8. KAPITEL

Es schien, als könne Hagelpfote gar nicht mehr damit aufhören, Drohungen in das Schilfgras zu brüllen. Klippenpfotes Schwester watete immer weiter und weiter in den Fluss hinein, sodass sie jetzt schon bis zum Bauch im Wasser stand. Währenddessen behielt der junge Kater das Ufer links und rechts von ihnen im Auge, um sicherzugehen, dass der geheimnisvolle Fremde ihnen nicht einfach auswich, indem er ein paar Baumlängen weiter schwamm und dann erst an Land ging. Neben ihm hatte sich Rankenpfote zusammengekauert und starrte mit ängstlich gesträubtem Fell und weit aufgerissen Augen auf die Stelle, an der Hagelpfote gerade im Schilf verschwand.

Bald war von ihr nur noch ab und zu ein kurzes Aufblitzen ihres weißen Pelzes zwischen den Pflanzen am Flussufer zu erkennen. Aber noch brauchte sich Klippenpfote keine Sorgen um seine Schwester zu machen, auch wenn er sie nicht immer sehen konnte, den wüsten Beschimpfungen nach zu urteilen, die zu ihm hinüber drangen. So langsam begann er sich zu fragen, wie viele Varianten von »Du dämliches Mäusehirn« ihr noch einfallen würden.

Einen Augenblick später verstummte Hagelpfote jedoch. Ein lautes Platschen war zu hören und kleine Wellen, die ans Ufer schwappten, zeugten von hektischer Bewegung, als gebe es dort einen Kampf.

Warum bin ich ihr nicht gleich gefolgt?, ärgerte sich Klippenpfote, Was wenn ihr etwas geschieht?

»Behalte das Ufer im Auge«, flüsterte er Rankenpfote zu, die beim Klang seiner Stimme zusammen zuckte, dann preschte er auf das Wasser zu. »Hagelpfote! Geht es dir gut?«

»Ja!« Hagelpfotes Stimme klang undeutlicher und leiser als eben. »Ich habe einen Fisch gefangen!«

Einen Fisch, wunderte sich Klippenpfote ein wenig verärgert. Wie kann meine Schwester in dieser Situation nur ans Fressen denken? Wir werden verfolgt und sie lässt sich von einem dämlichen Fisch ablenken.

»Komm da raus, Hagelpfote!«, ertönte Rankenpfotes zittrige Stimme neben ihm, »Du solltest da vorn nicht allein sein! Wenn diese Katze dich angreift, können wir dir nicht schnell genug helfen.«

Hagelpfote gab irgendwo inmitten des Schilfs einen Laut von sich, der durch die Beute in ihrem Maul nicht unbedingt leichter zu verstehen war. Zustimmend klang er jedenfalls nicht. Dennoch tauchte die Schülerin nur Herzschläge später mit einem fetten Fisch vor ihnen auf. 

»Da war niemand, nicht einmal ein Hauch eines Geruchs an den Schilfpflanzen, einfach nichts!«, berichtete sie mit leuchtenden Augen. »Abgesehen von diesem Stück Frischbeute.« Sie nickte in Richtung des Fisches, den sie den anderen beiden vor die Pfoten geworfen hatte. Anschließend musterte sie zuerst die noch immer verängstigt den Schilf beobachtende Rankenpfote, sowie Klippenpfote, der sich fragte, was um alles in der Welt manchmal in dem Kopf seiner Schwester vorging.

»Ihr müsst doch zugeben, dass es ein großartiger Fang ist! Davon können wir alle drei unsere leeren Mägen füllen. Ist doch super!«

Klippenpfote seufzte. »Ich glaube nicht, dass unser Verfolger noch da ist, ansonsten hätten wir ihn sicher bemerkt. Wenn er nicht völlig mäusehirnig ist, hat er sich mittlerweile aus dem Staub gemacht. Genügend Gelegenheiten hatte er dazu ja.« Und mit einem Blick auf Hagelpfotes Beute fügte er hinzu: »Mit dem Essen sollten wir allerdings noch etwas warten, vielleicht schaffen wir es dann, ihn abzuhängen.«

Etwas Wiederwillen lag in Hagelpfotes Blick, als sie sich die Beute schnappte und voran stapfte. »Gut, dann sollten wir aber jetzt sofort los!«, miaute sie kurz angebunden.

