Kapitel 12
(Ein Video, das mich sehr schockiert und aufgerüttelt hat. War auch so ziemlich der Anstoß, mit einer fiktiven Geschichte auf ein reales Problem aufmerksam zu machen. Seht es euch bitte an. Es lohnt sich, glaubt mir! Auch wenn ihr danach wahrscheinlich furchtbar wütend sein werdet ... Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß bei dem Kapitel!)
Valerie liebte exotisches, edles Essen, während mir auch einfach ein Anruf bei Flying Pizza gereicht hätte. Ich war sowieso nicht in der Stimmung, um irgendwo fein essen zu gehen, doch meine große Schwester bestand darauf, mich in ein teures Restaurant einzuladen. Mama und Papa überwiesen ja auch jeden Monat eine beträchtliche Summe auf ihr Konto, daher konnte sie es sich vermutlich leisten.
Aufgeregt drückte Valerie die braune Holztür des Restaurants auf und wandte ihren Kopf über die Schulter zu mir. Ein breites Strahlen lag auf ihren Gesicht.
"Warst du schon mal tibetisch essen?", erkundigte sie sich interessiert, während sie sich von einem wartendem Kellner an einen kleinen Tisch nahe des Fensters führen ließ. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die Straße, auf der ein reges Treiben herrschte.
"Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß, skeptisch auf das Essen des Nebentisches schielend.
Valerie lachte, als sie meinen Blick bemerkte. "Jetzt guck' doch nicht so!", meinte sie mit einem Schmunzeln.
Nachdenklich sah ich ihr dabei zu, wie sie sich das Brot, das der junge Kellner uns eben als Beilage serviert hatte, in eine der Soßen dippte. der hiffnungsvolle Ausdruck in seinen Augen war ihr entgangen.
Munter lächelnd machte sie eine Bemerkung über die bunten Lampions auf der Straße, die den Außenbereich des Restaurants beleuchten sollten.
Ich konnte schon verstehen, warum Valerie für Männer jedes Altersattraktiv war. Sie strahlte etwas aus, was offenbar unwiderstehlich wirkte. Ich hatte noch kein einziges männliches Geschöpf getroffen, das sich ihrem natürlichen Charme entziehen konnte.
"Wie war das Treffen mit deinen Freunden?", fragte Valerie dann sanft. Ich antwortete erst, als der Kellner die Speisekarten gebracht hatte und wieder verschwunden war. "Nicht so gut . . .", meinte im bekümmert.
Ich hatte mich mit Valerie treffen wollen. Um zu reden. Mir fiel ehrlich gesagt niemand anderes ein, der besser dafür geeignet wäre oder dem ich mich lieber anvertraut hätte. Keiner war so beruhigend vertraut und erfrischend fremd wie Valerie. Vor allem aber gab es kaum jemanden, der so gut zuhören konnte wie sie.
"Das tut mir furchtbar Leid, Elinor", sagte sie und beugte sich vor. "Ernsthaft. Ich habe gehofft, dass wenigstens deine Freunde für dich da sind."
Meine Kehle wurde ganz trocken. "Das sind sie, Valerie, das sind sie wirklich!", beteuerte ich und krallte meine Fingernägel in die Tischdecke. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, was meine Schwester von meinen Freundinnen hielt.
"Wenn du nicht darüber reden willst, ist das in Ordnung", meinte Valerie rasch und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Für mich hatte sie am Anfang keinen Alkohol bestellen wollen, ich hatte ihr erst in Erinnerung rufen müssen, dass ich bereits volljährig war. Für sie würde ich wohl immer die kleine Schwester bleiben. Vielleicht war das auch gut so.
Zögernd spielte ich mit dem Saum meines Pullovers. Ich hatte das Gefühl, das Erlebnis vorhin im Kino würde mich von innen zerfressen, ich musste mit jemandem darüber reden. Nur hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich damit anfangen sollte.
Wie sagte man seiner großen Schwester, was man nach einer Vergewaltigung für eine Schmach erdulden musste? Wie sollte ich wiederholen, was man mir unterstellt hatte?
"Können wir erst mal über etwas anderes sprechen?", bat ich sie. Valerie nickte kräftig.
"Natürlich!"
Stille herrschte. Der Kellner kam, nahm unsere Bestellungen auf und ging. Gerne hätte ich ihm hinterher gerufen, dass er doch bitte bleiben solle, weil dieses Schweigen peinlich war. Ein weiterer Schluck aus dem Weinglas.
Es war einer dieser Momente, in denen mir mal wieder schmerzlich bewusst wurde, wie wenig meine Schwester und ich uns kannten. Auf einmal war es wieder so, als würde ich mit einer Fremden am Tisch sitzen. Fieberhaft suchte ich nach einem Gesprächsthema. Hatten wir überhaupt so etwas? Ein gemeinsames Gesprächsthema? Ein Interessengebiet, das wir teilen?
