Kapitel 14
"Mir geht es gut", wiederholte ich zum hundertsten Mal und presste das Kühlakku fest gegen meine Stirn.
Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch und versuchte meine Gedanken zu ordnen.
Was war eben passiert?
Eigentlich wusste ich es ja. Ein Bruchstück der Erinnerungen an die Tat waren zurückgekommen. Ich wusste nicht, ob das nun ein Grund zum freuen oder heulen war. Wollte ich mich überhaupt daran erinnern, wie es war, vergewaltigt zu werden?
Nein, verflixt.
Wollte ich den anderen beweisen, dass es diesen Täter gab und ich das alles nicht erfunden hatte? Wollte ich ihn hinter Gittern sehen, damit er sich nicht an weiteren Frauen vergehen konnte?
Ja, natürlich.
"Ich . . . Ich habe mich an etwas erinnert. Er hatte ein Tattoo. Der Mann, der mich . . . Er hatte ein Tattoo", stammelte ich verwirrt und ließ das Kühlakku sinken. Bevor ich dieses wertvolle Deatil wieder vergessen oder verdrängen konnte, musste ich jemandem davon erzählen. Und wenn schon einer davon erfuhr, dann sollte es Valerie sein.
"Was für ein Tattoo?" Ihre Stimme hatte nun einen schärferen Ton angenommen.
"Eine Flamme. Am rechten Handgelenk", antwortete ich rasch. Valerie nickte geschäftig. "Sehr gut! Das wird für die Polizei von großer Bedeutung sein, Elinor, das ist fantastisch!"
Schnaubend warf ich mein nutzloses Kühlakku auf die Couch. "Ich weiß noch gar nicht, ob ich überhaupt Anzeige erstatte", flüsterte ich. Verärgert stellte ich fest, dass ich ängstlicher klang als ich es beabsichtigt hatte. Unwillkürlich dachte ich an die Vorwürfe von heute Nachmittag und mein Herz wurde noch schwerer als es ohnehin schon war.
"Es hat etwas mit dem Treffen zu tun, oder?", wusste Valerie. Sie hatte schon immer ein Feingefühl für solche Dinge gehabt. Während ich eher mit einem scharfen Sachverstand und Logik an eine Aufgabe heranging, tastete Valerie sich empathisch und mitfühlend vor.
Ich konnte nicht anders, als hilflos zu nicken.
Dann fing ich plötzlich an zu weinen. Die Tränen kamen einfach so, ohne dass ich überhaupt eine Chance hatte, sie wegzudrücken. Die Flut des Kummers und der Bestürzung war nicht weiter aufzuhalten.
Stockend erzählte ich Valerie von Melina, Saskia und Liz, die glaubten, ich hätte das alles nur erfunden. Ich berichtete schluchzend von Noah und den anderen, die mir beleidigende Sprüche hinterher gerufen hatten.
Valerie hörte mir aufmerksam zu, konnte jedoch einen entsetzen Aufschrei und ein böses Knurren an einigen Stellen nicht unterdrücken.
Als ich wortwörtlich am Ende war, schien sie nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollte.
"Oh Gott, Elinor, das ist ja unglaublich. Das ist eine Unverschämtheit! Ich kann nicht glauben, wie die auch nur auf so eine dumme Idee kommen können. Allein der Gedanke!" Sie erschauderte. "Es tut mir echt Leid, dass du mit solchen Idioten in einer Klasse sein musst."
Ihre Worte taten mir erstaunlicherweise gut.
"Ich fürchte, das ist nicht zu entschuldigen", gab ich schwach grinsend zurück. "Jetzt bist du an der Reihe! Erzähl du mir etwas. Wie vorhin im Restaurant!", forderte ich Valerie auf.
Zwar war ich erleichtert, mich ihr anvertraut zu haben, aber nun wollte ich unbedingt von diesem erschütterndem Thema weg. Ich wollte weg von mir und meinem Problem.
"Na gut", willigte Vali ein. Unschlüssig fragte sie: "Was willst du denn wissen?"
In ihren grünen Augen las ich die stumme Bitte ab, nicht noch einmal auf das Medizinstudium zurückzukommen. Diesen Wunsch hatte ich wohl zu akzeptieren.
"Okay. Hast du momentan einen Freund?" Grinsend zog ich die Augenbrauen hoch.
Zu meiner Bestürzung reagierte Valerie auf diese Frage genauso abweisend wie auf die erste vorhin im Restaurant. "Das ist vielleicht kein so gutes Thema . . .", meinte sie nervös und trank ihr ganzes Sektglas in einem Zug aus.
Innerlich verkrampfte ich mich. Ich wollte sie nicht unglücklich machen, wirklich nicht! Sie hatte mir geholfen, nun wollte ich für sie da sein. Das hatte Vali einfach verdient. Ich war nicht länger nur die kleine Schwester, ich war dabei, aus dieser Rolle herauszuwachsen.
"Warum?", hakte ich behutsam nach. "Hast du dich von jemandem getrennt? Ist es noch nicht so lange her? Willst du darüber sprechen?"