Klippenpfote überlegte einen Moment. Es wäre sicherlich leicht für die fremde Katze gewesen, ihrer Geruchsspur weiterhin zu folgen, wenn sie es jetzt nicht schafften, das zu verhindern.
»Warte«, rief er seiner Schwester nach, »Wir sollten unsere Pelze mit Schlamm bedecken, um nicht gerochen zu werden. Ansonsten ist uns unser Verfolger sicher bald wieder dicht auf den Fersen.«

Während Rankenpfote eifrig nickte und als erste auf eine matschige Stelle am Flussufer zu tappte, zischte Hagelpfote nur: »Soll er doch kommen und sehen, was er davon hat! Ich werde ihm das Fell über die Ohren ziehen.«

Dennoch folgte sie Klippenpfotes Aufforderung und sogar der Fisch bekam ein paar Pfoten voll Schlamm ab, weshalb Klippenpfote schon bei dem Gedanken, ihn essen zu müssen, angeekelt das Gesicht verzog.

***

Abermals warf Rankenpfote einen hastigen Blick über die Schulter zurück.

»Und? Ist da jemand?«, wollte Klippenpfote wissen und zog das Tempo noch weiter an. Er ging davon aus, dass die fremde Katze im Fluss schwimmend entkommen war. Doch sicher würde sie die Verfolgung schnellstmöglich wieder aufnehmen und Klippenpfote wollte zu diesem Zeitpunkt so weit wie möglich weg sein. Zwar hatte er keine Angst vor einem offenen Kampf, aber das unberechenbare Auftauchen und Verschwinden des Fremden machte ihn nervös. Er hasste es, die Dinge nicht richtig einschätzen zu können und im Unwissen zu bleiben.

Der mittlerweile getrocknete Schlamm machte es unmöglich sich allzu viel zu bewegen, wenn man nicht wollte, dass er vom Fell abbröckelte. So stolperte Klippenpfote mit den steifen Bewegungen eines Ältesten und gleichzeitig bemüht, schnell zu sein, dahin.

Neben ihm vergewisserte sich Rankenpfote mit einem weiteren Blick nach hinten, dass sie noch in Sicherheit waren. Erst als sie auf einmal stehen blieb, sah sich auch Klippenpfote um. Hagelpfote war hinter den beiden weit zurück gefallen, sodass Klippenpfote notgedrungen ebenfalls auf sie wartete. Der Schüler konnte die Anspannung bei seiner Reisegefährtin noch immer spüren und musste zugeben, dass auch er hinter jedem Strauch, jeder Pflanze auf den Wiesen der Zweibeiner und jedem Baum eine Katze mit blaugrünen Augen, scharfen Krallen und spitzen Zähnen vermutete, während ein anderer Teil von ihm ihn ermahnte, Ruhe zu bewahren und sich nicht so leicht verrückt machen zu lassen.

»Wartet doch auf mich«, keuchte Hagelpfote, als sie nur noch wenige Fuchslängen entfernt war. Noch immer war sie diejenige, die den Fisch schleppte, der sogar noch ein Stück größer war als ein fettes Kaninchen.

»Soll ich dir deine Beute eine Weile abnehmen?«, bot Klippenpfote an, doch Hagelpfote schüttelte den Kopf.

»Niemals! Das ist meine Beute!«, entrüstete sie sich, wobei sie wegen dem Fisch in ihrem Maul kaum zu verstehen war.

Klippenpfote wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr zu widersprechen und gab sich geschlagen: »Na schön. Dann essen wir ihn eben jetzt. Ich glaube, wir sind mittlerweile weit genug gegangen. Danach sollten wir die Reste aber vergraben, um keine Spuren zu hinterlassen.«

Sofort wirkte Hagelpfote wieder zufriedener, ließ den Fisch auf den Boden fallen und spuckte eine Ladung Schlamm aus. Besonders appetitlich sah die Beute nicht aus, fand Klippenpfote, da Hagelpfote sie ja zwecks Geruchsüberdeckung mit Dreck beschmiert hatte. Vorsichtig begann er mit einer Pfote Sand, Erde und Kies von dem schuppigen Körper zu streichen. Währenddessen beugte sich Rankenpfote vor und schnupperte misstrauisch an ihrem Essen. Der NachtClan fing keine Fische. Der einzige kleine Teich in ihrem Territorium war viel zu klein dafür und so hatte noch keiner der drei diese Art von Beute jemals probiert. Natürlich war Hagelpfote nun die erste, die von ihrem Fang kostete.