"Okay, weißt du was?", meinte Valerie pötzlich und leckte sich flüchtig über ihre kirschroten Lippen. "Wir spielen ein Spiel. Erst stellst du mir eine Frage, dann bin ich an der Reihe. Einverstanden?"
Ich nickte zögernd. Ja, das klang gut.
"Wolltest du Medizin studieren oder war das auch nur die Idee von Mama und Papa?", wollte ich wissen und ließ Valerie dabei nicht aus den Augen. Innerhalb von Sekunden verschwand der aufmerksame Ausdruck aus ihrem Gesicht. Sie lachte kurz reserviert auf, doch es war keineswegs ein fröhliches Lachen.
"Gleich so eine komplizierte Frage zu Anfang, ja?", meinte sie traurig lächelnd und ließ sich in ihrem Sitz zurückfallen. Ich ging nicht darauf ein und sah sie nur abwartend an.
Nervös fummelte Valerie an ihrer Serviette herum und wischte sich damit auf die ganz feine Art über den Mund. Mir fiel auf, dass das Rot der Serviette sich mit dem Rot ihres Mundes schnitt. Dabei setzte sie doch sonst so sehr auf ein gutes Modebewusstsein, was auch immer das sein sollte.
"Du kannst doch nicht einmal Blut sehen . . .", bemerkte ich leise und richtete meinen Blick auf mein halbleeres Weinglas. Halbleer. Oder doch halbvoll? Das alte Spiel. War die Tür halboffen oder halbgeschlossen?
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich mir mit fünf Jahren meinen rechten Zeigefinger an einem scharfen Blatt Papier geschnitten hatte. Anstatt mir zu helfen war Valerie kreischend vor Ekel zu Mama gerannt, die mir schleunigst die winzige Wunde verarztet hatte. Als wir etwas älter gewesen waren, hatte ich einmal auf dem Heimweg von der Schule die Kontrolle über mein Rad verloren. Da es ein heißer Sommer gewesen war, waren mir mit dem Fahrrad zur Schule und wieder zurück gefahren. Beflügelt von dem Wind, der durch meine dunklen Locken wehte, hatte ich übermütig meine Hände vom Lenker genommen und die Arme wie ein Vogel ausgebreitet. Nur wenige Meter hatte ich in diesem Fahrstil ausgehalten, dann war ich vom Sattel gerutscht und auf dem harten Asphalt aufgeschlagen. Mein Knie hatte geblutet wie verrückt, egal wie oft ich das Taschentuch auf die Wunde gedrückt hatte. Noch heute hatte ich eine runde, verschwommene Narbe von dem Unfall. Valerie konnte sich allerdings an nichts von alledem erinnern, weil sie in Ohnmacht gefallen war, sobald sie das ganze Blut gesehen hatte. Erst hatte ich mich um sie kümmern müssen, bevor ich mich überhaupt meiner eigenen Verletzung hatte zuwenden können.
"Elinor . . .", sagte Valerie nun mit flehender Stimme. "Jetzt nicht, okay?"
"Haben sie dich dazu gezwungen? Unsere Eltern, meine ich?" Panik stieg in mir hoch. Wann hatte mein vermeintlicher Traum, Jura zu studieren, eigentlich begonnen? War es wirklich das, was ich selber wollte?
Valerie erhob sich von ihrem Stuhl und schien sich nach der Toilette umzusehen. Sie suchte nach einem Fluchtweg, einem letzten Ausweg, um nicht der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen.
Urplötzlich griff ich über den Tisch nach ihrer Hand und krallte mich in ihre nackte Haut. Wir beide erstarrten. Ich glaube, seit der Vergewaltigung war es das erste Mal, dass ich jemanden freiwillig berührte. Ich wartete auf den Ekel, doch er blieb aus. Da war nichts.
Ich konnte zwar nicht behaupten, dass es sich gut anfühlte, es war merkwürdig fremd und komisch. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, sie loszulassen oder mich zu waschen. Deshalb ließ ich meine Hand verwirrt auf ihrer ruhen.
"Tut mir Leid", murmelte ich. Etwas eindringlicher fügte ich hinzu: "Aber du musst doch verstehen, wie wichtig das für mich ist! Ich bin in der gleichen Situation wie du vor Jahren, ich will nicht den gleichen Fehler machen wie du!" Mit einem intensiven Blick in den Augen starrte ich sie an, bis sie endlich den Kopf hob.
Für einen Moment hatte ich komplett vergessen, dass vorerst aus meinem Studium nichts werden würde und ich ganz andere Probleme hatte.
"Hör zu", sagte sie schließlich und ließ die rote Serviette auf die weiße Tischdecke fallen. Rot. Wie mein Blut auf dem Asphalt.
