Kapitel 11
(Bild: Noah)
Geldverschwendung. Das war das richtige Wort für den Film, den wir uns soeben angesehen hatten. Unglaubwürdige Ereignisse, schlechte Witze, keinerlei tiefgründige Charaktere, ein vorhersehbares Ende. Genau wie ich vermutet hatte, war dieser überteuerte Kinobesuch sinnlos gewesen, zumindest für mich. Yoko und Vicky hingegen kicherten noch immer albern über irgendeine Szene, aber an Margots Gesichtsausdruck sah ich, dass sie knapp davor war, sich wahrscheinlich über die sexistische Darstellung der Frauen in dieser amerikanischen Komödieaufzuregen.
Still grinste in mich hinein. So viel war passiert, doch einiges änderte sich wahrscheinlich nie.
Meine halbwegs gute Laune sank allerdings wieder schlagartig in den Keller, als ich Melina und Saskia auf uns zukommen sah, dicht gefolgt von Liz. Aus dem Augenwinkel nahm ich war, dass Leslie und Ronja sich eher im Hintergrund hielten. So etwas nannte man vermutlich anständiger Menschenverstand, doch für Melina und Saskia war das offenbar ein Fremdwort.
Peinliche Stille machte sich breit, als die beiden mich unverhohlen neugierig in Augenschein nahmen. "Ist es wahr?", platzte es aus plötzlich Saskia heraus.
"Ist was wahr?", gab ich betont kühl zurück, doch innerlich bebte ich vor Panik.
Kurz schaute sie verlegen drein, dann verabschiedete sie sich von jeder Hemmung und Zurückhaltung. "Na, dass du vergewaltigt wurdest!", meinte sie verwirrt und nahm einen großen Schluck von ihrer Cola.
Ich nahm nur nebensächlich wahr, wie Victoria laut nach Luft schnappte, Yoko wütend knurrte und Margot sich merklich versteifte.
Viel mehr war ich in diesem Moment mit meinem rasenden Herzen beschäftigt und darum bemüht, meine Fassung zu bewahren.
"Weil, das erzählen halt alle, weißt du . . .", fügte Liz leicht verlegen hinzu, während Melina mich kaugummikauend nicht aus ihren kleinen Schweinsaugen ließ. Damit machte sie die Sache nicht wirklich besser.
Ich wünschte mir so sehr, mir wäre egal, was die Leute von mir dachten.
Ich wünschte mir so sehr, es würde mich nicht kümmern, ob sie hinter meinem Rücken über mich redeten.
Doch ich war nicht Nikki, die es schlichtweg nicht interessierte, ob andere sie mit ihrer veganen Ernährung, ihren Büchern und ihrem Steinzeithandy für cool hielten. Ich war auch nicht Victoria, die wusste, dass sie attraktiv und beliebt war.
Ich war ich, Elinor, und mir machte es etwas auch, wenn die anderen über mich lästerten. Die anderen. Ein Haufen von Menschen, die ich eigentlich nicht mal mochte und mit denen ich genau genommen nur gezwungenermaßen in der Schule Zeit verbrachte.
Die drei starrten mich abwartend an.
Ich wünschte mir so sehr, ich könnte mich einfach umdrehen und gehen.
Ich wünschte mir so sehr, ich wäre imstande, diesen dummen Hühnern mal ordentlich die Meinung zu sagen.
Aber ich war nicht Yoko, die einfach einen Witz auf Kosten ihres Gesprächspartners riss oder mit einem lustigen und gut durchdachtem Konterspruch alle auf ihre Seite brachte. Ich war auch nicht Margot, die mit schlauen und bissigen Argumenten überzeugen konnte.
Ich war ich, Elinor, und ich brachte nicht mal eine böse Miene zustande. Mir fielen gute Kontersprüche immer erst Stunden später ein, wenn das Gespräch schon längst vorbei war und ich traurig grübelnd zu Hause an meinem Schreibtisch hockte. Ich konnte in solchen Situationen keinen einzigen klaren Gedanken fassen, geschweige denn eine clevere Antwort formulieren, um mich zu verteidigen.
