Kapitel 22
Als ich mein Fahrrad im Keller unseres Gebäudes abgestellt hatte, nahm ich mit großen Schritten eine Treppenstufe nach der anderen, bis ich im 3. Stock angelangt war. Ein zufriedenes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich die Wohnungstür aufschloss und eintrat.
Ich freute mich darauf, Valerie von meiner ersten Therapiestunde bei Grace zu erzählen, doch meine Hoffnungen wurden rasch zerschlagen: Wir hatten Besuch.
Bekannte Stimmen erklangen aus Richtung der Küche. Unfehlbar hörte ich Margots weichen Klang heraus. Vorsichtig wagte ich mich um die Ecke.
„Elinor!" quietschte meine beste Freundin, ein halbgefülltes Sektglas in ihrer zarten Hand.
Halbleer. Halbvoll.
Ganz überrumpelt ließ ich zu, dass sie mich stürmisch umarmte. Dabei versteifte sich alles in mir, sodass ich keinen einzigen Muskel mehr rühren konnte. Erst als sie ihren Klammergriff von mir gelöst und etwas Abstand genommen hatte, konnte ich wieder aufatmen.
Margot sah mich mit ihren blauen Engelsaugen an.
Hinter ihr tauchte nun auch eine strahlende Yoko auf, die mir taktvollerweise nur rasch auf die Schulter klopfte. Lag wahrscheinlich aber auch daran, dass sie die Arme vollgepackt mit Kuchen und Sekt und somit keine Hand für mich frei hatte.
„Was macht ihr denn hier?", stotterte ich verwirrt und bemühte mich krampfhaft, meine fröhliche Fassade aufrecht zu erhalten.
Margots Lächeln verblasste ein wenig. „Naja", machte sie. Etwas Unsicheres schwang in ihrem Tonfall mit. „Wir dachten, wir kommen dich einfach mal in deiner neuen Wohnung besuchen. Valerie hat uns erzählt, dass du heute zum ersten Mal bei deiner Psychologin warst und hat uns eingeladen."
„Wo ist sie? Valerie? Wo ist sie?", verlangte ich zu wissen. Ich war sauer auf meine Schwester. Konnte sie sich nicht denken, dass ich jetzt lieber meine Ruhe haben wollte? Wieso hatte sie ohne meine Zustimmung und ohne mich vorzuwarnen meine Freundinnen eingeladen?
Ich weiß. Ich sollte so nicht denken. Margot und Yoko waren für mich da, weil sie mir helfen wollten. Doch das war es, was ich empfand: Unbehagen.
Es war mir unangenehm, dass die beiden hier in meiner Wohnung standen und von mir erwarteten, dass ich mich mit ihnen unterhielt. Am liebsten hätte ich sie aufgefordert, zu gehen. Ich wünschte mir sogar sehnlichst, dass sie das tun würden.
Aber ich brachte es nicht über das Herz. Tatsächlich brachte ich keinen Ton mehr über die Lippen.
Es war ein sehr schweigsamer, peinlicher Moment.
Yoko erbarmte sich schließlich und meinte mit einem aufgesetzten Lächeln: „So, Elinor. Am besten, wir setzen uns erst Mal, nicht? Ich habe Kuchen!" Unnötigerweise deutete sie auf das Gebäck in ihrem Arm. Dankbar für ein Gesprächsthema sprang ich darauf an.
Wir nahmen auf dem grünen Sofa im Wohnzimmer Platz. Margot reichte mir schüchtern lächelnd ein Sektglas.
„Wo sind denn Victoria und Nikki?", fragte ich plötzlich und sah mich suchend um als erwartete ich, dass meine zwei anderen Freundinnen hinter Valeries Bücherregal oder den Topfpflanzen hervor gesprungen kamen.
Margot ließ ihren peinlich berührten Blick auf den Boden ihres Glases wandern und schwenkte den darin enthaltenen Sekt leicht hin und her.
Es war Yoko, die mir etwas verlegen eine Antwort gab: „Also, Vicky hat einen dringenden Hautarzttermin, der sich leider nicht hat verschiebeben lassen."
Stimmt. Vicky und ihre nicht vorhandenen Pickel, die ihr trotz ihrer fehlenden Existenz das Leben zur Hölle machten. Mein Beileid.
„Sie lässt aber lieb grüßen. Und Nikki . . ." Yoko wechselte einen zögernden Blick mit Margot. Mir wurde das Herz schwer und ich umklammerte mein dünnes Glas so fest, dass es in meiner Hand zerbrach.
Es war kümmerte mich nicht, dass der ganze Sekt mir die Hand herunterlief und auf Valeries guten Teppich tropfte.
Es kümmerte mich nicht, dass sich die spitzen Glassplitter in meine Haut bohrten und das Blut sich mit dem Alkohol vermischte.
Die Tränen liefen mir die Wange herunter, am liebsten hätte ich mich unter der Bettdecke verkrochen. Während Yoko meine Wunde im Bad verarztete, reinigte Margot das Wohnzimmer.
