Kapitel 15
Die Sonne weckte mich am nächsten Morgen. Valerie hatte gestern Abend die Vorhänge nicht zugezogen, doch es war eine schöne Art aufzuwachen. Ganz anders als die Monate und Jahre zuvor von meinem schrillenden Wecker, der mich unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte.
Langsam setzte ich mich auf und rieb mir verschlafen die Augen.
Doch dann kam mir der Alptraum von heute Nacht in den Sinn und ich fing bei der Erinnerung an zu zittern. In meinem Traum war ich im Wald gewesen und wieder vergewaltigt worden.
Ernsthaft, wie oft musste ich das noch über mich ergehem lassen? Alle Leute glaubten, ich wäre einmal vergewaltigt worden. Doch das stimmte nicht. Bei jeder Erinnerung, jedem Traum und jedem Kommentar geschah es wieder, ich kam einfach nicht davon los. In Wirklichkeit war ich nicht nur einmal, sondern hunderte Male vergewaltigt worden.
Ich hatte geträumt, dass meine Klassenkameraden auch da gewesen waren. Nachdem sie zu mir gestoßen waren, hatte mein Peiniger sich in Luft aufgelöst. "Wo ist dein Vergewaltiger jetzt, hm? Hast du ihn nur erfunden?", hatten sie johlend gerufen. Ich hatte es erklären und mich verteidigen wollen, doch in meiner überwältigenden Hilflosigkeit war mir kein einziger Ton über die bebenden Lippen gekommen. Der Traum hatte sich so verdammt echt angefühlt, dass mir nun mehrere Tränen die Wange herunter rollten.
War ich eine Lügnerin? Nein! Ich war vergewaltigt worden. Es war traurig, dass ich darauf bestand, dass es wahr war. Ich wünschte, es wäre nicht so.
Ich schluckte schwer und erhob mich von meinem Bett. Mit zitternden Knien verließ ich das Gästezimmer und durchquerte Valeries Altbauwohnung. Einen Fuß setzte ich vor den anderen, sehr bedacht darauf, keinen Laut von mir zu geben. Ich hoffte, dass meine Schwester noch schlief und ich sie nicht aufweckte. Denn ich musste mich duschen. Ich musste einfach.
Die Erinnerung an den Traum haftete hartnäckig an mir. Erleichtert atmete ich auf, als ich nach einer gefühlten Ewigkeit das Bad auf der anderen Seite erreicht hatte. Es war recht modern eingerichtet, die Fliesen reflektierten das gleißende Sonnenlicht von draußen.
Als meine Füße den weißen, kühlen Boden der Dusche berührten, zuckte ich kurz zurück. Es gab ein quietschendes Geräusch. Beim zweiten Anlauf war ich auf mehr Ruhe bedacht. Mit etwas Druck drehte ich den Wasserhahn auf.
Es handelte sich um einen sehr speziellen Wasserhahn, der ziemlich modern und besonders war. Er war merkwürdig gebogen und machte einen teuren Eindruck.
Klar.
Für die perfekte Valerie nur das Beste. Doch nach dem gestrigen Abend konnte ich ihr das nicht weiter übel nehmen. Sie war ja auch etwas ganz Besonderes.
Dankbar über den schützenden Duschvorhang zog ich ihn zu, um mich allem abzuschirmen. Ich wollte meinen entblößten Körper nicht im Spiegel sehen. Es ekelte mich an, wie sich meine nackte Haut über meine Knochen spannte. Allein der Gedanke, dass ein Mann meinen Po oder meine Brüste sehen könnte, versetzte mich in Panik und trieb mich dazu, den Wasserstrahl weiter aufzudrehen. Alles in mir sträubte und wehrte sich heftig dagegen, dass irgendjemand mich nach der Größe meines Busens oder der Form meines Hinterns beurteilte.
Ich schrubbte den ganzen Dreck von meiner Haut.
Alles musste weg.
Schwer atmend sah ich dabei zu, wie der ganze Schmerz und die lästige Angst im Abfluss verschwanden. Es gluckerte und ich wurde von einem warmen Gefühl der Zufriedenheit durchströmt.
Mit geschlossenen Augen ließ ich das Wasser ein paar weitere Minuten über meinen gekrümmten Rücken fließen, als plötzlich die Badtür aufgerissen wurde und jemand schaufend und wimmernd herein stürmte. Für einen Moment war ich erstarrt und unfähig, mich zu bewegen. Ich stand einfach still da und versuchte, möglichst leise zu atmen.
