4. Special - Wie Blätter im Wind
16 Monde und 25 Sonnenaufgänge
bevor Hagelsturm, Rankensee und Klippenfall ihre Reise zur Geisterkatze angetreten haben...
Wie Blätter im Wind
~viertes Special~
»Darf ich reinkommen?« Storm war bis zum Eingang des Heilerbaus geschlichen und spähte vorsichtig hinein. Allerdings konnte sie nicht viel erkennen.
»Was fällt dir ein?!« Aus dem Inneren ertönte ein Fauchen. Einen Herzschlag später trat eine schwarze Kätzin mit weißer Musterung auf Storm zu. »Du bist daran schuld, dass Eibenstern um sein Leben kämpft. Nur der SternenClan weiß, ob er diesen Bau je wieder verlassen kann! Wenn es nach mir ginge, hätten wir dich schon längst verbannt und das wäre noch ein gnädiges Urteil gewesen. Verschwinde von hier!«
Kurz zögerte Storm, doch dann tat sie, was Elsterblüte verlangte. Jetzt, wo die Schlacht bereits einige Sonnenaufgänge zurücklag, fragte sie sich, was nur über sie gekommen war. Sie hatte Dachspfote getötet und Eibenstern schwer verletzt. Wie hat es dazu nur kommen können?
Was würde geschehen, wenn auch ihr Anführer starb? Regenpelz hatte die Entscheidung über Storms Bestrafung auf den Tag verschoben, an dem sich Eibensterns Schicksal entscheiden würde. Falls der Anführer seine Verletzungen nicht überlebte, so fürchtete Storm, würde sie noch alles verlieren.
Verfolgt von Elsterblütes Blicken zog sie sich vom Heilerbau zurück und tappte durch die Schatten am Rande des Lagers in die Richtung ihres Baus. Mohnregen und Pfützenschimmer, die zu ihrer Bewachung eingeteilt waren, schlichen in einiger Entfernung hinter ihr her. Keiner der beiden sprach, beide wirkten konzentriert, als fürchten sie, Storm würde jeden Augenblick versuchen zu flüchten.
Als wenn ich so blöd wäre. Mäusehirne!, ärgerte sich Storm. Selbst wenn ich vorhätte, von hier zu verschwinden, würde ich das bestimmt nicht jetzt tun. Das Lager ist voll von Katzen, ich hätte keine Chance.
Überall unter der großen Linde, vom Stamm in der Mitte des Lagers bis hin zu den Bauen unter den auf den Boden herabhängenden Ästen am Rand, leuchteten Katzenaugen im Halbdunkel. Einige Fuchslängen weiter entfernt konnte sie durch die beinahe kahlen Zweige hindurch noch mehr NachtClan-Katzen auf der Lichtung vor dem Pelzbaum erkennen.
Im Gegensatz zu Mohnregen und Pfützenschimmer wirkten sie vollkommen unbekümmert, wie sie einander die Zunge gaben oder sich über ihre letzte Patrouille unterhielten, wenn man einmal von einem gelegentlichen besorgten Blick zum Heilerbau absah. Erst als sie Storm bemerkten, wurde die Stimmung im Lager getrübt. Man merkte es an dem leisen Fauchen hier und dort, gesträubtem Nackenfell und der Art und Weise wie die Gespräche der Katzen verstummten, sobald Storm an ihnen vorüber kam.
Es war eine stille Feindseligkeit. Niemand sprach laut aus, was alle dachten. Noch nicht. Doch das war nur eine Frage der Zeit. Natürlich hatten Storms ehemalige Clangefährten sie schon verbannen wollen. Aber was sie auch gesagt hatten, Regenpelz hatte die Entscheidung stets aufgeschoben und letztendlich blieb dem Clan nichts anders übrig als dem Befehl der Zweiten Anführerin zu gehorchen.
