Kapitel 24
Die ganze Woche verbrachte ich lesend auf der Couch. Nachdem ich die vier Hauptromane verschlungen hatte, musste ich mich am Donnerstag schließlich nach draußen wagen.
Mit meinem großen Stoffbeutel, der durch schwarz-weiße Skizzen gezeichnet waren, machte ich mich auf den Weg. Die wenigen Minuten bis zur Haltestelle lief ich zu Fuß, dann fuhr ich mit der Straßenbahn in Richtung Prenzlauer Berg, wo sich die Bibliothek meiner Wahl befand.
Während ich mit meinen bebenden Fingerspitzen über die Buchrücken strich, dachte ich erfüllt von Liebe und Zuneigung an Nikki. Ich konnte verstehen, warum sie sich so wohl in Bibliotheken fühlte und Stunden zwischen all den Büchern verbringen konnte.
Gerade in diesem Moment vermisste ich sie so schmerzlich, dass ich beinahe hören konnte, wie etwas in mir zerbrach. Es war mein kleines, verletzliches Herz, das aus meiner Brust sprang, beflügelt von den Qualen, und mit einem lauten Scheppern auf dem dunkelbraunen Laminatboden der Bibliothek aufschlug.
Sie fehlte mir so schrecklich, ihre Abwesenheit hatte eine Lücke hinterlassen, die nicht so leicht zu füllen war.
Wie gerne wäre ich jetzt hier mit ihr gewesen.
Was hätte ich nicht dafür gegeben, in dieser Sekunde mit ihr über Bücher zu reden.
Mit einem breiten Lächeln hätte ich ihre sarkastischen Kommentare ertragen und nichts gesagt, außer dass ich sie lieb habe.
Ohne es zu wollen kam mir der Albtraum von heute Nacht wieder in den Sinn. Der Albtraum, aus dem ich hysterisch schreiend aufgewacht war. Valerie hatte mir die schweißgebadete Stirn mit einem kühlen, feuchten Lappen abtupfen müssen, damit ich wieder ansprechbar wurde.
Ich hatte geträumt, dass ich in einer Sauna war. Nackt. Nicht wie eigentlich mit einem weißen Handtuch umwickelt, sondern komplett entblößt. Es war heiß gewesen, unerträglich heiß. Die Hitze hatte mich beinahe um den Verstand gebracht, nur mit Müh und Not hatte ich bei Bewusstsein bleiben können.
Verdammt, es hatte sich so echt angefühlt. Alles. Alles war unbeschreiblich echt und real und einfach beängstigend gewesen.
Dann war Nikki vor der Glasscheibe aufgetaucht. Ausdruckslos, ohne jede Emotion hatte sie mir zugesehen, wie ich in der Saune auf den Holzbänken vor mich hin gekocht hatte.
Ich hatte sie auf Knien angefleht, mir zu helfen. Ich hatte gebettelt und geschrien und gewimmert, während die Hitze meine Haut in Flammen gesetzt hatte. Nikki hatte sich nicht gerührt und als ich sie mit Tränen in den Augen nach dem Grund gefragt hatte, war sie einfach gegangen, ohne mir eine Antwort zu geben. Wie im echten Leben.
Anschließend waren auch wieder meine Klassenkameraden vor dem Fenster aufgetaucht und hatten mit ihren Fingern auf mich gezeigt. Laut lachend haben sie ihre beschämenden Kommentare über meinen nackten Körper abgegeben, während die hohen Temperaturen mich langsam hatten verdampfen lassen.
Auch in der kühlen Bibliothek verspürte ich bei der Erinnerung an meine rauchenden Arme ein unangenehmes Kribbeln am ganzen Körper.
Als wäre ich wieder da.
Wieder da?
Es war nie geschehen!
Und doch hatte ich am Morgen danach zwanzig Minuten und unwahrscheinlich viele Liter kaltes Wasser gebraucht, um die anhängliche Erinnerung an den lebhaften Traum abzuwaschen. Der Scham klebte noch immer an mir.
Die Arme fest um den Körper geschlungen, blieb ich schließlich mit zusammen gepressten Zähnen vor dem Regal mit den Krimis stehen und suchte mit flackerndem Blick nach dem Buchstaben 'D'.
Schließlich wurde ich fündig und packte mir die Arme mit allen Zusatzbänden von Arthur Canon Doyle voll, die vorhanden waren. Das sollte meinen Bedarf an Sherlock Holmes fürs Erste decken.
Auch nachdem ich die Romane unter dem belustigten Blick der plumpen Bibliothekarin ausgeliehen und in meinem Stoffbeutel verstaut hatte, blieb ich noch ein paar Minuten in einem der Sessel sitzen.
Vielleicht könnte ich einfach hier sitzen bleiben und darauf warten, dass Nikki eines Tages zufällig vorbei kam. Es war wie früher, als ich verzweifelt darauf gehofft hatte, wie durch Schicksal am Nachmittag in der Stadt Noah zu begegnen oder morgens extra länger gewartet hatte, nur um seinen Bus abzupassen.
Ziemlich erbärmlich, vor allem angesichts der Tatsache, was für ein Arsch er war. Für den Arsch waren auch die ganzen Bücher, in denen das brave Good Girl sich in den verwegenen Bad Boy verliebte und als Einzige sein steinhartes Herz erweichen konnte und die beiden ihr großes Glück fanden.
