Kapitel 10

(Bild: Victoria)

Margot begrüßte mich mit einem strahlendem Lächeln, ihre blauen Augen funkelten wie zwei Diamanten. Doch hinter ihrer fröhlichen Fassade verbarg sich die Unsicherheit und die ständige Angst um mich, das spürte ich sofort. Während wir die ruhigen Straßen Pankows entlang fuhren, entgingen mir weder ihre nervösen Finger am Lenkrad, noch ihre ständigen besorgten Blicke in meine Richtung.

Margot war eine gute Seele, aber ziemlich leicht durchschaubar. Ich wusste, wie viel dieses Treffen und meiner Anwesenheit ihr bedeuteten, daher war ich fest entschlossen, ihre Erwartungen zu erfüllen. Für Margot würde ich wahrscheinlich fast alles tun.

"Was gucken wir uns denn an?", fragte ich mit einer fast lächerlich schüchternen Stimme.

Margot ging dankbar auf das Thema ein und fing an, mir die oberflächliche Handlung einer niveaulosen amerikanischen Komödie mit Cameron Diaz näher zu erläutern. Schon jetzt war ich mir sicher, das Ende des Films zu kennen. "Lass mich raten", unterbrach ich sie schwach grinsend. "Vicky hat entschieden, welchen Film wir sehen, nicht wahr?" An Margots schuldbewusstem Lächeln wusste ich, dass ich richtig lag.

Für einen Moment war es wieder wie früher, Margot und ich auf dem Weg in die Stadt, in der wunderbaren Aussicht auf einen lustigen Nachmittag.

Ich malte mir aus, was ich jetzt wohl tun würde, wenn ich an diesem einen Abend zu Hause geblieben wäre. Vermutlich würde ich meine schulfreie Zeit genießen, mich mit Freunden treffen, alles notwendige für den Abiball erledigen und einer glorreichen Zukunft in Köln entgegen fiebern. Meiner glorreichen Zukunft, die nun lediglich ein längst verblasster Traum aus einem alten, vergangenem Leben war.

"Yoko hat uns ein nettes Cafè rausgesucht, direkt an der Spree!", sagte Margot, die Zunge konzentriert zwischen den Lippen, während sie das Lenkrad ihres grünen Smarts mit Schwung nach links drehte. Ich hatte weder einen Führerschein, noch ein eigenes Auto. Viel lieber fuhr ich mit der U-Bahn oder der Straßenbahn. Immer wieder genoss ich die Anonymität, die mir die zahlreichen Waggons mit all den fremden Leuten und exakt gleich aussehenden Sitzplätzen bot. Das war einfach Berlin für mich, dieses ständige Fahren in der Bahn, das hektische Rennen der Leute auf der Rolltreppe, den Coffee-To-Go-Becher noch in der Hand, ein wenig Schaum auf der Oberlippe.

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich nie im Leben auf den Gedanken gekommen, dass Pankow, diese wunderschöne, eher ruhige Gegend, zu dem lebhaften Berlin gehörte, nur wenige Stationen voneinander entfernt. Doch Berlin war eben verdammt vielfältig, und dafür liebte ich es.

Margot lebte ebenfalls in Pankow, ein paar Straßen weiter.

"Schön", antwortete ich nur und sah weiter aus dem Fenster. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass das bevorstehende Treffen mir keine Angst bereitete. Denn so war es, mir schlotterten die Knie bei dem Gedanken, in ein paar Minuten Nikki, Yoko und Victoria gegenüber zu stehen.

"Willst du Musik hören?", wollte Margot wissen, die Hand bereits an den Knöpfen des Radios. "Oh", machte ich. "Was hast du denn im Angebot?", erkundigte ich mich spaßhaft und stützte meinen Kopf auf meinen Ellbogen auf.

Schmunzelnd drückte Margot mir ihren Stapel mit CDs in die Hand, den Blick weiter geradeaus auf die Straße gerichtet. Skeptisch schaute ich mir eine nach der anderen an. Ohne Kommentar legte ich jede wieder bei Seite, nichts schien meinem Geschmack zu entsprechen. Alles neumodischer Kram, viel Soul, wenig Rock. Doch da ich Margots zarte Gefühle nicht verletzen wollte, blieb ich still, bis ich auf eine CD von One Direction  stieß. "Oh, meine Güte, wirklich? Wie alt bist du?", schnaubte ich empört. Belustigt sah ich zu, wie sie sich eilig daran machte, die CD im Handschuhfach verschwinden zu lassen und stotterte: "Das ist, ähm, also, das ist-"

"Das ist eindeutig eine Geschmacksverirrung!", beendete ich grinsend ihren Satz.