Kann sie sich mit ihrem Urteil nicht etwas beeilen? Mit jedem weiteren Sonnenaufgang, den sie als Gefangene im NachtClan verbrachte, wuchs ihre Ungeduld und Anspannung. Egal, wofür sich Regenpelz - oder Eibenstern, sollte er überleben - entscheiden würde, Storm hatte Angst davor. Hier im Clan war sie nicht mehr willkommen und würde sie ihn verlassen, wartete das Leben als Streunerin auf sie. Inzwischen war sie hier allerdings schon so lange im Lager eingesperrt, dass sie fürchtete, die Streunerbande -ihre alte Familie- könnte bereits ohne sie weitergezogen sein. Dann würde sie alle Katzen verlieren, die ihr wichtig waren, denn auch Blattpfote und Dämmerkralle würde sie zurücklassen müssen! Möglicherweise kann ich die beiden überzeugen, mit mir mitzukommen, falls ich gezwungen werde zu gehen. Der Gedanke ließ Storm neue Hoffnung schöpfen. Sie atmete tief durch und suchte die Umgebung nach den beiden ab. Tatsächlich: Da saß Dämmerkralle neben dem Kriegerbau und gab sich mit seinem älteren Bruder Fusselohr die Zunge.
Als er aufblickte und Storm in die Augen sah -nur einen Herzschlag lang, doch das reichte bereits voll und ganz- verrauchte ihre Zuversicht ebenso schnell, wie sie gerade noch aufgekeimt war. In diesem kurzen Blick lag keine Liebe mehr. Auch der letzte Funken dieser Wärme, mit der Dämmerkralle sie vor dem Kampf betrachtet hatte, war verschwunden. Nun war da nur noch Misstrauen und Enttäuschung. Ja, Storm meinte sogar, eine Spur von Hass erkannt zu haben.
Dennoch näherte sie sich ihrem Gefährten zögernd, bis sie nur noch eine Fuchslänge von ihm entfernt stand. »Dämmerkralle?«
Ein Augenblick verging, in dem er sie einfach ignorierte. Dann noch einer. Vielleicht hoffte er, sie würde einfach wieder gehen.
»Was ist?«, blaffte er schließlich, als sie sich nicht von der Stelle bewegte.
»Ich muss mit dir reden. Ich habe das alles, was geschehen ist, nicht gewollt, verstehst du?«
Ein verächtliches Schnauben verriet ihr, dass er nicht verstand. Nicht einmal ansatzweise.
Storm unterdrückte ein Seufzen. »Ich wollte nie jemanden umbringen. Es war nur... ich hatte solche Angst um meine Schwester und als sich Dachspfote mir in den Weg gestellt hat, da bin ich einfach durchgedreht. Und ich war so wütend, dass Eibenstern Snow umgebracht hat, dass ich...« Storm stockte. Dass ich... ja, was denn? Alles, was sie hätte sagen können, fühlte sich falsch an. Weil es auch falsch gewesen war, was sie getan hatte.
»Wie ich reagiert habe, war nicht richtig, das weiß ich«, begann sie von neuem. »Aber wieso verurteilt ihr nur mich? Auch Eibenstern hat eine Katze umgebracht: Snow.«
Dass sie inzwischen davon überzeugt war, Snows Tod sei ein Unfall gewesen, verschwieg sie. Allerdings hatte sie diese Möglichkeit im Kampf auch noch nicht in Betracht gezogen. Dem Kampf, in dem all diese Dinge schiefgelaufen waren.
Dämmerkralle schüttelte den Kopf. »Was du auch sagst, Storm, du bist und bleibst eine Verräterin. Eine Mörderin. Und eine Kätzin, die nicht weiter meine Gefährtin ist.«
Mit diesen Worten wandte er sich von Storm ab. Diese verharrte noch einen Augenblick, dann wirbelte sie herum und stapfte durch das Lager davon. Der ganze Clan ist wegen Eibensterns und Dachspfotes Schicksal schockiert, aber dass Snow gestorben ist, scheint niemanden hier zu interessieren! Nicht nur ich bin es, die Schlechtes getan hat, die anderen sind auch nicht viel besser! Der Gedanke weckte einen winzigen Funken Wut in ihr. Darauf konzentrierte sie sich, während sie sich auf den Weg zu ihrem Nest unter einem Holunderstrauch machte. Die Wut machte ihre Schuldgefühle erträglicher. Machte es so viel einfacher, mit sich selbst und allem, was sie getan hatte, leben zu können. Die leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr zuflüsterte, dass der einfache Weg nicht immer auch der beste sein musste, ignorierte sie.
