Prolog




Die Nachtschwarze saß auf einem bemoosten Stein. Wasser plätscherte nur Mauselängen vor ihren Pfoten seicht ans Ufer.
»Die Pfade der Ranke sind verworren. Niemand kann wissen, wohin sie führen mögen, wohin die zarte Pflanze sich schlängeln mag. Selbst der Pfad den sie gekommen ist, ist unüberschaubar, verliert sich in den Pfaden so vieler anderer.« Die Kätzin regte sich kaum, als sie dies sagte.
Sie saß nur da, aufrecht, den Schweif ordentlich über ihre Pfoten gelegt und starrte auf die im Wasser vor ihren Pfoten stetig auf und ab tanzenden Algen. Der Kater tappte auf leisen Pfoten neben sie, setzte sich aber nicht. Das Ufer war ihm viel zu schlammig und nass. Der Dreck würde tagelang in seinem Pelz kleben bleiben.
Für eine Weile blieb er so neben ihr stehen und suchte nach Worten. Spürt sie überhaupt, wie die feuchte Kälte des Sees langsam in ihren Pelz kriecht, oder ist sie mit ihren Gedanken mal wieder ganz woanders, fragte er sich, als er die alte Kätzin stumm betrachtete.
Verschwommen war das Ufer durch ihren Pelz hindurch zu erkennen. Der junge Kater fand, sie glich mehr einer seltsamen Wahnvorstellung als einer Katze aus Fleisch und Blut. Erst als er sich vor einigen Monden dem SternenClan angeschlossen hatte, hatte er erfahren, dass so etwas überhaupt möglich war, ja sogar mit jeder Katze irgendwann geschah. Die mächtigen, weisen Katzen des SternenClans, die Kriegerahnen am Silbervlies, sie verschwanden einfach nach und nach, wenn niemand mehr an sie dachte. Mit den meisten dieser nebelartigen Gestalten wechselte der junge Kater kaum ein Wort. Sie waren ihm zu unheimlich mit ihren durchscheinenden Körpern.
Ihm schauderte jedes Mal bei dem Gedanken, selbst einmal zu verblassen, bis nichts mehr von ihm übrig sein würde. Jedes Mal, wenn er einer von ihnen über den Weg lief.
Nur Nacht war eine Ausnahme. Er mochte sie. Auch wenn sie seiner Meinung nach die seltsamste Katze im ganzen SternenClan war, bewunderte er sie doch dafür, dass sie immer viel mehr zu wissen schien als alle seine Freunde hier zusammen. Immer, wenn er eine Frage hatte kam er immer zu ihr, auch wenn er nicht immer aus ihren Antworten schlau wurde. Einzig und allein über das Verblassen der Kriegerahnen hatte er sie noch nie ausgefragt und von allein war Nacht auch nie damit angefangen.
Entschieden schüttelte er die Gedanken an das Verblassen ab, er war aus einem anderen Grund gekommen. Und diese Pfade der Ranke, von denen Nacht sprach, hatten wohl irgendetwas damit zu tun.

»Du sprichst in Rätseln, Nacht«, miaute er schließlich.
Die Kätzin ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Ich lebe schon so lange, habe schon so viel gesehen, dass mir meine Gedanken selbst manchmal ein Rätsel sind«, seufzte sie und sah zu ihm auf. »Solange bin ich nun schon hier, dass selbst die Katzen im SternenClan mich zu vergessen beginnen.«
Der Kater erschauderte. Die Vorstellung, er könnte Nacht eines Tages nicht mehr wiederfinden, schmerzte mehr als er es geahnt hätte.
»Du wirst nicht vergessen! Die Königinnen erzählen ihren Jungen noch immer deine Geschichte. Das werden sie immer tun«, versprach er, klang aber nicht so zuversichtlich, wie er beabsichtigt hatte.
Die durchscheinende Gestalt der Nachtschwarzen erhob sich von dem Felsen. »Es wird bald neue Geschichten zu hören geben. Außerdem ist es nur eine Geschichte. Sie steht für etwas anderes als das, was ich wirklich bin. Darin findet sich nur ein Bruchteil der Anführerin wieder, die ich war. Die Nachtstern ihrer Geschichten ist nur ein verzerrter Schatten von mir.«
»Aber ich erinnere mich auch an dich«, widersprach der SternenClan-Kater.
Nacht schnurrte und tappte in den Wald hinein. »Der SternenClan lebt aber durch die Erinnerungen der Katzen dort unten im NachtClan und im FederClan... Und noch rede ich ja mit dir.« 

