?"
"Na, dich besuchen, ist doch klar!", meinte sie und lehnte sich lässig an einen der hohen Stühle. "Und etwas essen, versteht sich. So, was habt ihr denn hier im Angebot?", erkundigte sie sich und fuhr sich gierig über die Lippen.
Schmunzelnd zählte ich ihr die verschiedenen Kuchensorten auf und nannte jedes einzelne süße Gebäck, da ich genau wusste, was Yoko mochte. "Ist nicht halb so gut wie deiner", flüsterte ich verschmitzt grinsend, als ich ihr schließlich ein extra großes Stück Käsekuchen reichte.
Yoko bemühte sich vergeblich, nicht allzu geschmeichelt auszusehen, woran sie jedoch kläglich scheiterte.
"Margot und Vicky wollen dich auch noch besuchen", teilte Yoko mit schmatzend mit. Obwohl sie das Backen und Kochen über alles liebte, ließen ihre Essmanieren zu wünschen übrig, was Victoria bei jeder Gelegenheit naserümpfend bemängelte.
Mir war das egal. Ich war heilfroh über etwas Gesellschaft.
"Wie lange arbeitest du hier denn noch?", wollte Yoko wissen und fuhr sich mit dem Handrücken über den von Krümeln verschmierten Mund. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. "Bis Valerie und Mama genug haben", antwortete ich schließlich mit einem unüberhörbaren Grummeln in der Stimme.
Yoko runzelte die Stirn. "Sparst du auf irgendetwas bestimmtes?", fragte sie dann neugierig. "Nö, denke nicht", gab ich zurück und biss mir auf die Lippe.
Komischerweise hatte ich mir tatsächlich noch keine Gedanken über meine Bezahlung gemacht. Ich meine, klar, ich wusste, dass ich 8,50 Euro in der Stunde bekam, aber ich brauchte das Geld nicht. Mama und Papa finanzierten mir meine Wohnung mit Valerie und alle weiteren anfallenden Kosten. Zukunftspläne hatte ich keine.
"Hast du mal überlegt, auch ein Jahr Pause zu machen? Mit uns?", ergänzte Yoko vorsichtig. Sie hatte ihr Stück Käsekuchen sinken lassen und wartete geduldig meine Antwort ab.
"Yoko", sagte ich gequält und vermied es sorgfältig, sie anzusehen. "Ich weiß nicht. Ich weiß momentan echt gar nichts. Tut mir Leid . . . Für mich ist es noch zu früh, um über irgendetwas nachzudenken, was weiter weg ist als ein paar Tage. Und dann ist da ja noch meine Therapie, ich kann nicht einfach weg, egal wie sehr ich es mir wünsche . . ."
Betroffen wartete ich ihre Antwort ab. Die sonst so wilde, unzähmbare Yoko war plötzlich ganz sanft, als sie beruhigend sprach: "Ist schon okay, Elinor. Ich bin dir bestimmt nicht böse und die anderen auch nicht. Wir wollen dich zu nichts zwingen, sondern dir nur eine Möglichkeit geben, eine Chance, hier rauszukommen, wenn du das willst."
"Danke", murmelte ich gerührt.
Ein paar Sekunden herrschte verlegenes Schweigen. Ich war es nicht gewohnt, so ernst mit Yoko zu reden. Das tat ich normalerweise immer mit nur Margot oder Nikki.
"Wie geht es den anderen?", fragte ich dann, nur um irgendetwas zu sagen.
"Oh", machte Yoko überrascht und ging dankbar auf das Thema ein. "Der Grünzeugschredder ist auf irgendeiner Demo - du bist übrigens nur meine Ausrede, um nicht mitgehen zu müssen - und Miss-ich-hab-jede-Woche-einen-neuen-Lover trifft sich mit ihrem Wilhelm. Oder hieß er Helmut?"
Vage grinsend fing ich an, Yokos benutzten Teller abzuwaschen. "Schon klar. Irgendetwas neues von Nikki?"
Es war eine dieser Fragen, die man nicht stellen sollte, weil man wusste, dass die Antwort einen unglücklich machen würde.
Betrübt schüttelte Yoko den Kopf. "Nee", meinte sie. "Aber wenn wir uns mit ihr treffen, sagen wir dir auf jeden Fall Bescheid. Versprochen!", versicherte sie mir tröstend.
In dieser Sekunde betraten gleich mehrere Kunden den Laden und ein drohender Blick von der missgelaunten Ingrid reichte, damit ich mich schleunigst von Yoko verabschiedete. Schweren Herzens sah ich ihr hinterher, wie sie mit kleinen, flinken Schritten den Bäcker verließ.
Mit ihr verschwand auch das unbeschwerte Glücksgefühl aus meinem Herzen, das sich dort für kurze Zeit eingenistet hatte. Der flüchtige Gedanke, dass die Arbeit hier doch gar nicht so schlimm war, kam mir nun ganz lächerlich vor und die Hoffnung auf Spaß beim Verkaufen verpuffte rasch.
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