Später lag Storm in ihrem Nest, versuchte zu schlafen, um zumindest für einen Augenblick alles vergessen zu können. Doch sie war einfach nicht müde genug und so spukten die Bilder jenes Kampfes weiterhin in ihrem Kopf herum. Auch die Wut schwelte weiter vor sich hin wie eine winzige, zarte Flamme, die sich noch nicht recht entscheiden konnte, ob sie nun erlöschen oder einen verheerenden Waldbrand auslösen wollte.
Das Licht der schon tief am Himmel hängenden Abendsonne fiel durch die Äste der großen Linde und blendete Storm. Sie blinzelte dagegen an und so wäre ihr beinahe entgangen, wie Blattpfote begleitet von ihrem Vater das Lager betrat. In ihrem Maul trug die junge Schülerin eine Taube und sie schnurrte leise, während sie neben Dämmerkralle her trabte. Nach einigen Schritten blieben die beiden stehen und Dämmerkralle zeigte mit dem Schweif auf den Frischbeutehaufen, woraufhin seine Tochter sichtlich begeistert nickte und darauf zu tappte. In diesem Moment tauchten auch die Wurfgefährten Eispfote und Lärchenpfote im Lagereingang auf, jeder mit einer Maus im Maul, und schlossen mit wenigen Sprüngen zu Blattpfote auf.
»Beim SternenClan, Blattpfote, jetzt blieb doch endlich stehen und hör zu!«, miaute Eispfote. »Und reg dich nicht so auf! Du warst doch dabei, du hast doch gesehen, wie das alles passiert ist!«
»Natürlich habe ich das, aber das gibt dir nicht das Recht, solche Dinge zu behaupten!« Blattpfote starrte stur geradeaus. Der fröhliche Ausdruck in ihren Augen war auf einmal verschwunden und sie sträubte ihr Fell.
Eispfote machte einen Satz nach vorn und baute sich vor ihrer Baugefährtin auf. »Storm ist gefährlich! Bestimmt wird sie sich eines Tages dem Wald der Finsternis anschließen. So eine Katze will niemand im Lager haben, sie sollte auf der Stelle von hier verschwinden!«
Mit wachsendem Entsetzen beobachtete Storm, wie ihre Tochter zusammenzuckte. »Sie ist immer noch meine Mutter!«
»Und Dachspfote, der tot ist, wie du weißt, war immer noch mein Bruder!«, fuhr Eispfote die andere Schülerin an.
»Eispfote...«, miaute Lärchenpfote zögernd, doch seine Schwester schnitt ihm mit einem Zucken ihres Schweifes das Wort ab.
»Du bist kein Stück besser als deine verlauste, fuchspelzige Streuermutter!« rief sie Blattpfote im davongehen zu, dann tauchte sie unter den tiefhängenden Ästen des Schülerbaus hindurch.
»Nimm dir ihre Worte nicht zu Herzen«, miaute Lärchenpfote, als seine Schwester verschwunden war. Er sprach so leise, dass Storm ihre Ohren spitzen musste, um ihn verstehen zu können. »Aber du tust dir auch keinen Gefallen damit, wenn du verleugnest, was geschehen ist.«
»Jetzt fängst du auch noch damit an!«, fauchte Blattpfote. Ihr Blick wanderte durchs Lager und blieb schließlich an Storm hängen. Ohne ein weiteres Wort an Lärchenpfote zu verlieren, tapste sie zu ihr hinüber.
Eine Fuchslänge vor Storm blieb Blattpfote abrupt stehen und trat von einer Pfote auf die andere. So energisch sie ihre Mutter eben noch verteidigt hatte, so unentschlossen schien sie jetzt auf einmal.
»Du bereust doch, was bei dem Kampf geschehen ist?«, miaute die junge Schülerin schließlich.
