Kapitel 17

Am Abend lag ich stumm auf meinem Bett, die Hände zusammengefaltet.

Mit geschlossenen Augen lauschte ich den lauten Stimmen, die von unten zu mir hoch drangen, sich in meinem Ohr einnisteten und nicht aus meinem Kopf zu vertreiben waren. Mama und Papa stritten sich.

Wegen mir.

Der Gedanke schmerzte so sehr, dass ich mich aufrecht hinsetzen und tief durchatmen musste. Die erdrückende Last der letzten Tage lag schwer auf mir und drohte, mich unter sich zu zerquetschen. Mich plagte das ätzende Gefühl, keine Luft mehr unter dem Druck zu bekommen.

Dem unausweichlichem Druck, dem mich meine Eltern und alle um mich herum aussetzten. Dem überwältigendem Druck, dem ich nun mit dem Umzug entfliehen wollte.

Momentan war ich davon jedoch noch viel zu weit weg, um diese großartige Möglichkeit wahrzunehmen.

Freitag.

Dann würde ich frei sein. Wortwörtlich. Bei Valerie. In ihrer Altbauwohnung. Unserer Altbauwohnung!

Diese Vorstellung brachte mich zum Lächeln. Es war ein erschöpftes, schwaches Lächeln.

Ich musste nur bis Freitag durchhalten, dann wäre es geschafft. Das erinnerte mich an meine Schulzeit, als der Freitag und das darauf folgende Wochenende Rettung vom stressigen Alltag versprochen hatten. Bis zum Freitag hatte man sich über Wasser halten müssen, bis zum rettenden Freitag. Das sichere Ufer war stets in Sicht gewesen.

So ging es mir nun wieder.

Am Freitag wäre ich für immer fort aus diesem Haus. Nachdenklich ließ ich meinen Blick durch mein gewohntes Zimmer schweifen.

Bis vor einem Jahr hatte sich dieser Raum des Öfteren wie ein goldener Käfig angefühlt, aus dem ich unbedingt hatte fliehen wollen. An meinem Schreibtisch hatte ich vor meinen Schulaufgaben gehockt und mir gewünscht, endlich frei zu sein. Die Wände waren immer näher gekommen, hatten mich beinahe zerdrückt. Ich hatte Grenzen sprengen wollen.

Doch stattdessen hatte ich mich zusammengerissen. Ich hatte mich an den Traum des Jura-Studiums geklammert und mir eingeredet, nach dem Abitur würde alles gut werden. Traum? Wohl eher Alptraum. Zumindest kam mir das nun so vor, damals war es so vielversprechend gewesen.

Eine goldene Zukunft. Ein goldener Käfig.

Alles war so golden, mein ganzes Leben war eine goldene Lüge.

Ich hatte mich nach draußen geträumt, hatte mich gefragt, was wohl alles hinter den Wänden lag. Ich hatte wissen wollen, was diese goldene Zukunft wohl noch so für mich bereit hielt.

Das verbitterte Lachen, was in diesem Augenblick in mir hochstieg, konnte ich kaum unterdrücken. Jetzt wusste ich, was mir diese goldene Zukunft gebacht hatte. Wunderbar.

Wie naiv ich doch gewesen war. Wie dumm von mir zu glauben, ich würde mein Leben leben, indem ich tagtäglich lernte und in meinem Zimmer hockte, in der Aussicht auf ein Jura-Studium.

Ein geregeltes, geplantes Leben, egal wie golden es im ersten Moment wirken mochte.

Ich hatte getan, was in den Augen meiner Eltern getan werden musste. In den Augen meiner Eltern? Nein. In den Augen der gesamten verdammten Gesellschaft mit all ihren Normen und Erwartungen.