„Was ist passiert?", schniefte ich und fuhr mir mit meiner unverletzten Hand über mein verweintes Gesicht. „Hatte sie einen Unfall?" Vor meinem inneren Auge nahmen bereits die schlimmsten und grausamsten Szenarien Gestalt an: Nikkis blutüberströmtes Gesicht, das wehklagend nach Hilfe schrie, Nikki in einem brennenden Auto, ich an Nikkis Grab . . .
Doch Yoko nahm mir schnell meine Angst: „Was? Nein! Nein, Elinor, das ist es nicht. Es geht ihr gut, wirklich, Margot und ich waren bei ihr, mach dir keine Sorgen!", wehrte sie rasch ab.
„Was hat sie dann? Warum spricht sie mit euch, aber nicht mit mir?", wollte ich trotzig wissen. Ich konnte nicht vermeiden, dass ein gewisses Entsetzen in meiner Stimme mitschwang.
Die Tatsache, dass Nikki mich absichtlich mied, war sehr viel schmerzhafter als jede Glasscherbe es je sein könnte und ging mir tief unter die Haut. Es tat weh, so verdammt weh.
Ich verstand es einfach nicht. Für mich ergab die Vorstellung, dass Nikki wegen meiner Vergewaltigung nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, einfach keinen Sinn. Das war lächerlich. Nicht Nikki. Niemals Nikki.
„Ich weiß es doch auch nicht, Elinor", erwiderte Yoko und klang sehr müde und traurig dabei. „Sie war nicht besonders gesprächig."
„Ist sie das denn je? Gesprächig, meine ich?", gab ich nicht minder erschöpft zurück. Trotz allem erschien ein schwaches Grinsen auf Yokos Gesicht. „Nein", lachte sie leise. „Nein, eigentlich nicht."
Als wir zurück ins Wohnzimmer gingen, sah Margot mich mitfühlend an. „Tut mir echt leid, Ellie. Aber falls es dich beruhigt – uns hat sie auch nicht erzählen wollen, was ihr Problem ist."
Ich schluckte schwer und blinzelte ein paar Mal, ehe ich mich zu einer Antwort durchringen konnte: „Schon gut."
Doch das entsprach nicht mal ansatzweise der Wahrheit. Gar nichts war gut! Innerlich war ich so aufgewühlt wie nur selten. Ich bemühte mich vergeblich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, allerdings klappte es nicht. Schon gar nicht vor Margot. Sie kannte mich einfach zu gut.
In ihren himmelblauen Augen erkannte ich, wie weh es ihr tat, mich so zu sehen.
An ihrer in Falten gelegten Stirn erkannte ich, dass sie nach einer Lösung suchte.
Aber wie sollten wir eine Lösung finden, wenn wir noch nicht einmal Nikkis Problem kannten? Wie sollten wir ihr helfen, wenn sie nicht mit uns sprach? Wie sollte ich sie verstehen, wenn sie doch so strikt jeden Kontakt mit mir scheute?
Scheiße.
Wie war das noch? Ich liebte Rätsel? Nikki war für mich wie ein Sudoku mit einem Kästchen zu viel, wo immer eine Zahl nicht passte, egal wie ich es auch drehte und wendete.
„Wenn du willst, organisiere ich ein Treffen", schlug Margot auf einmal zögernd vor. Erstaunt sah ich hoch, das Gesicht ganz gerötet vom Weinen. „Wie genau meinst du das?", fragte ich argwöhnisch nach.
„Ich bekomme Nikki bestimmt dazu überredet, sich mit uns zu treffen, das wird kein Problem sein. Sie wird kommen, wenn ich ihr nur versichere, dass-", fuhr Margot selbstsicher fort, nur um dann verlegen abzubrechen.
„Dass ich nicht dabei sein werde. Schon klar." Ich beendete den Satz, ohne mit der Wimper zu zucken. „Richtig", gab Margot zu, die sonst so blassen Wangen noch immer ganz rot vor Scham.
„Ich weiß nicht!", sagte ich skeptisch, das Gesicht von Zweifeln erfüllt. „Besser, ich versuche sie selber noch mal zu erreichen. Vielleicht lässt sie ja mit sich reden", ergänzte ich mit falscher Zuversicht.
„Okay", seufzte Margot und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich sage dir trotzdem Bescheid, wenn wir uns das nächste Mal treffen. Du kannst ja dann selber entscheiden, ob du dazu kommst, ohne Nikkis Wissen, versteht ich!"
„Einverstanden", murmelte ich. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte mich und ich schenkte Margot ein verzagtes Lächeln.
Während Yoko für uns per Telefon Pizza bestellte, fragte Margot leise flüsternd: „Bekommst du eigentlich noch diese schlimmen Nachrichten?"
„Tu doch nicht so scheinheilig!", grinste ich schwach. „Ein gewisser Jemand hat meiner lieben Schwester davon erzählt und die hat dann mein Handy einkassiert. Es liegt jetzt verschlossen in ihrer Schreibtischschublade und ich habe ein altes Steinzeithandy bekommen."