Valerie holte einmal tief Luft. "Ich will eigentlich nicht darüber sprechen. Aber lass dir von Mama und Papa nichts sagen, okay? Das bringt dich nicht weiter, glaub mir. Du musst das machen, was dir gefällt und was dich bewegt. Weil du später gerne zur Arbeit gehen musst. Das können unsere Eltern nicht für dich machen. Deshalb liegt die Verantwortung für deine Berufswahl auch ganz allein bei dir, Elinor. Vergiss das bitte nicht."
Sie schenkte mir ein müdes Lächeln und rückte ihren Stuhl wieder zurück, um erneut Platz zu nehmen. Ich konnte nur nicken.
Eine Sekunde später strahlte Valerie bereits wieder von einem Ohr zum anderen. "Und jetzt denken wir nicht weiter darüber nach! Ich bin dran mit einer Frage. Was willst du essen?"
Damit entlockte sie mir tatsächlich ein Schmunzeln. Ein echtes Schmunzeln, von ganz alleine.
"Ich weiß nicht", gab ich zu und warf einen Blick auf die Speisekarte. "Darf ich dir etwas empfehlen?", fragte Valerie aufgeregt, was mich erneut zum grinsen brachte. "Gerne! Aber nicht zu exotisch, okay?", bat ich sie und stützte erwartungsvoll den Kopf auf mein Kinn.
"Einverstanden. Dann wollen wir mal sehen . . .", überlegte Valerie zwinkernd und studierte eifrig die verschiedenen Gerichte. "Wie wäre es Nummer 37?"
Ich las in der Spalte nach und schnappte prompt erschrocken nach Luft. "Was? Innereien? Yak-Magen oder Schafslunge?"
Mein Gott, wo hatte Valerie mich hier nur hingebracht? Erst als ich entsetzt nach oben guckte, nahm ich ihren schelmischen Blick wahr. Genauso hatte sie früher immer ausgesehen, wenn sie heimlich Nacktschnecken in meine Gartensandalen getan hatte, weil sie wusste, wie sehr ich mich vor den Viechern widerte.
"Vali!", rief ich empört und schlug nach ihr mit der Speisekarte. Sie wich kichernd und juchzend angesichts ihren kleinen Spaßes aus und riss schützend die Hände vors Gesicht.
"Soll gut gewürzt echt lecker schmecken . . .", ergänzte sie unschuldig guckend. Dann zwinkerte sie und meinte unbeschwert: "Ach, Ellie, du lässt dich noch immer so prima veräppeln wie früher!"
Ich gluckste seelig, bevor ich es unterdrücken konnte.
"Weißt du was?", sagte ich dann. "Ich glaube, ich verzichte auf die Innereien und nehme stattdessen die Nummer 41: Blattspinat mit Soja und Reis."
"Gute Wahl!", lobte Valerie mich und gab unsere Bestellung beim Kellner auf.
Meine gute Laune verflog jedoch rasch wieder, als ich die Blicke der fünf jungen Männer am Nebentisch bemerkte. Sie hatten dieses gewisse gierige Funkeln in ihren Augen. Es war ein dreckiges Funkeln der Lust, ein Funkeln, das sagte: Ich will dich.
Und mich machte dieses Funkeln unfassbar wütend. Es ekelte mich an, wie sie meine Schwester und mich abcheckten, ihre verlangenden Blicke mit dieser gehörigen Portion Sex und dem Wunsch nach Befriedigung. Sie erweckten in mir wieder das Gefühl, mich waschen zu wollen. Ihre langsam an mir heruntergleitenden Augen ließen mich beinahe ohnmächtig werden und ich kämpfte verzweifelt mit dem Bewusstsein.
Nur verschwommen nahm ich wahr, wie Valerie sich besorgt vorbeugte und irgendetwas fragte. Ich sah nur, wie sich ihre Lippen bewegte, ihre Worte verstand ich nicht. In meinen Ohren war lediglich ein lautes Rauschen, ab und zu durchbrochen von einem monotonen Piepen.
Ich musste hier raus.
"Tschuldigung", lallte ich mit schwerer Zunge und sprang abrupt auf, wobei ich beinahe den gesamten Tisch mitgerissen hätte und im Vorbeigehen noch einige Stühle umkippte.
Keuchend und torkelnd kam ich schließlich beim Bad an, glücklicherweise war es gerade leer.
Schwer atmend stand ich vor dem Spiegel und guckte bebend in mein eigenes, ausgezehrtes Gesicht. Ich sah grauenvoll aus und konnte in diesem Moment voller Verbitterung verstehen, wieso niemand glaubte, dass jemand mich vergewaltigen würde. Und doch war es geschehen.
Ich drehte den Wasserhahn auf und spritzte mir kaltes Wasser auf die Wangen und die Stirn. Einige kühle Tropfen rannen mir den Hals hinunter und ich war dankbar für jeden Flecken meines Körpers, der nass wurde.
Dann trat ich eilig ein paar Schritte zurück, da ich meinen eigenen Anblick nicht länger ertragen konnte.
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