"Das geht dich gar nichts an, du hohle Nuss!", fauchte Yoko und funkelte Melina an, wofür sie den Kopf ziemlich in den Nacken legen musste. Diese hielt ihren abschätzenden Blick weiter auf mich gerichtet. Ich hatte das Gefühl, dass mir der Schweiß bereits von der Stirn tropfte.
"Ähm", kam es von mir. Mehr brachte ich nicht hervor. Mit leicht geöffnetem Mund starrte ich sie an, unfähig etwas zu sagen oder mich zu bewegen.
Selbstzufrieden steckte Melina sich einen weiteren Kaugummi in ihren lila geschminkten Mund. "Also doch nicht!", meinte sie nur. "Dachte ich mir schon." Sie wandten sich zum Gehen, worüber ich eigentlich hätte froh sein müssen, doch ich merkte, dass hier irgendetwas gewaltig schief lief.
"Nein", murmelte ich verwirrt. "Ich meine, ja! Ja, ich bin vergewaltigt worden."
Wieso sagte ich so etwas? Wieso tat ich mir das an? Das hatte ich gar nicht nötig.
"Ellie, nicht!", sagte Margot laut und schaute zornig zu Melina, Liz und Saskia, die nun interessiert stehen geblieben waren. "Hör auf damit . . .", raunte sie mir aus dem Mundwinkel zu. Doch zu spät!
Der Löwe hatte bereits Blut geleckt.
Mein Blut.
Und so fühlte ich mich tatsächlich. Wie ein verängstigtes Tier, dass auf der Flucht vor dem Raubtier war. Warum zitterte ich so sehr? Warum hatte ich das Bedürfnis, mich rechtfertigen zu müssen?
"Vergewaltigt, ja? Du?", hakte Saskia nach und zog ihre künstlichen, tiefschwarzen Augenbrauen hoch. "Worauf willst du hinaus?", fragte ich langsam und mit hämmerndem Herzen. "Naja", machte sie und stämmte die Hände in ihre schmale Hüfte. "Nichts für ungut, aber nachdem du dich Samstagnacht so notgeil an Noah rangeschmissen hast, glaube ich dir kein Wort. Du willst dich doch nur wichtig machen, weil es dir peinlich ist, dass er dich hat abblitzen lassen, hab ich nicht Recht?"
Wie konnte sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen?
Wie konnte sie sich trauen, so etwas zu sagen, nach allem was ich durchmachen musste?
Wie konnte sie mir dabei auch noch so eiskalt direkt in die Augen schauen?
"Seid ihr eigentlich komplett-", fing Victoria mit gepresster Stimme an, wurde jedoch von Melina unterbrochen. "Und dann hast du Vicky gebeten, die Lüge für dich zu verbreiten, nicht wahr?", wollte sie mit zuckersüßer Stimme wissen. Aber es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Für diese drei Mädchen war bereits klar, dass ich mir das alles nur ausgedacht hatte. Sie waren nicht gekommen, um mich zu bemitleiden oder mich zu begaffen, sondern mir unter die Nase zu reiben, dass sie mir auf die Schliche gekommen waren. Man, die waren aber auch clever.
Sie glaubten tatsächlich, dass ich vorgab, von einem fremden Mann sexuell missbraucht worden zu sein. Sie dachten, ich wollte meinen gescheiterten Flirtversuch mit Noah damit in den Hintergrund drängen.
Sie konnten nicht wissen, dass ich mir heute Nacht eingepinkelt hatte. Sie konnten nicht wissen, dass ich von Alpträumen geplagt wurde. Sie konnten nicht wissen, wie oft ich mich am Tag duschen musste, um den Schmutz loszuwerden. Sie konnten nicht wissen, dass mein ganzes Leben durcheinander geraten war, angefangen von meiner Lieblingsmusik bis hinzu meiner Zukunft hatte ich alles verloren. Sie konnten nicht wissen, wie der Scham und das Gefühl, nichts wert zu sein, waren. Sie konnten nicht wissen, was ich für körperliche Schmerzen hatte. Sie konnten nicht wissen, dass mich die Panikattacken immer wieder einholten. Sie konnten nicht wissen, dass ich mir Sorgen über sexuell übertragbaren Krankheiten und eine Schwangerschaft machen musste.