Ich weiß auch nicht wieso. Es war einfach ein natürlicher Schutzmechanismus.
In der nächsten Sekunde hörte ich ein Würgegeräusch. Jemand übergab sich nur wenige Meter neben mir in die Kloschüssel. Erschrocken riss ich den Vorhang zur Seite, jedoch nicht ohne weiter meinen Körper damit zu bedecken.
Mein Blick fiel auf Valerie, die keuchend auf dem Boden hockte.
"Elinor?", presste sie entsetzt hervor, als sie mich sah. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Rückseite ihrer Hand über den Mund, an dem noch ein paar Brocken hingen.
"Was machst du denn da?", fragte ich erstarrt. Ich traute mich nicht, zu ihr zu gehen und ihr hochzuhelfen. Ich konnte nicht. Sie hätte mich nackt gesehen und irgendetwas hielt mich davon ab.
"Mir war übel", setzte Valerie rasch zur Erklärung an. "Etwas muss mit dem Essen gestern Abend im Restaurant nicht gestimmt haben, der Spinat hat - wenn ich so recht darüber nachdenke - etwas merkwürdig geschmeckt. Findest du nicht?"
Verzweifelt bemühte meine Schwester sich, ihre Fassung wieder zu erlangen.
"Also, da gehe ich nicht noch mal hin . . .", fügte sie hilflos hinzu, als ich immer noch nichts sagte.
Mein erster Gedanke war, sie zu fragen ob sie vielleicht schwanger war. Doch nachdem ich erst vor wenigen Stunden von ihrer Homosexualität erfahren hatte, erschien mir das doch etwas unpassend, deshalb erkundigte ich mich leise: "Geht es dir jetzt wieder besser? Kann ich irgendetwas für dich tun?"
Vali winkte ab. "Nein, jetzt sind die Bauchschmerzen weg! Ich habe schon wieder richtig Hunger. Wie wäre es, gehen wir irgendwo beim Bäcker etwas frühstücken?"
Ich zog die Augenbrauen so zusammen, dass sie mal wieder eine durchgängige Linie bildeten. "Ist das denn eine gute Idee? Du hast gerade gekotzt, Vali, da solltest du nicht gleich wieder etwas essen."
"Solange es kein Tibetischer Bäcker ist, wird das wohl gehen!", lachte sie und richtete sich auf.
Ich rang mir ein gekünsteltes Lächeln ab.
"Sicher, dass du okay bist? Nicht, dass du noch krank wirst!", gab ich besorgt zurück. Aber Vali schüttelte nur schmunzelnd den Kopf. "Du bist ja schon genauso übertrieben fürsorglich wie Mama!", rief sie empört grinsend und warf mir ein Handtuch an den Kopf, damit ich endlich den blöden Vorhang loslassen konnte.
Mit einem raschelndem Knistern fiel er zu Boden.
"Zieh dir einfach schnell etwas an, ja? Ich kenne einen netten Laden eine Straße weiter", sagte Vali munter. Nie wäre ich jetzt auf den Gedanken gekommen, dass sie nur wenige Minuten zuvor in die Toilette gekotzt hatte. Doch während sie das sagte, sah sie mir nicht richtig in die Augen.
Ich konnte nur nicken und ihr betäubt nachsehen, wie sie mit ihren dürren Beinen zurück in ihr Zimmer eilte.
Als ich mit langsamen Schritten das Bad verließ, fiel mein Blick in der Küche auf das geöffnete Nutellaglas. Ein Löffel lag daneben, unachtsam und hektisch auf die Theke geworfen.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Als ich schließlich angezogen vor der an der Wohnungstür wartenden Valerie stand, konnte ich sie nicht richtig ansehen und brauchte auffällig lange, um meine Schnürsenkel zu binden.
Auf dem Weg zum Bäcker zeigte ich mich eher wortkarg, ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. "Wie hast du geschlafen?", wollte Valerie wissen, während sie umständlich ihre Schlüssel in der Tasche verstaute.
Kurz überlegte ich, ihr von meinem Alptraum zu erzählen, verwarf die Idee jedoch schnell wieder. Ich war zu verwirrt, um das alles noch einmal aufzurollen. Geändert hätte es außerdem auch nichts. "Ganz gut", erwiderte ich daher nur.
Der Bäcker war noch relativ leer, außer uns war nur ein altes Ehepaar und eine junge Frau mit pinken Dreadlocks da. Ich ließ mich auf die Bank fallen, deren Tisch gegeüber von der Tür lag und von der man einen guten Blick über den ganzen Laden hatte.