»Und?«, fragte Rankenpfote ihre Freundin.

»Schmeckt köstlich«, miaute die, jedoch war es für Klippenpfote unschwer zu erkennen, unter welcher Anstrengung seine Schwester die ungewohnte Mahlzeit hinunter würgte.

Das belustigte Schnurren blieb ihm in der Kehle stecken, als er daran dachte, dass das Fischfleisch mit den kleinen, zwischen den Zähnen knirschenden Sandkörnchen, das einzige war, was seinen Magen im Moment füllen konnte.

***

Etwas später war die Beute verzehrt und die Reste im Erdreich verscharrt. Klippenpfote lag immer noch der Geschmack des Fisches auf der Zunge und ihm war eindeutig klar, dass ihm Vögel, Mäuse und Eichhörnchen besser schmeckten. Aber wenigstens war sein Magen jetzt nicht mehr ganz so leer.

Die Sonne hatte inzwischen ihren Höchststand am Himmel erreicht und beschien die Gipfel der Berge, die während der letzten Sonnenaufgänge ihrer Reise immer und immer näher gerückt waren. Schon von weitem, als sie nur eine dunkle Silhouetten vor dem Himmel gewesen waren, war Klippenpfote von ihrer Größe beeindruckt gewesen, doch aus der Nähe sahen sie noch viel gigantischer aus. Irgendwo dort oben in den eisigen Höhen der riesigen Felsmassive musste der Fluss, dem sie nun schon so lange folgten, als winziger Rinnsal entspringen. Um Klippenpfote herum wurden die Hügel allmählich immer höher und nur eine Baumlänge vom Wasser entfernt begann ein Zweibeinerort.

Auf der anderen Seite des Flusses ragte eine steile Felswand auf, sodass Klippenpfote den Blick hoch oben in den Himmel richten musste, um am oberen Ende die Kiefern und Fichten zu erkennen.

Hinter der nächsten Flussbiegung wartete dann eine steile Anhöhe auf die Schüler. Sie sah aus, als sei sie von den Zweibeinern aufgeschüttet worden, denn an der höchsten Stelle des Hügels führte eine Zweibeinerbrücke ans andere Flussufer. Außerdem wehte ihnen der schwache Geruch eines Donnerweges entgegen.

»Viele Monster können hier nicht entlang kommen«, bemerkte Hagelpfote, die als erste oben ankam. Genau wie Klippenpfote erwartet hatte, stand sie am Rand einer dunklen, harten Fläche, aus der die meisten größeren Donnerwege bestanden. Diesmal musste Klippenpfote seiner Schwester ausnahmsweise Recht geben: Auch wenn sie eben erst an einem Zweibeinerort vorbei gekommen waren, schien hier schon seit einiger Zeit kein Monster mehr entlang gerast zu sein. Ihr Gestank war inzwischen ganz schal geworden und in breiten Rissen in der schwarzen Fläche wucherten hohe Gräser. Gerade als Hagelpfote die ersten Schritte über den Donnerweg wagte, fiel Klippenpfote etwas an der anderen Seite des Flusses ins Auge.

»Sieh dir das an!«, miaute er, woraufhin Hagelpfote mitten auf dem Donnerweg stehen blieb und sich neugierig umschaute.

Ein langer Riss in der Felswand, nicht weit entfernt vom gegenüber liegenden Ende der Zweibeinerbrücke hatte Klippenpfotes Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er reichte von knapp oberhalb der Wasseroberfläche bis ganz nach oben hin, sodass man, wenn man zwischen den Kiefern und Fichten entlang wanderte und nicht aufpasste, Gefahr lief, einfach hinein zu stürzen. Es war schwer zu sagen, wie weit sich der Spalt in das Gestein hinein zog, denn nach hinten hin verlor er sich in dunklen Schatten.