»Ja.«
Blattpfote trat etwas näher, duckte sich unter den Holunderästen über Storms Nest hindurch und stand schließlich direkt neben ihrer Mutter. »Während der Schlacht, als Eibenstern Snow bedroht hat, das warst nicht wirklich du, oder?«
So gern Storm auch entschlossen Nein, das war ich nicht geantwortet hätte, sie konnte nicht umhin, zu zögern. Dann aber sprach die diese Worte doch aus, um ihrer Tochter willen.
Einen Augenblick noch musterte Blattpfote sie forschend, dann setzte sie sich neben Storm in das Nest. »Sie dürfen dich nicht wegschicken«, murmelte sie. »Ich weiß, dass du eine gute Katze bist. Egal, was alle anderen sagen. Und selbst wenn sie dich wegschicken, werden sie dich mir nicht wegnehmen können. Dann komme ich eben mit dir.«
Zum ersten Mal seit dem Kampf schnurrte Storm. Wenigstens eine Katze hier im Lager glaubte an sie, die Katze, die ihr von allen am wichtigsten war.
***
»Alle Katzen, die alt genug sind, Beute zu machen, fordere ich auf, sich hier unterm Pelzbaum zu versammeln.« Regenpelz' ruf hallte durchs Lager und schreckte Blattpfote, die neben Storm eingenickt war, aus dem Schlaf.
Gerade wollte Storm aufstehen, als Eispfote ihren Kopf zum Bau hereinsteckte. »Jetzt wird endlich über deine Mutter geurteilt, Blattpfote. Das war's dann. Jetzt wird sie verbannt werden, du wirst schon sehen!«
»Nein!« Blattpfote schlug die Augen auf und fauchte leise. »Hör auf, ständig so etwas zu sagen!«
»Ich kann sagen, was ich will. Du musst es mir ja nicht glauben«, schnaubte Eispfote.
»Blattpfote trifft keine Schuld für alles, was passiert ist«, knurrte Storm warnend. »Sie ist deine Baugefährtin, Eispfote. Behandle sie entsprechend!«
»Du hast mir gar nichts zu sagen, Mörderin!« Eispfote peitschte mit ihrem Schweif und funkelte Storm aus zusammengekniffenen Augen an. Dann schoss sie auf Blattpfote zu. »Und du auch nicht, Mörderinnentochter!«
Neben Storm zuckte Blattpfote vor ihrer Baugefährtin zurück, während Eispfote sich schon wieder zurückzog. Das kann sie mit meiner Tochter nicht machen! Hat sie denn gar keinen Respekt vor ihren Clangefährten? Storm sprang auf die Pfoten, trat unter dem Holunder hervor ins Lager und baute sich mit gesträubtem Fell vor Eispfote auf. Sie musste sich zwingen, ihre Krallen wieder einzufahren, so aufgebracht war sie.
»Was soll das jetzt werden?« Eispfote erhob ihre Stimme, sodass jede Katze im Lager sie hörte. »Willst du mich jetzt auch noch angreifen, Mörderin?«
»Eispfote!« Ihr Bruder Lärchenpfote kam angerannt und führte die junge Schülerin an den Rand der Lichtung.
Storm hörte, wie er leise auf sie einredete. »Komm mit und setz dich erst einmal, Eispfote. Du bist ja vollkommen durcheinander.«
Eispfotes angespannte Haltung, die so voller Zorn gewesen war, fiel in sich zusammen und sie trottete mit hängendem Schweif neben ihrem Bruder her.
»NachtClan!«, rief Regenpelz erneut ihren Clan zusammen und nun machte sich auch Storm auf den Weg zur Lichtung, die vor der Lagerlinde lag. Dort angekommen erblickte sie die zweite Anführerin, die auf dem untersten Ast des Pelzbaumes thronte und ihren Blick über die unter ihr versammelten Katzen schweifen ließ.
»Ich habe schlechte Neuigkeiten«, begann Regenpelz, wobei sie mit ihren Krallen das Moos ausrupfte, das am Stamm des alten Baumes wucherte. »Eibenstern ist soeben gestorben. Es war sein letztes Leben. Er wandelt nun im SternenClan und wacht von dort aus über uns.«
Für einen Augenblick war das Lager in bestürztes Schweigen gehüllt, dann zerriss ein Jaulen voller Trauer und Schmerz die Stille. Es war Elsterblüte. Eibensterns Gefährtin.