Und ich würde es ihnen bestimmt nicht sagen.
Liz sah zumindest so aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, schließlich hatte ihr Opa mich gefunden. Aber dafür hätten Melina und Saskia sicher auch eine plausible Erklärung gehabt, so intelligent wie die waren: Bestimmt hatte ich mich selber schreiend vor Angst nachts auf den Waldboden gelegt. So blieb Liv still, die Hände hinter dem Rücken zusammengefaltet und den Blick verlegen auf ihre Schuhe gerichtet.
"Verschwindet endlich!", zischte Yoko. Sie hatte Wuttränen in ihren großen braunen Augen und schien kurz vor einem Ausraster zu stehen.
"Keine Sorge", erwiderte Melina nur spöttisch. "Mit Lügnerinnen und Heuchlerinnen wollen wir uns gar nicht abgeben. Und, Elinor? Glaub bloß nicht, du würdest dadurch attraktiver für Noah werden!"
Mit diesen Worten gingen sie endlich. Ich blieb betäubt zurück, umringt von mrinen Freundinnen. Mit dem Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden vor Zorn und Entsetzen, begleiteten sie mich nach draußen.
Wir setzten uns schweigend in einen Park auf die Wiese, nicht weit entfernt vom Kino.
Irgendwann merkte ich, wie mir die Tränen in die Wange herunter liefen. Yoko und Victoria gaben taktvollerweise vor, es nicht zu bemerken, doch Margot machte sich übereifrig daran, sie wegzuwischen. Dann lehnte sie ihren Kopf sachte gegen meine Schulter, den Rest ihres Körpers in einem sicheren Abstand von meinem. Es tat ganz gut.
"Nur dass du es weißt, wir glauben dir!", beteuerte Yoko. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und blieb einfach still. Dann holte sie eine Dose mit selbstgebackenen Keksen hervor. "Für dich. Das sind die Schoko-Cookies, die du so gerne magst. Die mit den weichen Stückchen", meinte sie mit einem halbherzigen Lächeln. "Danke", wisperte ich und fuhr mir über die nasse Wange.
Niemand wusste so ganz, was er zu dem Schlamassel sagen sollte. Mir war zum Heulen zumute, ich war so verwirrt. Das war alles so anders, als ich geglaubt hatte. Mir wäre ihr Mitleid jetzt lieber gewesen als die ganzen Beschuldigungen, ich hätte alles nur erfunden. Ich fühlte mich elend und so schrecklich beschämt und dreckig, dass ich am liebsten gleich ein heißes Bad genommen hätte.
"Ich würde jetzt gerne nach Hause", sagte ich automatisch. Niemand protestierte, allen stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Meine Stimme klang erstickt und gepresst, als ob etwas schweres auf meine Lungen drückte und mir die Luft abschnürte.
"Natürlich", antwortete Margot schnell und stand auf. "Ich fahre dich."
Eine Sekunde später sackte mir mein Herz in die Hose.
Scheiße.
Da waren die Jungen aus meiner Klasse.
Auf dem Gehweg, der von der Wiese zum Kino führte. Auf dem Gehweg, den wir jetzt entlang mussten. Auch den anderen war die Anwesenheit unserer Klassenkameraden nicht entgangen. Ich entdeckte auch Noah unter ihnen, unwiderstehlich wie immer . . .
"Verdammt!", stöhnte Margot. "Ich wette, Melina und Saskia haben denen Bescheid gesagt, wo wir sind!", knurrte Victoria und warf einen bitterbösen Blick in Richtung des Kinos.
Es half nichts. Zusammen und beieinander untergehakt gingen wir mit zügigen Schritten den Weg entlang. Als wir nur noch wenige Meter von ihnen entfernt waren, fingen die ersten Sprüche an.
"Na, Elinor?", fragte Oliver mit öliger Stimme. "Wurdest du heute schon vergewaltigt?" Die anderen kicherten dämlich. Es versetzte mir trotz allem einen Stich, als ich Noahs feixendes Gesicht sah.