In dem Moment, in dem Klippenpfote den Riss entdeckt hatte, waren ihm die Worte seiner Anführerin von ihrem letzten Morgen im Lager durch den Kopf geschossen. Euer Ziel liegt in einer Höhle in der Nähe des Flusses. Ihr werdet sie nicht verfehlen.

Zwar war das dort drüben eher eine Schlucht als eine Höhle, aber wer wusste schon, was sich da noch alles jenseits der dunklen Schatten befand. Zudem hätten sie die Schlucht wirklich nicht verfehlen können, wenn sie nicht schon einmal den Fluss überquert hätten, nachdem Hagelpfote fast hinein gestürzt war.

»Na toll, ein Felsspalt. Und was soll das jetzt? Lass uns weiter einfach weiter gehen«, Hagelpfotes Stimme klag gelangweilt. Anscheinend hatte sie den Zusammenhang mit Regensterns Wegbeschreibung noch nicht bemerkt.

»Ich glaube, wir sind am Ziel«, erklärte Klippenpfote, »Wir müssen nur noch über diese Zweibeinerbrücke rüber.«

»Dann ist das die Höhle von der Regenstern gesprochen hat?«, miaute Rankenpfote.

»Ich glaube schon.«

Auf dem Donnerweg machte Hagelpfote einen Freudensprung. »Endlich! Wir werden gleich Krieger sein!«, rief sie und stürmte über die Zweibeinerbrücke davon.

Klippenpfote verdrehte die Augen, denn offensichtlich vergaß Hagelpfote, die jeden Tag auf Kampf- und Jagdtraining bestanden hatte, gerade in diesem Moment, dass sie erst noch eine Prüfung zu bestehen hatten.

»Na dann wollen wir ihr mal folgen, wer weiß, in welche Schwierigkeiten sie sonst wieder gerät«, schnurrte er und stupste Rankenpfote an. Die Schülerin blieb jedoch mit gesträubtem Fell stehen und bewegte sich keine Schnurrhaarbreite weit. Schon als das Hauskätzchen Cookie sie vor einigen Sonnenaufgängen durch den Zweibeinerort geführt hatte, war Klippenpfote ihre große Furcht vor Donnerwegen aufgefallen. Natürlich fürchtete jede Katze, die auch nur einen Funken Verstand besaß, die Donnerwege, doch so extrem wie bei Rankenpfote war es bei keiner Katze, die Klippenpfote kannte. Wahrscheinlich liegt das an dem Tod ihrer Mutter, die von einem Monster erwischt worden ist, vermutete der Schüler.

»Keine Angst, da kommt kein Monster. Es ist weder zu sehen, noch zu hören und wenn wir achtsam sind, könnten wir notfalls immer noch ausweichen«, versuchte Klippenpfote die Schülerin zu beruhigen.

Diese nickte und folgte Klippenpfote endlich auf den Donnerweg und über die Zweibeinerbrücke.

Die drei Schüler folgten dem Riss im Boden durch den Nadelwald. Schon nach wenigen Fuchslängen hatten sie die Bäume hinter sich gelassen und standen vor einem weiteren Zweibeinerort. Glücklicherweise fanden sie am Ede des Felsspaltes einen schmalen Pfad, der hinab in die Tiefe führte. Besonders Vertrauen erweckend sah der Weg nicht aus und als Klippenpfote hinter seiner Schwester hinab kletterte, lösten sich alle paar Schritte kleine Steinchen unter seinen Pfoten. Das leise Poltern, das sie beim hinabrollen verursachten, hallte tausendfach zwischen den Felswänden wieder, bis es ganz verzerrt und kaum noch wiederzuerkennen war.

Klippenpfote fragte sich, wieso die Prüfung unbedingt an solch einem Ort stattfinden musste.
Wie weit es wohl noch ist? Vorsichtig beugte er sich über den Abgrund und versuchte einen Blick auf den Grund des Felsspaltes zu erhaschen. Sofort wurde ihm klar, dass dies ein großer Fehler gewesen war, denn als er den Boden tatsächlich weit, weit unten erkannte, wurde er von einem Schwindelgefühl erfasst. Schnell drückte er sich wieder an die Felswad und starrte von da an nur noch angestrengt auf den Pfad vor seinen Pfoten. Einmal von einer Klippe zu fallen, reichte ihm eindeutig.