Regenstern wartete, bevor sie fortfuhr: »Dennoch muss das Leben im Clan weitergehen. Ich werde bald zum Ahnenbaum aufbrechen, um meinen Anführernamen zu erhalten, doch vorher habe ich eine weitere wichtige Aufgabe zu bewältigen. Ich muss endlich über die Katze richten, die für den Tod unseres Anführers verantwortlich ist. Das bin ich Eibenstern schuldig. Ich hatte gehofft, er könnte selbst über Storm urteilen, wenn er sich erst einmal erholt hätte. Aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.«
***
Lärm. Etwas wie lautes Donnern weckte Blattpfote. Der Boden zitterte und in der Luft lag ein eigenartiger Gestank, der ihr aus ihrer bisher nur kurzen Schülerzeit entfernt bekannt vorkam.
Allmählich dämmerte es ihr, das hier war ein Donnerweg! Jedoch nicht der an der Grenze des NachtClan-Territoriums. Nein, es musste ein anderer sein. Der frische Geruch des Waldes fehlte hier fast völlig. Hier roch es nach etwas, das Blattpfote erst in dem Moment einordnen konnte, in dem sie ihre Augen aufschlug.
Der Zweibeinerort! Sie befand sich in einem weißen Kasten, der etwas mehr als eine Fuchslänge hoch war und an seinem Boden bequem Platz für zwei Katzen bot. Wände, Boden und Decke waren aus einem festen, weißen Material, wobei eine der Wände aufgeklappt war, sodass man hinauslaufen konnte. Über Blattpfote teilten einige durchsichtige Scheiben den weißen Raum in mehrere Fächer und nicht zum ersten Mal fragte sich Blattpfote, wozu die Zweibeiner dieses Ding wohl gebraucht haben könnten. Nun, wie auch immer die Antwort lauten mochte, zumindest bot es Schutz vor dem ständigen Regen.
Blattpfote streckte sich und lugte dann vorsichtig aus ihrem Zweibeinerding-Bau heraus. Sie befand sich in einer schmalen Gasse zwischen zwei Zweibeinernestern, die direkt auf einen Donnerweg zuführte.
Obwohl sie und Storm nun schon seit einigen Sonnenaufgängen hier im Zweibeinerort unterwegs waren, kam er ihr noch immer unheimlich vor. Nachdem Regenstern die Verbannung ihrer Mutter beschlossen hatte, war Blattpfote zögerlich aufgestanden, nach vorn vor den Pelzbaum getreten und hatte Regenstern gebeten, Storm begleiten zu dürfen. Die Anführerin hatte alles andere als begeistert gewirkt und Eispfote hatte laut »Verräterin!« geschrien, doch das hatte Blattpfote nicht davon abhalten können, ihren Clan zu verlassen. Allmählich jedoch begann sie, ihren Beschluss zu bereuen. Sie vermisste ihren Vater und Lärchenpfote, ihren besten Freund. Dämmerkralle hatte es geschafft, sie abzulenken, ja sogar etwas aufzumuntern, nachdem sie sich auf der Jagd mit Eispfote gestritten hatte. Zwar war der Streit später im Lager erneut ausgebrochen, doch Blattpfote war ihrem Vater dankbar für diese wenn auch kurze fröhliche Zeit in all dem Durcheinander nach dem Kampf. Wenn sie doch nur bei ihm sein könnte, oder bei Lärchenpfote... Erst nachdem sie ihren Clan verlassen hatte, verstand sie, um wie viel dankbarer sie dem anderen Schüler hätte sein sollen, weil er sich so sehr für sie eingesetzt hatte. Aber dafür war es nun zu spät.
Nein!, ermahnte sich Blattpfote. Denk nicht zurück! Deinen Clan hast du hinter dir gelassen. Wenn du deine Mutter jetzt verlässt, wirst du sie bestimmt nie wiedersehen. Nachdenklich tappte Blattpfote durch die Gasse auf den Donnerweg zu. Storm hat mich auch vor Eispfote verteidigt. Den Tod meiner Clangefährten kann sie nicht gewollt haben. Könnte ich es ertragen, wenn sie für immer aus meinem Leben verschwindet? Nein, ich kann sie nicht allein lassen. Sie braucht mich ebenso wie ich sie! Erst recht, nachdem die Streuner, ihre alte Familie, nirgendwo zu finden sind!