Während Valerie uns etwas bestellte und den Raum mit ihrem strahlendem Lächeln erhellte, nahm ich die anderen Besucher genauer unter die Lupe.
Die junge Frau trug einen Nasenpiercing und hatte mehrere Tattoos am Oberarm, die ich besser nicht genauer unter die Lupe nahm. Die Wahrscheinlichkeit, einen ungewünschten Flashback zu bekommen, war zu hoch. Sie tippte mit ihren langen, künstlichen Nägeln unentwegt auf ihrem Smartphone herum, ab und zu nahm sie einen großen Schluck von ihrem Kaffe.
Ich registrierte aus dem Augenwinkel, dass das alte Ehepaar angeregt tuschelte und empörte Blicke in Richtung der jungen Frau warf. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht aus Berlin kamen und Touristen waren, die sich offenbar noch nicht mit der Vielfalt und Anonymität einer Großstadt angefreundet hatten.
Ihr Gepäck, das aus mehreren Reisetaschen bestand, bestätigte mir sogleich diesen Eindruck. Ich sah sie an und fragte mich, wie lange es wohl her war, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Ob sie damals wohl schon gewusst haben, dass sie eines Tages gemeinsam alt und verbittert an einem Dienstamorgen in einem Berliner Bäcker sitzen würden und kein wichtigeres Gesprächsthema hätten, als eine junge selbstbewusste Frau mit einem ungewöhnlichem Aussehen am Nebentisch?
Der Gedanke stimmte mich irgendwie traurig.
Ich wusste nicht, ob ich später einmal heiraten würde. Momentan erschien mir das völlig unmöglich, überhaupt jemals wieder eine Beziehung zu führen. Und wenn ich mich doch dazu entschloss, den Bund der Ehe einzugehen - Was, wenn die Liebe irgendwann verschwand? Was, wenn ich mich veränderte? Was, wenn ich irgendwann mit meinem Mann, mit dem ich nur aus Prinzip zusammen war, an einem Dienstagmorgen im Bäcker sitzen und erfüllt von Verbitterung, selber schon so alt und verbraucht zu sein, über die neumodische Frau am Nebentisch lästern würde?
Mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend beobachtete ich, wie die Frau ihren Kaffe aus trank und sich erhob. Die Rentner konnten sich kaum halten vor Freude darüber, einen weiteren Grund zur Aufregung zu haben, als sie sahen, wie unverschämt knapp die Shorts der Frau waren.
"Unzüchtig, diese jungen Leute von heute!", krächzte der alte Mann und schüttelte mit verschränkten Armen den Kopf. "Also wirklich! Eine Schlampe! Wie kann man nur so rumlaufen? Schämt sie sich denn gar nicht?", zischte seine Frau missbilligend und rückte sich mit fieser Genugtuung die Brille zurecht.
Die junge Frau mit den pinken Dreadlocks und der kurzen Hose drehte sich kurz perplex um und musterte die Rentner verwirrt, als ob sie überlegte, ob sie gemeint war. Dann verschwand sie eilig aus dem Bäcker.
Es ekelte mich an, wie sich das Gesicht der alten Dame mit Befriedigung füllte, als sie der jungen Berlinerin nachschaute. Wie konnte man nur so verbittert und abgrundtief böse sein? Ich fand es widerlich, wie sie sich am Leid von anderen erfreute, obwohl sie der selbstbewussten Frau wohl kaum Leid mit ihren peinlichen Kommentaren bescheert hatte.
Trotzdem stellte sich mir die bohrende Frage, wie sie sich das Recht heraus nahm, über andere Leute zu urteilen, ohne sie wirklich zu kennen. Ich konnte nicht verstehe, wie sie diese Fremde als 'Schlampe' bezeichnen konnte, nur weil sie im Hochsommer eine kurze Hose trug.
Abgesehen davon konnte jeder tragen was er wollte, ohne deshalb beleidigt zu werden. Zumindest wünschte ich mir das so.
Ich musste ein trauriges Seufzen unterdrücken, als Valerie endlich mit einem großen Tablett an unseren Tisch zurückkehrte.
"Hier!", meinte sie lächelnd. "Du trinkst doch Kaffe, oder? Und dein Schokocroissant, bitte sehr!" Mit einem Ruck stellte sie den Teller und die Tasse vor mir ab. Sie selber hatte sich ebenfalls einen großen Kaffe und gleich zwei XXL-Crossaints bestellt. Stirnrunzelnd sah ich ihr dabei zu, wie sie damit begann, das Erste in sich reinzustopfen.