"Stimmt", meinte Margot nach einigen Sekunde mäßig begeistert. "War auch nur eine Phase, ehrlich, ich schwör's!" Feierlich hob sie ihre linke Hand zum Schwur, die rechte weiter am Lenkrad. Unwillkürlich musste ich lachen.

Laut, unbeschwert, frei.

So klang es und so fühlte ich mich tatsächlich auch, zumindest für den Moment.

Dann fiel mein Blick auf eine weitere CD, ganz unten auf dem Stapel. "Janis Joplin?", fragte ich verblüfft. "Oh, ja", erwiderte Margot knapp mit einem flüchtigen Seitenblick. "Ich mag sie ganz gern, was hältst du von ihr?" Noch während sie sprach, hatte ich die CD in die Spalte geschoben und rasch auf Play gedrückt. "Wahnsinn, ich wusste gar nicht, dass du auch gute Musik hörst!", neckte ich sie spielerisch, während die ersten Takte von Piece of my Heart  erklangen.

Als Margot umständlich ihr Auto einparkte, sah ich das Kino und die Menschenmasse davor schon von weitem. Die Gewissheit, dass die anderen auch da waren, verursachte leichte Übelkeit bei mir. "Wie klein muss dein Wagen denn noch sein, damit du es endlich schaffst, es ohne Komplikationen zum Stehen zu bringen?", zog ich sie schwach grinsend auf, als ich nach ihrem grottigem Einparkmanöver die Beifahrertür zuschlug. "Lern' du erst mal selber fahren, bevor du dir ein Urteil erlaubst, Elinor Wagner!", drohte sie mir mit erhobenem Zeigefinger, doch ein amüsiertes Funkeln lag in ihren Augen. Margot versenkte ihre Autoschlüssel in den Tiefen ihrer Jeansjacke und wir schlenderten in Richtung Eingang.

Bis jetzt lief das Treffen gar nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte. Am Ende hatte es sich eben mit Margot sogar wieder angefühlt wie früher. Vielleicht würde der Nachmittag mir ja doch helfen. Vielleicht war die Idee gar nicht so schlecht gewesen. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und schien mir ins Gesicht. Fast hätte ich Margot gedankt, dass sie mich zu diesem Nachmittag überredet hatte.

Doch zu früh gefreut.

Bereits von weitem sah ich, dass etwas nicht stimmte.

"Oh nein", murmelte nun auch Margot bestürzt und beschleunigte ihre Schritte. Beklommen folgte ich ihr in einigem Abstand, die Arme nun wieder schützend um mich selbst geschlungen. Victoria eilte auf uns zu, das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

"Elinor, hör mit zu, es tut mir Leid!", murmelte sie sofort mit beschwörender Stimme und biss sich auf die Lippe. Misstrauisch musterte ich sie und schielte unter ihrer Armbeuge hindurch. Beschwichtigend hob sie die Hände. "Ich hatte Liz und den anderen nur erzählt, dass wir uns heute mit dir treffen, davon dass sie mitkommen war nie die Rede!"

Mich packte das Entsetzen, als ich hinter der aufgebrachten Victoria auch noch Elizabeth, Leslie, Ronja, Melina, Saskia und so ziemlich jedes Mädchen aus unserer Klasse entdeckte, allesamt neugierig tuschelnd.

"Ach ja?" Wut stieg in mir hoch und ich bekam gute Lust, Victoria in ihr süßes, hübsch geschminktes Gesicht zu schlagen. "Lass mich raten. Du hattest mal wieder nichts besseres zu tun, als alle per Whatsapp mit den neusten Informationen über meinen Zustand zu versorgen. Wäre ja nicht das erste Mal!"

"Elinor . . .", sie schaute mich flehend an, doch ich versetzte ihr nur einen kühlen Blick.

"Als ich den anderen dass mit der Vergewaltigung geschrieben habe, weißt du, also, das habe ich nur gut gemeint . . .", sagte sie zögernd und fuhr sich durch ihr kurzes, blondes Haar. Ungläubig starrte ich sie an. "Wie bitte? Gut gemeint?" Ich konnte meinen Ohren nicht trauen und wurde ohne dass ich es wollte lauter, sodass sich mehrere Leute zu uns umdrehten.

Schnell suchte Victoria nach den passenden Worten: "Nein, sorry, das war blöd formuliert!"

"Allerdings", gab ich verstimmt zurück. Ich hatte noch weniger Lust als vorher auf diesen Ausflug und wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt. Schon die Gesellschaft von meinen besten Freundinnen war eine Zumutung für mich, kaum vorzustellen, wie es mit all meinen Klassenkameradinnen sein würde, von denen ich nebenbei bemerkt den Großteil noch nicht einmal leiden konnte.

"Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ernsthaft, Elinor, ich habe vermutlich gar nicht nachgedacht, als ich den anderen davon erzählt habe, ich war einfach selber so aufgewühlt und erschrocken gewesen. Es war ein Fehler, okay? Tut mir Leid", entschuldigte Victoria sich. Ich sah, dass es ihr ehrlich Leid tat und sie es tatsächlich so meinte, deshalb nickte ich knapp, als Zeichen der Versöhnung.

Vicky schaute mich betroffen an. "Und wahrscheinlich habe ich mich nur wichtig machen wollen, als ich Liz erzählt habe, dass wir uns heute mit dir treffen. Man, war das dumm von mir! Wirklich, Elinor, ich bereue es total und weiß gar nicht, wie ich es wieder gut machen kann!", redete sie weiter und kaute auf ihrer erdbeerroten Lippe herum.

Gerne hätte ich irgendetwas bissiges erwidert, doch nach noch mehr Streit war mir momentan nicht zumute. Um vom Thema abzulenken, wollte ich an Margot gewandt wissen: "Wo ist eigentlich Nikki?" Ich sehnte mich nach ihren ironischen Kommentaren und ihren verächtlichen Gesichtsausdrücken, egal wie komisch das klingen mochte.

Margot zückte mit gerunzelter Stirn ihr Handy. "Ich weiß auch nicht. Eigentlich müsste sie längst hier sein . . ." Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Sogleich setzte wieder mein bescheuerter Sorgeinstinkt ein und ich fing an, mir die schrecklichsten Szenarien auszumalen. Meine Augen wanderten immer wieder zu den Fahrradständern, da Nikki nie im Leben zur Umweltverschmutzung beitragen würde. Viel lieber fuhr sie statt mit dem Auto oder dem Bus mit ihrem Rad.

"Oh", machte Margot verwundert, den Blick weiter auf ihr Display gerichtet. Nikki hatte kein Smartphone, sondern ein steinaltes Tastenhandy ohne Internetempfang, daher schrieb sie uns meistens gar nicht oder per SMS zurück. "Was?" Sofort beugte ich mich zu ihr rüber, um einen Blick auf die Nachricht zu erhaschen.

"Sie schreibt, dass sie nicht kommen kann", meinte Margot verwirrt. "Irgendein kurzfristiger Arzttermin. Ich soll dich von ihr grüßen." Margot reichte mir wortlos ihr Handy, damit ich den Text selbst lesen konnte. Ich überflog die wenigen Zeilen, an denen nichts Verdächtiges zu finden war. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes war. Etwas, was ich nicht wusste, nicht wissen sollte, nicht wissen konnte.

Gott, es machte mich verrückt, wenn ich etwas nicht wusste. Sei es nun ein Geheimnis oder ein Rätsel - Ich konnte es nicht ab, nicht über alles bestens informiert zu sein. Für den Klatsch und Tratsch interessierte ich mich nicht sonderlich, aber ich konnte keinem Rätsel widerstehen.

In dieser Sekunde stieß Yoko zu uns. "Hey, Elinor! Margot! Vicky!", rief sie winkend und kämpfte sich durch die Ansammlung von Menschen. Da sie so klein war, trat sie gleich mehreren geschminkten Mädchen mit gefühlt hunderten von Handtaschen auf die teuren High Heels. Die empörten Blicke ignorierte sie und bahnte sich einfach weiter einen Weg durch die Menge. Wenigstens Yoko war so lieb und fröhlich wie immer. "Ich habe es echt probiert, die dummen Schnepfen wegzuschicken", schimpfte sie mit einer abfälligen Bewegung in Richtung von unseren Klassenkameradinnen. "Aber die tun tatsächlich so, als wären sie nur zufällig hier. Keine Chance, die werden dich die ganze Zeit begaffen als wärst du ein Tier im Zoo. Melina, diese-", jetzt benutzte Yoko ein Wort, bei dem Margot entsetzt 'Yoko!' rief und Victoria einen Lachanfall bekam, "-hat doch tatsächlich gemeint, ich solle mal ein paar Zentimeter wachsen, bevor ich mich traue, so mit ihr zu sprechen!"

Yoko machte ihrem Ärger Luft, indem sie wütend mit dem Fuß aufstampfte, was sie noch knuffiger aussehen ließ. Doch ich würde mich hüten, Yoko laut als 'knuffig' oder 'putzig' oder 'niedlich' zu bezeichnen - ich war ja schließlich nicht lebensmüde!

"Wir können es ihnen wohl kaum verbieten, ins Kino zu gehen, oder?", meinte ich schweren Herzens. Yoko zuckte mit den Schultern: "Also, verbieten können wir es ihnen schon, nur ob sie auf uns hören, das ist dann eine andere Frage."

Ich rang mir ein schwaches Grinsen ab und folgte den anderen ins Innere des Kinos, peinlich genau darauf bedacht, nicht in die Augen der anderen Mädchen zu schauen, als wir an ihnen vorbei gingen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top