Zum Glück tauchte einige Mauselängen weiter ein Tunnel neben ihnen auf, der von dem tiefen Abgrund weg führte. Erleichterung machte sich in ihm breit, denn er wurde die Angst, in die Tiefe hinab zu stürzen einfach nicht los, solange er nur wenige Mäuselängen vom freien Fall trennten.

»Versuchen wir es dort«, schlug Klippenpfote vor.

Eine Weile hallte nur das entfernte Tropfen von Wasser durch den Tunnel, sowie die Schritte der drei Schüler. Doch dann kam es Klippenpfote auf einmal so vor, als würden sich auch die Schritte einer vierten Katze darunter mischen. Auch wenn er sich sagte, dass er es sich sicher nur einbildete, blickte er sich vorsichtshalber um. Nur drang so wenig Licht bis hier unten vor, dass er gerade mal Hagelpfotes weißen Pelz vor ihm erkennen konnte.

Viel zu lange setzte sich der Weg durch die Dunkelheit fort, bis in der Ferne schließlich ein Lichtschimmer zu sehen war.

»Da hinten ist was!«, miaute Hagelpfote und preschte voraus. Auch Klippenpfote und Rankenpfote stürmten ihr hinterher.

Allmählich konnte der Schüler erkennen, woher das Licht kam. Der Tunnel endete in einer großen Höhle. Die gegenüberliegende Höhlenwand lag so weit entfernt, dass das Lager des NachtClans dreimal hier hinein gepasst hätte und die Höhlendecke so weit oben, dass ein ausgewachsener Baum niemals mit seinen Zweigen daran stoßen würde. Ein Sonnenstrahl fiel durch ein winziges Loch hinein. Sein Licht brach sich in den vielen Wassertröpfchen, die von einem Wasserfall eines unterirdischen Flusses in die Luft aufgewirbelt wurden.

Wie angewurzelt blieb Klippenpfote stehen. Nicht etwa, weil der Anblick der Höhle so atemberaubend war, sondern weil ihm von einem Felsvorsprung aus ein Augenpaar entgegen blickte. Von hinten schlidderte Rankenpfote in ihn hinein, sodass sie beide aus dem Tunnel heraus in die Höhle stolperten.

»Was für ein würdevoller Auftritt«, ertönte die laute Stimme eines Katers. Das Augenpaar bewegte sich und eine Gestalt löste sich aus den Schatten.

»Du!«, schrie Hagelpfote ihr entgegen. »Du hast uns die ganze Zeit über verfolgt!«

»Ich bin beeindruckt von eurer Achtsamkeit, vielen vor euch konnte ich die ganze Zeit über verborgen bleiben.« Die Gestalt sprang von ihrem Felsvorsprung und tappte in den Lichtkegel des Sonnenstrahls. Trotzdem schien sie verschwommen wie ein Schatten, sodass Klippenpfote glaubte, seine Augen würden ihm einen Streich spielen.

Der fremde Kater sprang auf einen Stein neben dem Wasserfall. »Tretet näher, Schüler des NachtClas.«

Woher weiß er, dass wir aus dem NachtClan stammen? Ist er uns etwa schon so lange gefolgt?
Klippenpfote kam nicht dazu, seine Fragen zu stellen, denn Hagelpfote war schneller: »Du hast uns gar nichts zu befehlen, Fremder! Viel eher bist du uns eine Erklärung schuldig.«

Dennoch tappte sie auf den Kater zu, wobei ein leises Klacken bei jedem Schritt verriet, dass sie die Krallen ausgefahren hatte.