Das waren doch nur alberne, verzweifelte Erfindungen von Frauen, die ihr Herz einst an einen der vielen Idioten auf dieser Welt verloren hatten und dienten als Hoffnung für all jene naive Mädchenherzen da draußen, die sich in den attraktiven, aber abweisenden Jungen aus ihrer Klasse verguckt hatten.
Doch das entsprach nie der Wahrheit.
Bad Boys verliebten sich nämlich nicht in Strickjacken tragende, ungeschminkte Streberinnen.
Bad Boys standen auf barbusige, hübsch gestylte Julia Kressenows.
Tja, tut mir ja echt wahnsinnig Leid, euch diese schöne Illusion nehmen zu müssen. Ich hatte dieser Wunschvorstellung selber über Jahre nachgehangen, nur um dann die bittere Enttäuschung erleben zu müssen.
Nikki hätte mir da sicher zugestimmt.
Schließlich gab ich die dämliche Hoffnung auf eine zufällige Begegnung mit ihr auf und fuhr nach Hause. Mit einem Tee verschanzte ich mich hinter den Geschichten über Sherlock Holmes und Dr. Watson.
Das ging auch die nächsten Tage so.
Unwillkürlich stellte ich mir jedes Mal aufs Neue die Frage, wer wohl mein Watson war. Jeder hatte einen treuen, lieben Watson an seiner Seite, dessen war ich überzeugt.
Wer war mein Watson? Wo war mein Watson?
Ich brauchte ihn jetzt mehr denn je, auch wenn ich ihn offenbar noch nicht kannte. Nikki war es jedenfalls nicht, so viel stand fest. Verstimmt dachte ich daran, dass ich bis vor wenigen Wochen noch in den Glauben gewesen war, dass mich nichts je von diesem Mädchen trennen würde.
Wie fasch ich doch gelegen hatte.
Am Samstagabend platzte Valerie schließlich der Kragen. "Wie lange soll das noch so weitergehen, Ellie?", rief sie verständnislos und deutete mit einer ausschweifenden Geste auf die leeren Pizzakartons, unabgewaschenen Tassen, schmutzigen Tellern und ausgelesenen Sherlock-Holmes-Büchern.
Zugegeben, der Turm an dreckigem Geschirr war in den letzten Tagen bedenklich gewachsen und ja, vielleicht sah es ein bisschen unordentlich aus.
"Ein bisschen?", quietschte Vali empört wie Omas ungeöltes Gartentor, als ich meine Bedenken äußerte. Ich fand ihre Reaktion viel zu übertrieben. Sie war doch bloß neidisch, weil sie noch keine Semesterferien hatte, ganz im Gegensatz zu mir musste sie täglich zur Uni und büffelte bis spät abends noch den Lernstoff. Auch wenn häufig leise Musik aus ihrem Zimmer erklang, aber einige Menschen brauchten das ja, um sich konzentrieren zu können.
Gerade war sie vom Lernen mit einer Studienfreundin zurückgekehrt, sie bildeten gemeinsam eine Lerngruppe. Persönlich hatte ich diese Freundin noch nie getroffen, ich kannte allgemein kaum jemanden von Valeries Leuten, was ich etwas schade fand.
Sie kam doch schließlich auch prima mit Margot aus!
"So geht das nicht weiter", beschloss Valerie jetzt entschieden und knülle angeekelt einen Haufen benutzter Servietten zusammen. "Du kannst nicht die ganze Zeit nur hier zu Hause hocken und nichts tun!"
"Nicht nichts", widersprach ich trotzig und seufzte.
Vali hatte ja Recht. Verdammt, sie hatte immer Recht.
"Du brauchst einen Job", erklärte meine Schwester mir sachte, ohne meinen Einwand zu betrachten. Gequält schaute ich hoch. "Muss das sein?", jammerte ich stöhnend. "Können wir uns nicht darauf einigen, dass ich einfach draußen im Park lese?"
Nach ihrem anfänglichen Entsetzen über meine Untätigkeit hatte sie sich rasch wieder gefasst. Das breite Lächeln war auf ihr müdes Gesicht zurückgekehrt. "Nein, Ellie, glaub mir - ein Job ist genau das Richtige für dich! Ich war in deinem Alter auch arbeiten, das ist echt kein Problem. Mama hat doch diese eine Freundin, die im Bäcker arbeitet. Die kann dir sicher einen Platz beschaffen! Es soll doch nur vorübergehend sein, damit du eine Beschäftigung hast und etwas Geld sparen kannst", sagte sie aufmunternd und griff sogleich zum Telefon. Wahrscheinlich, um mit unserer Mutter zu sprechen. Großartig.
"Ingrid", bestätigte ich bitter. Bei dem Gedanken an Mamas mürrische, launische Freundin verzog sich mein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse.
"So schlimm ist sie nicht", meinte Valerie nur mit einem tadelnden Ton in der Stimme.
Ich grummelte etwas Unverständliches als Antwort. Aber ich war schließlich gezwungen einzusehen, dass es stimmte: Ich konnte nicht bis zu einem unbestimmten Zeitpunkt hin auf der Couch rumgammeln und mich vor allem und jedem verstecken.
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