»Du bist wach!« Blattpfote wirbelte herum und sah, wie Storm auf sie zugestürmt kam.
»Endlich!«, miaute Storm. »Ich habe schon seit Sonnenaufgang weiter nach der Streunerbande gesucht. Aber sie sind wirklich nicht mehr hier. Wir müssen weiterziehen, vielleicht nehmen wir erst einmal die Route, die die Schüler auch nehmen, wenn sie zu ihrer Kriegerprüfung aufbrechen, weil...« Storm verstummte für einen Augenbick, dann ließ sie den Kopf hängen und seufzte: »Weil ich nicht weiß, wo ich sie suchen soll. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen.«
Die ganze Zeit über hatte Blattpfote wie erstarrt dagestanden. Ja, dieser Zweibeinerort jagte ihr Angst ein. Doch die Vorstellung ihn zu verlassen und weiterzuziehen, wahrscheinlich viele Tagesreisen weit, war noch viel schlimmer. Hier war der NachtClan noch ganz in der Nähe, sie könnte ihren Vater oder Lärchenpfote jederzeit besuchen. Die Reise jedoch, die ihr bevorstand, würde einen endgültigen Abschied von ihrem Zuhause bedeuten.
Storm tigerte unruhig zwischen den Zweibeinernestwänden auf und ab. »Wir jagen noch einmal an der NachtClan Grenze, dann brechen wir auf. Ich muss unbedingt Moon finden und Orion und all die anderen Streuer. Sie müssen gedacht haben, ich hätte mich für den NachtClan entschieden und würde dort bleiben, ansonsten wären sie doch nicht ohne mich fortgegangen!«
In ihren Gedanken versunken nickte Blattpfote. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie nach wie vor eine NachtClan-Katze sein wollte. Aber sie konnte sich doch auch nicht für den Rest ihres Lebens von ihrer Mutter trennen! Was soll ich nur tun?
Storm schien von dem Durcheinander in Blattpfotes Kopf nichts mitbekommen zu haben, sie war schon zum Donnerweg vorausgelaufen und wartete dort mit vor Ungeduld peitschendem Schweif auf ihre Tochter.
***
Seine langen braunen Ohren verrieten den Hasen inmitten des hohen Grases. Vorsichtig setzte Blattpfote einen Schritt vor den anderen, versuchte, für ihre Beute unsichtbar zu bleiben. All die Zweifel, die sie eben noch geplagt hatten, waren für diesen einen Moment vergessen, ihre ganze Konzentration galt ihrer Beute, der Windrichtung, ihren Pfoten, die sie behutsam auf den Boden setzte, bevor sie das Gewicht darauf verlagerte. Das Anschleichen war schon immer ihre Lieblingslektion gewesen. Schon als Junges hatte sie sich von den Schülern Tipps geben lassen, um dann im Lager umher zu schleichen. Sie hatte ein Spiel daraus gemacht, herauszufinden, wie lange sie von niemandem bemerkt wurde.
Ein Knacken. Erschrocken zuckte Blattpfote zusammen. Ein trockener Ast war unter ihren Pfoten zerbrochen. Zwischen den Grashalmen flitzte der Hase davon, Blattpfote preschte hinterher. Doch sie war nicht schnell genug. Das Anschleichen mochte sie schon jetzt als junge Schülerin gut beherrschen, doch was das Rennen oder auch das Kämpfen anging, hielten sich ihre Fähigkeiten doch sehr in Grenzen.
Trotzdem preschte sie weiter über die Wiese zwischen Wald und Zweibeinerort. Gras peitschte ihr ins Gesicht, ihre Pfoten donnerten über den Boden, während sie ihre fliehende Beute mit ihrem Blick fixierte. Der Hase schlug einen Haken und umrundete eine dicke Wurzel, die aus dem Boden ragte. Die Schülerin kam schliddernd davor zum Stehen und zog sich am Holz hoch. Oben angekommen hielt sie inne. Sie war völlig außer Atem. Doch das war nicht der Grund, aus dem sie die Verfolgung nun aufgab. Nein, es war ein Geruch gewesen. Hier verlief die Grenze zum NachtClan! Auf keinen Fall würde sie Beute von ihm stehlen!