Ohne etwas zu erwidern füllte Vali sich das Glas erneut auf und spülte ihr Schweigen mit einem weiteren großzügigen Schluck herunter.
"Ich kann nicht, okay?", sagte sie dann und griff hektisch nach einem Keks. Kurz bevor ihre Hand den Teller berührte, überlegte sie es sich anders und schob ihn stattdessen noch weiter von sich weg. Mit leeren Händen kauerte sie sich auf die Couch.
"Was hat das Arschloch gemacht?", wollte ich wütend wissen. Wer hatte es gewagt, meine liebe Schwester zu verletzen? Meine heftige Zuneigung für sie kam plötzlich und überrumpelte mich unerwartet. Seit wann war sie mir so wichtig geworden? Bis vor kurzem hatten wir einander nichts bedeutet!
Aber früher.
Früher, als wir noch klein gewesen waren. Da waren wir dem anderen unheimlich wichtig gewesen. Vielleicht kehrten wir ja gerade zu diesen Punkt zurück. Vielleicht waren wir auf dem besten Weg dahin. Aber das funktionierte nicht, wenn Vali sich mir nicht öffnete! Sie musste mir vertrauen, so wie ich ihr vertraut hatte.
Ihr Ex-Freund musste etwas verdammt Schlimmes getan haben, denn jetzt schien Valerie den Tränen nah zu sein.
"Ich will nicht darüber sprechen, Ellie, bitte . . .", flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Auf einmal wurde ich wütend. "Glaubst du etwa, ich wollte über meine Vergewaltigung reden? Denkst du, mir ist es leicht gefallen, dir von dem Treffen zu erzählen?", fuhr ich sie an. "Nein! Aber ich habe es gemacht. Jetzt bist du an der Reihe. Komm schon, Vali. Danach geht es dir besser. Versprochen", fügte ich nun schon viel sanfter hinzu.
Vali holte tief Luft.
"Ich bin lesbisch."
Warte, was? Damit hatte ich nicht gerechnet und mein sonst so schneller Verstand arbeitete nur sehr langsam.
"Aber du hattest doch schon so viele Freunde . . .", fing ich zögernd an. Das machte für mich keinen Sinn.
Vali zuckte mit den Schultern, das Sektglas so fest umklammert, dass ihre Fingerspitzen ganz bleich waren. "Ja, aber das war nur für Mama und Papa", meinte sie mit einem traurigem Lächeln.
"Und vielleicht auch etwas für mich selber, als ich es noch nicht wahr haben wollte."
Ich stellte mir Mamas Gesichtsausdruck vor, wenn sie davon erfahren hätte und ich verstand Valerie. "Das muss grausam für dich gewesen sein!", rutschte es mir heraus. "Es vor allen zu verheimlichen und es nicht frei ausleben zu können, meine ich . . ."
Das schlechte Gewissen holte mich ein und ich stellte fest, dass ich meine eigene Schwester gar nicht richtig gekannt hatte. Nach unserer Entfremdung hatte ich mir nie die Mühe gemacht, sie neu kennenzulernen, ich hatte es nie für nötig erachtet.
Ein schwaches, dankbares Lächeln erschien auf Valeries angespanntem Gesicht.
Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Aber dieses Mal war das Schweigen sehr angenehm, es herrschte keine peinliche Stille wie vorhin im Restaurant.
"Willst du vielleicht heute hier übernachten? Es ist schon sehr spät", bemerkte sie schließlich. Überrascht hob ich den Kopf. Im ersten Moment kam mir der Gedanke total irreal vor, doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr freundete ich mich mit der Idee an.
Hier bei Vali war es besser als zu Hause bei Mama und Papa. Hier fühlte ich mich weniger eingeschränkt. Hier wollte mir niemand meine Flügel stutzen und mich am Fliegen hindern, hier ging es mir einfach besser.
"Gern", antwortete ich. "Sagst du Mama Bescheid?"
Vali strahlte. "Klar! Das wird sicher kein Problem sein. Ich richte nur schnell das Gästezimmer her, ja?" Aufgeregt wustelte sie davon, um Bettwäsche und ein Laken für mich zu holen. Ich half ihr dabei. Gemeinsam spannten wir das schneeweiße Laken über das schmale Bett.
Nach dem Zähneputzen wünschte Valerie mir lächelnd eine gute Nacht.
Ich konnte nicht sagen, dass es mir nicht gefiel, einfach mal bei meiner großen Schwester zu übernachten. Es gab mir eine vorher nie da gewesene Normalität zurück. Es war eine ganz neue Normalität, die vor der Vergewaltigung schlichtweg nicht vorhanden gewesen war.
Ich war einfach ein Mädchen, das ihre ältere Schwester in ihrer neuen Wohnung besuchte und bei ihr übernachtete.
Der Tag hörte viel besser auf, als er begonnen hatte.
Erst als ich alleine in meinem frischen Bett lag, fiel mir auf, dass ich mich gar nicht geduscht hatte. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken oder wohlmöglich noch ins Bad rennen konnte, war ich bereits in einen tiefen Schlaf gefallen.
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