»Habt ihr es denn noch nicht erkannt?«, wollte der Fremde wissen. »Ich bin die Geisterkatze, die euch eure Kriegernamen geben sollte.«

Klippenpfote schnaubte leise. Geisterkatze! Das klingt genauso verrückt wie der SternenClan! Wer auch immer dieser Kater war, in einem Punkt war sich Klippenpfote sicher: Er war nichts weiter als ein gewöhnlicher Kater, abgesehen davon, dass er die wichtige Aufgabe übernommen hatte, die Krieger zu ernennen. Aber warum ist er uns die ganze Zeit gefolgt? Warum mussten wir überhaupt bis hier her kommen, um von ihm geprüft zu werden?

Als er näher kam, lenkte ihn eine Beobachtung von seinen Gedanken ab: Durch den Körper des Fremden hindurch schimmerten die Felsen der Höhle. Sein Blick huschte weiter zu Hagelpfote und Rankenpfote. Die beiden wirkten kein bisschen verwirrt, oder verunsichert. Sicher war er der einzige, dem es so vorkam, als könnte er durch diese Geisterkatze, wie sie sich nannte, hindurch sehen. Es konnte nur eine Einbildung sein, es musste so sein.

»Die Geisterkatze?«, Hagelpfotes überraschtes Miauen riss ihn aus seinen Gedanken. »Wirklich? Bekommen wir jetzt unsere Kriegernamen? Wann beginnt die Prüfung? Jetzt? Was müssen wir tun?«

»Nein«, schnurrte der fremde Kater, wobei Klippenpfote sich nicht ganz sicher war, auf welche Frage er da antwortete, »ich glaube, ich habe euch einiges zu erklären.«

»Sag ich doch!«, unterbrach ihn Hagelpfote, doch der Kater fuhr unbeirrt fort: »Vor langer, langer Zeit erhielt ich von Nachtstern, der Gründerin eures Clans, den Auftrag, junge Schüler wie euch zu prüfen. Es sollte sichergestellt werden, dass ihr mit anderen zusammenarbeiten könnt und euren Clanmitgliedern treu seid, auch wenn gerade kein Mentor oder Anführer hinschaut. Denn dies sind die Fähigkeiten, die ein guter Anführer braucht und nur nach Bestehen der Prüfung kann euch Ehre, einen Clan anzuführen, zuteilwerden. Deshalb habe ich euch auf euer Reise beobachtet, um zu beurteilen, ob ihr diese Voraussetzungen erfüllt.
Je weiter ihr euch dieser Höhle genähert habt, desto länger konnte ich euch am Stück sehen, bevor mein Geist wieder hierher zurückkehren musste. Ich bin schon viel länger an diesen Ort gebunden, als eure Clans existieren. Aber auch ihr habt immer mehr von mir sehen können. Zuerst habt ihr mich überhaupt nicht wahrgenommen, dann habt ihr meine Augen entdeckt und schließlich konntet ihr eben im Tunnel meine Schritte hören.«

Seine Rede schien kein Ende zu nehmen und klang einstudiert, als hätte er sie schon oft gehalten. Trotzdem hörte Klippenpfote aufmerksam zu, auch wenn er dem fremden Kater in einigen Punkten nicht ganz glaubte.

Doch der hatte noch gar nicht geendet. Seine Augen richteten sich auf Klippenpfote und Rankenpfote, bevor er weiter sprach: »In dem Moment, in dem ihr beiden in die Höhle getaumelt seid, war die Prüfung für euch beendet. Denn das ist der eigentliche Sinn dieser Reise: Nur so kann ich bewerten, ob ihr genug Loyalität besitzt, um einen Clan anzuführen, oder ob ihr eure Freunde hintergehen, die Macht mit Gewalt ergreifen und den Clan als Anführer zu Grunde richten würdet.«

Hagelpfote war schon lange vor dem Stein angekommen, auf dem die Geisterkatze thronte und fragte nun: »Und? Habe ich die Prüfung bestanden?«

»Immer mit der Ruhe« miaute der Kater. »Zuerst sollten die anderen beiden vortreten.«

Klippenpfote und Rankenpfote waren stehen geblieben, als der Fremde zu sprechen begonnen hatte und legten jetzt die letzte Baumlänge zurück, die sie noch von Hagelpfote trennte.