»Guter Fang!« Blattpfote erkannte die Stimme sofort. Falkenpfote!
Etwas wurde auf den Boden geworfen. »Er ist mir direkt in die Pfoten gerannt. Hatte seine Umgebung überhaupt nicht im Blick, als wäre er... panisch vor etwas geflüchtet.«
In diesem Moment, in dem sie die zweite Stimme hörte, kamen auf einmal all ihre Zweifel zurück. Kann ich meinen Clan wirklich verlassen?
»Vielleicht ist da irgendwer an der Grenze.« Das war wieder die zweite Stimme gewesen, Lärchenpfotes Stimme. »Ich werde mal nachsehen.«
Schritte näherten sich. Blattpfote saß wie erstarrt da, wusste nicht recht, ob sie bleiben, oder schnell verschwinden sollte. Wie würde Lärchenpfote auf sie reagieren, nachdem sie ihren Clan verlassen hatte? Was, wenn er wütend auf sie war, weil sie ihn angefaucht hatte, obwohl er versucht hatte, sie vor Eispfote zu verteidigen? Und was, wenn er ein so treuer Freund war, dass er ihr vergab? Das würde ihr den Abschied unerträglich machen, wenn sie und Storm losziehen würden. Also fasste Blattpfote einen Entschluss, sprang auf und wollte gerade in Richtung Zweibeinerort verschwinden, als sie Lärchenpfotes Miauen hörte. »Blattpfote! Ich hätte nicht erwartet, dich hier noch einmal zu treffen!«
Innerlich seufzend drehte sich die Schülerin zu ihrem ehemaligen Baugefährten um. »Hallo, Lärchenpfote...«
Unsicher musterte sie ihn. Was er jetzt wohl denkt?
»Bin ich froh, dich zu sehen!«, schnurrte Lärchenpfote. »Wie geht es dir?«
»Ich...« Blattpfote wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Einfach mit gut zu antworten wäre nichts weiter als eine Lüge und Lärchenpfote als ihr bester Freund würde sie bestimmt durchschauen. Also entschied sie sich für die Wahrheit. »Ich vermisse meinen Clan. Aber ich will mich auch nicht von meiner Mutter trennen müssen.«
Nachdenklich nickte Lärchenpfote, schien gerade etwas erwidern zu wollen, als eine weitere Katze aus dem Gras auftauchte.
»Blattpfote, was ist hier los?«, miaute Storm, bevor sie Lärchenpfote erblickte und abrupt stehen blieb.
Unschlüssig blickte Blattpfote zwischen Lärchenpfote und Storm hin und her. »Ich... also« Wie soll ich Storm nur erklären, wie sehr ich den NachtClan vermisse?
»Möchtest du vielleicht zu uns zurückkehren?«, fragte Lärchenpfote hoffnungsvoll.
Blattpfote schwieg, wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich war es Storm, die das Wort ergriff: »Wenn du dich im NachtClan besser fühlst als bei mir, dann geh.«
Fieberhaft überlegte Blattpfote, was sie antworten sollte, als das Donnern von Schritten irgendwo im Unterholz des Waldes ertönte. Im nächsten Augenblick schossen Eispfote, ihre Mentorin Mohnregen, sowie Falkenpfote und Nebeltau durch einen Flecken Farne auf sie zu.
»Storm!«, Noch während sie rannte, fuhr Mohnregen ihre Krallen aus. »Was hast du hier zu suchen?! Verschwinde!«
Einen Schritt wagte sich Storm vor, hinein ins NachtClan-Territorium. Sie fauchte, wirbelte dann jedoch herum und stapfte davon. Nach einer Baumlänge warf sie noch einmal einen Blick zurück zu Blattpfote, doch die hatte sich zu Lärchenpfote gestellt. Ihre Entscheidung stand fest.
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