"Hm, lecker!", schmatzte sie glücklich und biss gleich ein zweites Mal ab. Gierig schlang sie das ganze Croissant herunter und griff sofort zum zweiten. Erwartungsvoll hielt sie inne, um mir einen Blick zu zu werfen: "Hast du denn gar keinen Hunger, Ellie?"
"Doch, klar", murmelte ich und fing an zu essen.
Dabei ließ ich meine Schwester jedoch nicht aus den Augen und sah verwirrt, wie sie auch ihr zweites Croissant aufaß.
"Ganz ehrlich?", meinte sie und leckte sich über die Lippen. Ihre bekrümelten Hände klopfte sie an ihrem Rock ab, als sie sich von unserem Tisch erhob. "Ich habe einen Bärenhunger!", sagte sie und holte sich ein drittes Croissant.
Es war, als ob Valerie mir beweisen wollte, wie viel sie essen konnte. Zwischendurch merkte sie immer wieder laut an, wie hungrig sie sei und wie toll es doch schmeckte.
Ich konnte nicht anders, als sie besorgt zu mustern. "Elinor!", ermahnte Valerie mich und ließ ihre Tasse sinken. "Jetzt schau mich nicht so an. Ich habe dir doch gesagt, dass es mir blendend geht. Mir war vorhin einfach übel, okay? Das hatte etwas mit dem Essen von gestern Abend zu tun!"
Genervt sah sie mich an, sodass ich schließlich nachgab. Ich wollte sie nicht weiter provozieren, außerdem hatte ich noch ein weiteres Anliegen.
"Sag mal", fing ich vorsichtig an und spielte nervös mit Margots Armband an meinem Handgelenk. "Wieso kann ich eigentlich nicht ganz zu dir ziehen? Wir könnten eine richtige WG gründen, weißt du."
Gespannt sah ich Vali an. Mir ging es mit ihr besser und ich hatte das Gefühl, dass es meine Pflicht war, eine Auge auf sie zu haben.
Valerie biss sich verlegen auf ihre Lippe. "Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Ellie . . .", sagte sie zögernd und vermied es sorgfältig, mich anzusehen.
Die Enttäuschung stand mir ins Gesicht geschrieben.
Es war wie früher, als wir noch kleine Kinder gewesen waren. Beim Spielen auf der Straße vor dem Spielplatz hatte ich immer weiter laufen wollen, als wir gedurft hatten. Valerie hatte sich nicht getraut und mit ängstlicher Stimme an meine Vernunft appelliert. Ich sah sie noch heute vor mir stehen in ihrem pinken Kleid mit den hübschen Blumenmuster und den liebevoll geflochteten blonden Zöpfen. Neugierig hatte ich erkunden wollen, was außerhalb meiner vertrauten Umgebung lag. Ein junges Mädchen in Jeanslatzhosen und mit sportlichen Klettverschlussschuhen, das widerspenstige braune Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden.
"Wieso nicht?", wollte ich heiser wissen und versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. Ich hatte mich Vali geöffnet und ihr von meinem Wunsch erzählt. Es war unfair, dass sie mich so kalt abblitzen ließ.
"Das ist kompliziert . . .", wehrte sie ab und starrte zu Boden.
"Wieso nicht?", wiederholte ich lauter, sodass Valerie erschrocken hoch guckte und sich das alte Ehepaar missbilligend zu mir umdrehte. Doch es war mir egal.
"Nenn' mir bitte einen Grund, Vali!", sagte ich und funkelte sie an. Ich fühlte ich verletzt und irgendwie verraten. Und vor allem wollte ich eine Antwort auf meine Frage, wieso sie mich nicht bei sich haben wollte. Hatte es ihr etwa nicht so viel Spaß gemacht wie mir? Mochte ich sie lieber als sie mich? Panik stieg in mir hoch und am liebsten hätte ich mich voller Scham unter meiner Bettdecke verkrochen.
Ich sah Valerie an, dass sie mit sich selbst ringen musste. Sie schien nach einem Grund zu suchen, fand jedoch keinen. Oder sie wollte ihn mir nicht sagen.
Nach einer Minute des Schweigens gab sie sich schließlich einen Ruck: "Okay. Du hast Recht."
Verwundert guckte ich sie an. Meinte sie das tatsächlich ernst?
"Ich rede mit Mama, in Ordnung?", fragte sie und ihre Mundwinkel zuckten leicht. Eine Sekunde später lächelte sie schon wieder breit.
Als Antwort konnte ich nur betäubt nicken.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top