Dabei hatte ich mich zwischen chemischen Formeln und englischen Vokabeln eigentlich ganz woanders hingesehnt, weit weg vom bevorstehendem Studium und meinem goldenen Käfig. Ich hätte gerne ans Meer gewollt. Einfach mal eine Auszeit von allem und jedem, eine Auszeit, die nicht einmal das Laufen mir geben konnte. Nach dem Abitur hätte ich Zeit gehabt, jetzt war die Zeit gekommen! Um ans Meer zu fahren, oder in fremde Länder, wie jede meiner Freundinnen. Ich verstand einfach nicht mehr, warum ich sofort hatte studieren wollen und gleichzeitig kannte ich die Antwort.

Ich verstand mein gesamtes bisheriges Leben nicht mehr.

Dafür hörte ich jetzt umso mehr.

Ja . . .

Unser Haus hatte verdammt dünne Wände. Nicht einmal die hatte ich sprengen können. Nie hatte ich diese dünnen Wände mehr verflucht als in diesem Moment. Nicht, als ich so mit zehn Jahren erfahren hatte, das Mama ihren Job als Zahnarzthelferin verloren hatte. Nicht, als Valerie mit ihrem Freund rumgemacht hatte und ich jedes Wort hatte hören können.

"Sie ist achtzehn Jahre alt, Alma, du kannst es nicht verhindern!" Die tiefe Stimme meines Vaters erklang jetzt laut und deutlich. "Es war doch sowieso klar, dass das irgendwann kommen würde. Das wussten wir. Oder etwa nicht?"

"Doch!" Meine Mutter hörte sich kraftlos an, trotzdem hatte sie ihren sinnlosen Protest noch nicht eingestellt. "Aber sie ist doch meine kleine Elinor, ich will sie nicht wieder verlieren!", antwortete Mama schrill. "Warum denn unbedingt ein Umzug? Das ist doch gar nicht nötig! Ich verstehe es einfach nicht!"

Währenddessen wanderten meine Augen sehnsüchtig zu meinem Nirvana MTV Unplugged Album, das noch neben meiner Anlage ruhte. Wie gerne hätte ich jetzt einfach Kurt Cobain und dem begeisterten Applaus des Live-Publikems zugehört. In voller Lautstärke.

Das zu probieren wäre sinnlos gewesen. Reine Zeitverschwendung.

"Ach, wirklich?" Der sarkastische Ton war kaum zu überhören. "Du willst sie nicht verlieren? Nicht wieder? Du warst es doch, die uns verlassen hat! Weil du Valerie schon nicht gehen lassen konntest, weil das zu schwer für dich war. Sei doch nicht so blöd und mach den gleichen Fehler noch mal bei Elinor! Und sei bitte nicht so naiv zu glauben, sie würde dich brauchen!"

Ich schluckte schwer und verbarg das Gesicht in den Händen.

Diese bescheuerten, dünnen Wände. Es war zum heulen.

Mein sonst so lieber Vater hatte die Kontrolle über sich selbst verloren und anhand seiner nächsten, gestammelten Worte erkannte ich, dass es ihm wirklich Leid tat.

"Alma, nein, bitte", murmelte er. Er fuhr so kleinlaut mit seinen Entschuldigungen fort, dass es mir unmöglich war, weiter zu lauschen. Irgendwann ertönte das leise Schluchzen meiner Mutter. "Björn", weinte sie und sofort stellte ich mir vor, wie mein gutmütiger Vater meine aufgelöste Mutter tröstete.

Ich ertrug das einfach nicht länger! Alle zu verletzen, ohne es zu wollen.

Einerseits schmerzte die Erinnerung an Mamas Verrat, außerdem war ihr unbeholfenes und weinerliches Gehabe so unglaublich albern. Andererseits hörte ich sie weinen. Jede Nacht. Auf dem untersten Absatz der Treppe. Alleine.

Auch ich war traurig. Wegen ihr. Weil sie mich verletzte und weil ich sie verletzte. Wir verletzten uns gegenseitig. Es tat weh, glaubt mir.