Nun bestand kein Zweifel mehr. Nur zwei Fuchslängen von ihm entfernt hatte sich die Geisterkatze auf dem Felsen hingesetzt. Wenn die Sonne auf seinen Pelz schien, ging ein leichter bläulicher Schimmer davon aus. Ansonsten war er grau und tatsächlich durchsichtig wie Nebel. Sein Körper schien keine klare Begrenzung zu besitzen, verschwamm einfach mit der Luft der Umgebung. Nur seine Augen und Krallen sahen aus wie die jeder anderen Katze, wodurch der Eindruck entstand, sie würden in der Luft schweben.

Ich muss träumen, war Klippenpfotes einzige Erklärung für all dies, obwohl er sich im selben Moment bewusst war, dass er wirklich hellwach in dieser Höhle stand. Oder das ist tatsächlich nichts weiter als eine Nebelschwade mit einer seltsamen Form und der Kater, dem diese Stimme gehört, versteckt sich hinter irgendeinem Felsen... Aber seine Augen, sie wirken so real! Vorsichtig trat er näher, landete mit einem Satz neben der merkwürdigen Erscheinung auf dem Stein und streckte die Pfote nach ihr aus.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Dass er auf Wiederstand traf? Dass sich vom Nebel feine Tautropfen auf seinen Pelz legen würden? Ohne, dass er auch nur das geringste bisschen Kraft aufwenden musste, verschwand die Pfote des Schülers inmitten des seltsamen Nebels. Jedoch wurde sie augenblicklich so kalt, als hätte Klippenpfote in der Blattleere von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einem Schneehaufen gestanden. Erschrocken jaulte er auf und zog seine Pfote zurück.

Das hier ist ein Traum, schoss es ihm wieder und wieder durch den Kopf. Nur ein Traum. Es kann gar nicht anders sein! 

»Klippenpfote. Auch wenn du nicht an den SterenClan glaubst, kannst du ein guter Krieger werden«, begann die Geisterkatze, ohne die Verwirrung des Schülers zu beachten. »Du hast alles gegeben, um deine Schwester zu retten, als sie fast in den Fluss gestürzt ist und gute Ideen entwickelt. Dies ist äußerst lobenswert, auch wenn keiner deiner Pläne so funktioniert hat, wie er sollte. Versprichst du, das Gesetz der Krieger auch weiterhin zu befolgen und deinen Clan zu verteidigen, selbst wenn es dein Leben kostet?«

Der junge NachtClan-Schüler hörte gar nicht richtig zu. Wenn er aufwachte, würde er sowieso wieder nur Klippenpfote heißen. Plötzlich waren aber alle Augen abwartend auf ihn gerichtet. Kurz rief er sich die letzten Worte dieser Geisterkatze - dieser bizarren Gestalt aus Nebel in einem Traum - ins Gedächtnis und miaute ein leises »Ja.«.

»Dann werde ich dir jetzt deinen Kriegernamen geben. Dein Name wird Klippenfall sein. Er soll dich daran erinnern, dass es nicht heißt, etwas würde nicht existieren, nur weil du es nicht sehen kannst. Denn ich war bei dir, als du bei dem Versuch, Hagelpfote zu retten, in die Schlucht gefallen bist, auch wenn du es nie für möglich gehalten hättest, dass es mich gibt. Und auch deine Ahnen im SternenClan haben in diesem Moment sicherlich über dich gewacht, selbst wenn du nicht an sie glaubst.«

SternenClan, dachte der junge NachtClan-Kater, oder Geisterkatzen, egal, ist sowieso alles das gleiche. Das sind nur hartnäckige Hirngespinste.

Für einen Moment schloss er die Augen, um seine Gedanken wieder zu ordnen. Das hier kann wirklich nur ein Traum sein. Zwar einer, der sich verdammt echt anfühlt, aber immer noch ein Traum. Alles andere ergibt überhaupt keinen Sinn! In Wahrheit liege ich in einem gemütlichen Nest und schlafe. Eigentlich heiße ich auch noch immer Klippenpfote. Genauso, wie es keine Katzen gibt, durch deren Körper man hindurch sehen kann! Die Unsicherheit wegen unseres Verfolgers muss bis in meine Träume vorgedrungen sein und nun sehe ich seine Augen schon inmitten von katzenförmigen Nebelschwaden dahin schweben! 


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