Margot kicherte verlegen.
Kopfschüttelnd bedachte ich meine beste Freundin mit einem belustigten Blick. „Dir kann ich ja auch echt gar nichts erzählen!", stellte ich vorwurfsvoll fest.
Sie und Valerie kamen ziemlich gut miteinander aus. Schon öfter hatten sie sich hinter meinem Rücken über mich ausgetauscht, was mir am Anfang ziemlich gegen den Strich gegangen war.
Doch was konnte ich dagegen schon ausrichten?
Die beiden waren sich einfach zu ähnlich: Sie hatten eine gutmütige Persönlichkeit, waren ehrlich und aufrichtig, emotional und mitfühlend, gute Noten und Perfektion standen ganz oben. Und vor allem sorgten sich beide um mich.
Meine große Schwester und meine beste Freundin unterschieden sich lediglich in ihrer Art, ihren Alltag zu meistern. Valerie strahlte ununterbrochen wie die Sonne auf Erden und brachte alle mit ihrer gut gelaunten Art zum Lächeln. Sie verbarg lieber ihre eigenen Sorgen, um denen der anderen zu lauschen und für sie da zu sein. Margot hingegen zeigte ihre Besorgnis offen und sprach auch ihre traurigen Gedanken über die Welt laut aus. Die Gedanken, die meist niemand hören wollte, weil sie wie ein Spiegel waren, der den Leuten vors Gesicht gehalten wurde und sie an ihre Schwächen und Ängste erinnerte.
Jetzt zuckte sie nur mit den Schultern: „Immerhin habe ich mein Ziel erreicht. Du liest diesen ganzen Müll nicht mehr, oder?" Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als ich gnädig und mit einem Zwinkern zugab: „Da hast du Recht. Danke, Margot. Ich vergebe dir deinen Verrat."
In diesem Moment kehrte Yoko zurück aus der Küche. Ein wütendes Funkeln blitzte in ihren schokobraunen Augen auf, als sie das Telefon auf den Tisch knallte.
„Wahnsinn!", machte sie ihrer Empörung Luft. „Ist es zu viel verlangt, dass die Angestellten bei einem italienischen Pizzaservice auch italienisch mit einem sprechen?", knurrte sie kopfschüttelnd.
„Och nein", jammerte Margot, die Schlimmes ahnte. „Sah bloß, du hast mal wieder mit deinem Italienisch angeben wollen und den Pizzaservice verärgert?"
Yoko sah nicht gerade aus, als würde sie ihre Tat bereuen. „Was denn? Er hat mich nicht verstanden, dabei ist mein Italienisch nun wirklich nicht schlecht. Erst als ich angefangen habe zu fluchen, da hat er mich verstanden. Naja, also kurz gesagt: Wir kriegen keine Pizza."
„Yoko!", rief Margot vorwurfsvoll, während ich mich kringelte vor Lachen.
„Lasst uns lieber selber Pizza machen, bevor ich noch die restlichen Pizzaservices von Berlin verärgere. Das macht Spaß, glaubt mir, und es ist sowieso viel gesünder!", schlug Yoko vor. Ich hätte wetten können, dass das Absicht gewesen war, nur damit wir zusammen kochen und backen konnten. Yokos Lieblingsbeschäftigung, gleich nach Diktator für uns spielen.
Aber ich konnte es der kleinen Asiatin einfach nicht übelnehmen, dass es immer nach ihrer süßen Stupsnase gehen musste.
„Als würdest du Wert auf eine gesunde Ernährung legen", grummelte Margot spöttisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Hey!", empörte Yoko sich. „Kann sich ja nicht jeder nur von Obst und Gemüse ernähren, du vegetarische Karotte!"
Es gab nichts Niedlicheres auf der Welt als eine wütende Yoko.
Während die beiden ihr Streitgespräch über den Pizzaservice in der Küche fortsetzten („Aber Margot, das ist ein Italiener!" – „Yoko, das ist nur ein billiger Pizzaservice, kein italienisches Edelrestaurant!" – „Ph! Die sollten das ganz dringend auf die Stellenbeschreibung setzen!"), blieb ich im Wohnzimmer stehen.
Mein Blick glitt sehnsüchtig zum Badezimmer. Es war schon über vier Stunden her, dass ich mich zuletzt geduscht hatte. Zu lang. Viel zu lang.
Ich merkte, wie der Schmutz unter meiner Haut zu jucken begann und mir der Schweiß ausbrach. Wasser. Mein ganzer Körper sehnte sich nach frischem Wasser, das den Schmerz wegen Nikki abwaschen und im Abfluss fortspülen würde.
„Elinor? Habt ihr noch Mehl? Yoko hat den letzten Rest verbraucht, um mich damit einzupudern", klagte Margot verdrießlich, woraufhin Yokos mädchenhaftes Kichern ertönte.
„Ich komme ja schon!", rief ich und unterdrückte ein leidvolles Stöhnen.
Es nutzte nichts. Es würde noch etwas dauern, bis ich endlich duschen durfte. Ich musste mich gedulden.
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