Der Kater hüpfte der alten Kätzin eilig hinterher, hinein in das frische Grün des Unterholzes. »Was ist jetzt mit dieser Ranke? Betrifft das den ganzen Clan? Meine Wurfgefährten leben noch dort in deinem Clan! Ich muss es wissen!«
»Mein Clan...«, murmelte die SternenClan-Kätzin, »mein Clan... Ist er das noch? So vieles hat sich verändert. Das Territorium, das sie verlassen mussten, all die Katzen, die kamen und gingen, all die Kämpfe und der Verrat, den es gegeben hat. Und weitere Veränderung kommt auf sie zu.« Nacht war stehen geblieben, ihr Blick war in die Ferne gerichtet.
Der Kater strich unruhig um sie herum.
»Nun sag doch endlich, was dich so bewegt! Ständig redest du von Pfaden und Ranken und Veränderungen. Ich fühle mich, als hätte ich Hummeln im Hirn, die alle durcheinander schwirren. Du weißt doch, dass etwas geschehen wird! Sage mir doch einfach, was es ist! Kann es für Lärchenflamme und Eismond gefährlich werden?«, drängte er, blieb stehen und begann mit seinen Krallen Moosfetzen aus dem Waldboden zu reißen.
Nacht wirbelte zu ihm herum. »Ich kenne die Vergangenheit der Clans, nicht aber ihre Zukunft. Ich kann mehr sehen, als die Katzen auf dem Erdboden, doch ich weiß nicht alles. Gewöhne dich an den Gedanken, Dachspfote: Auch der SternenClan ist nicht allmächtig.«
»Dann werde ich es eben selbst herausfinden!«, fauchte Dachspfote trotzig und rannte zwischen den mächtigen Bäumen davon. 

»Du wirst nichts herausfinden können! Diese Schülerin ist zu unentschlossen. Der Pfad, den sie gekommen ist, ist zu verworren. Und selbst, wenn du alles durchschaust, wird die Wahrheit große Macht haben. Und Macht ist wie Glut in deinen Pfoten. Sie ist kann unglaublich faszinierend sein, doch gib acht, dass du nichts damit verbrennst!«
Dachspfote hielt inne, wirbelte herum. Sein Blick zuckte durch den Wald, bis er die Gestalt der schwarzen Kätzin, durchscheinend wie Nebel, zwischen den Bäumen ausmachte, wie sie auf ihn zu tappte. »Du musst verstehen, dass der SternenClan nicht alles weiß. Manches ist eben unvorhersehbar. Es gibt so viele Pfade, die sich vor der Ranke eröffnen, doch die Dunkelheit wird dafür sorgen, dass ihr Weg den des Blutes kreuzt.«
Dachspfote knurrte nur verärgert. Wieso konnte die große Gründerin des NachtClans nicht einmal klar und deutlich sagen, was sie dachte? Vor einigen Blattwechseln, als er noch ein junger Schüler des NachtClans gewesen war, hatte ihr Anführer, Eibenstern, einmal eine Prophezeiung erhalten. Dachspfote hatte zufällig mitbekommen, wie er mit Regenpelz, damals noch zweite Anführerin, darüber gesprochen hatte. Kurz darauf waren Eibenstern, viel zu viele Krieger und eben auch Dachspfote selbst in einem Kampf gegen eine Streunerbande gestorben. Jedoch hatte der Clan gesiegt, die Streuner vertrieben und Regenpelz war zu Regenstern geworden. Nun konnte er sich gut vorstellen, dass Nacht Eibenstern die Prophezeiung damals überbracht hatte. Sie war genauso unverständlich gewesen wie das, was Nacht jetzt von sich gab.
Als er noch ein junger NachtClan-Schüler gewesen war, vor seinem Tod, da hatte Dachspfote gedacht, wenn er einmal in den SternenClan kam, würde er den Sinn dieses wirren Geredes immer gleich verstehen, aber in der Hinsicht hatte sich nichts verändert. 

Nacht seufzte. »Gut, dann geh und suche nach der Wahrheit. Aber wenn du sie findest, gehe nicht zu leichtfertig mit deinem Wissen um.«
Sie sah dem schwarz-weißen Kater nach, bis seine Schwanzspitze im Unterholz untergetaucht war, dann kehrte sie um, lief zurück zu dem Teich, ließ sich nieder auf ihren Stein und betrachtete die tanzenden Algen. Noch lange saß sie so da, völlig regungslos, wie zu Stein erstarrt, doch ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um das ungewisse Schicksal des Clans, den sie vor so vielen Blattwechseln gegründet hatte.

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