Elias trat vor. Er war der Mutigste und leider auch der Hohlste von ihnen, eine ganz schlechte Kombination. "Lass mich doch auch mal deine Brüste sehen, Elinor!", grölte er und machte einen weiteren Schritt auf uns zu. "Wenn dass dein Vergewaltiger darf, will ich das auch!"
Prompt versetzte Yoko ihm einen kräftigen Schubs, als wir an ihnen vorbei gingen. Nicht, dass das Elias' kräftiger Brust etwas getan hätte.
"Ach, lass nur, die hat doch gar nichts zu bieten!", lachte Noah übermütig, was ihm jede Menge Lacher und Schulterklopfen einbrachte. Es ekelte mich an, wie sich seine breiten, muskulösen Schultern bei dem Lob seiner Freunde angesichts eines gemeinen Spruchs stolz nach oben reckten.
Arthur lachte am lautesten. "Aber der Hintern sieht nicht übel aus!", rief er amüsiert. Es war so widerlich und ich drohte, in Ohnmacht zu fallen.
Auf einmal bekam ich es mit der Angst zu tun. Was, wenn sie uns hinterher laufen würden? Uns weiter belästigten? Ich hatte auch so schon eine Scheißangst.
Fassungslos dachte ich darüber nach, dass sie mir nicht glaubten und ich tatsächlich wiederholen musste, dass ich ja auch wirklich vergewaltigt worden war. Als ob das eine Leistung wäre, die sie mir aberkennen wollten.
Yoko und Victoria verabschiedeten sich schweigend von uns. Bis wir an Margots grünem Smart standen, sprach niemand von uns ein Wort. Wir stiegen ein und meine beste Freundin startete den Motor.
Die Häuser und läden schienen vor meinen Augen zu verschwimmen.
Ich hatte das nicht verdient. Nein. Ich hatte nicht gelogen, ich sagte die Wahrheit! Seit der 7. Klasse kannten wir uns alle, ob wir uns mochten war die andere Frage. Aber wie konnten meine Mitschüler ernsthaft glauben, ich würde über so etwas lügen, nur weil ein Junge mich hat abblitzen lassen? Schätzten sie mich so falsch ein?
Unglaublich, dass ich mich dafür rechtfertigten musste. Noch viel unglaublicher war es allerdings, dass ich selber an mir zu zweifeln begann.
Vor Valeries Wohnung hielt Margot an. "Es tut mir Leid", sagte soe plötzlich. "Dass ich dich zu diesem Nachmittag überredet habe. Ehrlich, dass war eine beschissene Idee."
Irgendwie konnte ich nicht böse auf sie sein, dafür fehlte mir einfach die Kraft. Ich war auch nicht auf Vicky böse, weil sie so gesprächig war, oder auf Nikki, weil sie nicht erschienen war.
Ich hätte eher mich selbst verdammen können, weil ich meinen bescheuerten Mund nicht aufgekriegt hatte und mir das alles gefallen ließ. Und weil langsam in mir der Gedanke Gestalt annahm, dass es vielleicht ja doch alles meine Schuld war.
Ich winkte müde ab. "Schon gut", murmelte ich. "Danke für's Fahren."
Ich hatte bereits meine Tür geöffnet, bereit zum Aussteigen, doch Margot hielt mich zurück. "Denk immer dran", sagte sie mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen. "Die Welt ist viel größer, als wir bis jetzt glauben, es gibt so viel außerhalb des Klassenzimmers. So viel, was wir noch nicht entdeckt haben. So viel, was noch vor uns liegt. So viele Menschen, die es mehr wert sind und die wir noch kennenlernen dürfen. Nach dem Abiball musst du die ganzen Idioten nie wieder sehen!"
Die Worte würden trotzdem ihre Narben hinterlassen. Die Sprüche waren nicht vergessen.
Doch ich sagte nichts und nickte nur. Dann verließ ich den Wagen und klingelte niedergeschlagen an der Tür meiner großen Schwester.
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