Ich wollte, dass sie für mich da war. Ich wollte, dass sie zu mir kam. So wie es sein musste und nicht anders herum.

Meine gewünschte Ablenkung traf unverhofft mit dem Vibrieren meines Handys ein. Etwas ungelenk streckte ich meinen meinen Arm nach dem Gerät auf, das auf meinem Nachttisch lag. Ich musste erst danach tasten, bevor ich es zu fassen bekam. Etwas neugierig öffnete ich meine Nachrichten und stellte verwundert fest, dass mir eine unbekannte Nummer geschrieben hatte.

Es war nur ein Wort.

Ein Wort, bei dem mir - als ich es las - ganz kalt wurde.

SCHLAMPE!

Mit zitternden Händen ließ ich mein Handy fallen. Laut scheppernd knallte es auf meinen Boden. Erstarrt behielt ich meine Finger bei mir, als hätte ich mich verbrannt. Erst ein erneutes Vibrieren erweckte mich wieder zum Leben und ließ mich wie blind auf dem Laminat nach meinem Handy tasten.

Eine weitere unbekannte Nummer hatte mir geschrieben. Für eine Sekunde zögerte ich, ob ich den Chat tatsächlich öffnen sollte. Man musste kein Genie sein um zu wissen, das es nichts Nettes sein konnte. Doch ich konnte nicht anders, als die Nachricht zu lesen. Wie von selbst berührten meine bebenden Finger das Display.

SO WIE DU AM SAMSTAG AUF DER PARTY RUMGELAUFEN BIST BRAUCHST DU DICH NICHT ZU WUNDERN WENN DU VERGEWALTIGT WIRST!

Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass es weh tat. Blut rann mir das Kinn hinunter und sofort hatte ich einen metallischen Geschmack im Mund.

Ich fragte mich nicht, wer diese Leute waren. Ich fragte mich nicht, wie sie meine Nummer bekommen hatten. Ich fragte mich nicht, warum sie solche Sachen schrieben.

In diesem Augenblick dachte ich an alles und nichts. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf und ich spürte, wie siedend heiße Tränen meine Wange entlangrollten und sich zu dem Blut gesellten.

Pling. Pling. Pling.

Neue Nachrichten voll von Hass und Wut. Neue Leute, die nichts besseres zu tun hatten, als mir spät am Abend solche Nachrichten zu schicken.

Warum? Was hatte ich getan?

Ich war vergewaltigt worden! Ich war das Opfer, nicht der Täter!

DU BIST DOCH NUR SAUER WEIL NOAH DICH NICHT WOLLTE, DESHALB ERZÄHLST DU JETZT SO EINE SCHEISSE!

NIEMAND MAG SCHLAMPEN!

ELINOR WAGNER, DU BIST EINE VERFICKTE SCHLAMPE, DU VERDIENST ES NICHT ANDERS!

Mein Atem ging schneller und ich schmiss das Handy auf die andere Seite des Zimmers. Zitternd vor Wut und Angst kauerte ich mich auf meinem Bett zusammen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Wer waren die Absender all dieser bösen Nachrichten? Kannte ich sie? Sie mussten auf meine Schule gehen, bestimmt waren viele von ihnen ebenfalls auf der Party gewesen. Ich stellte mir vor, wie ich sie jahrelang in der Schule auf den Fluren begrüßt hatte, auf dem Mädchenklo neben ihnen meine Haare gekämmt und in der Kantine am gleichen Tisch gesessen hatte.

Und nun bekam ich all diese Nachrichten.

Wussten diese Menschen besser, was passiert war als ich selbst? Konnten sie sagen, ob ich vergewaltigt worden war?

Mein Handy summte und vibrierte nun ununterbrochen, es hörte gar nicht mehr auf. Der durchgehende piepende Ton tat verdammt weh in meinen Ohren und brachte mich dazu, mein Kissen schützend auf meinen Kopf zu pressen.

Freitag konnte wahrlich nicht schnell genug kommen.

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