21. Kapitel


Eine feine, weiß glänzende Forstschicht überzog das Laub, das um Beere herum wehte. Der Wind wirbelte es vom Boden auf, bis es in seinem Pelz hängenblieb, oder auf der aufgewühlten Erde vor seinen Pfoten liegen blieb. Die Luft war eisig kalt, Beeres Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft und gelegentliche Böen ließen ihn erschaudern.

Und doch stand er starr an einem Fleck unter einer Ansammlung junger Birken und betrachtete den Boden vor ihm. Wie lange schon, das konnte er nicht sagen.
Alle anderen Katzen waren bereits gegangen, nur er hatte sich nicht gerührt, nachdem einige Jäger des Stammes seine Mutter, Falter, hier begraben hatten. Sie war bei der Schlacht gegen den NachtClan gestorben und in der letzten Nacht hatten die Katzen die Totenwache für sie gehalten. Beere hatte keine besonders Enge Bindung zu ihr gehabt und doch schmerzte der Gedanke, dass sie nun für immer fort sein sollte. Sie mochte zwar mehr zu Biene gehalten haben, als zu ihrem Sohn, doch Beere wusste, dass sie es nicht aus Boshaftigkeit getan hatte. Sie war tatsächlich davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, indem sie Biene unterstützte. Sie hatte nur das beste für ihn gewollt, auch wenn ihr nicht klar gewesen war, was er wirklich gebraucht hätte.

Erinnerungen geisterten durch Beeres Kopf. Verschwommene Bilder, die aus einer Zeit stammten, an die er sich ansonsten kaum erinnerte. Er war das einzige Junge gewesen, das Falter je geboren hatte und eine zeitlang hatte er allein mit ihr in der Kinderstube gewohnt. Er erinnerte sich an die Wärme ihres Pelzes, in das er sich verkrochen hatte, wenn es nachts kalt wurde und an das Gefühl, wie sie ihm über den Kopf leckte und beruhigend schnurrte, wenn er einen schlechten Traum gehabt hatte. Deutlichere, weniger wirre Erinnerungen folgten, an die Monde, in denen er ein ganz normales Junges gewesen war. Monde, in denen er Falter stolz gezeigt hatte, wie weit er schon springen konnte, oder wie schnell er rannte.

Damals hatte es diese Kluft zwischen Beere und seiner Mutter noch nicht gegeben. Erst als Biene Rabe getötet hatte, um Beeres Mentorin werden zu können, hatte sich das Blatt gewendet. Falter hatte nichts gegen Bienes Gemeinheiten getan und so hatte Beere allmählich das Vertrauen in sie verloren. Doch irgendetwas war von dem alten Band zwischen ihm und seiner Mutter geblieben, das spürte er.

Was wohl gewesen wäre, wenn sie noch leben würde? Gerade jetzt, wo sich seine Ausbildung durch Biene zum Ende neigte, jetzt, wo Weide nicht mehr Anführer sein wollte, wo sich so vieles im Stamm ändern würde. Vielleicht hätte diese Veränderung ja auch das Verhältnis zu seiner Mutter betroffen. Doch das würde Beere nie erfahren. Ebenso wenig, wie er erfahren würde, ob sie eine gute Anführerin geworden wäre.
Nein, diese Verantwortung lastete nun auf ihm. Nachdem Weide erklärt hatte, dass er zu viele Fehler begangen habe, um weiterhin Anführer zu bleiben und Falter tot war, wurde das Anführeramt direkt an ihn vererbt.

Etwas Kaltes landete auf seiner Nase, schmolz und tropfte auf den Boden herab. Beere richtete seine  Blick in den Himmel und bemerkte eine dicke, graue Wolke, die dort hoch über seinem Kopf schwebte. Schneeflocken taumelten vom Himmel herab.
Eine Weile noch stand er da, betrachtete das Grab seiner Mutter, das allmählich unter aufgewirbeltem Laub versank, zwischen dem sich eine zarte Schneeschicht ansammelte.

»Beere?« Ein Miauen riss ihn aus seinen Gedanken. Es war die kratzige Stimme des Stammesheilers Dunst. »Du musst etwas tun. Die Katzen fragen sich, wie es jetzt weitergehen soll, wo es schneit!«

Der Schnee. Erst jetzt dämmerte Beere, was er für ihn zu bedeuten hatte. Als der Stamm bei den Clans angekommen war, hatten die Anführer von BlattClan und FederClan ihnen versichtert, dass sie in ihren Jagdgründen geduldet werden würden, bis der erste Schnee fiel. Aber nicht länger. Der Stamm war erneut ohne Heimat, sie würden weiterziehen müssen, wenn sie keine Kämpfe riskieren wollten. Beere wusste beim besten Willen nicht, wohin die Reise des Stammes gehen sollte, obwohl er das nun zu entscheiden hatte.

»Du bist der nächste Anführer. Und du bist alt genug, nicht mehr Bienes Schüler zu sein, doch sie scheint das anders zu sehen. Biene hat eine Versammlung einberufen und führt sich auf, als sei sie die Anführerin.«

Beere ließ die Schultern hängen. Wäre Falter doch bloß noch da. Sie war eine starke Kätzin gewesen, niemand hätte ihre Autorität in Frage gestellt.

»Ich komme«, miaute Beere, warf einen letzten Blick auf das Grab seiner Mutter und wandte sich dann an den Heiler.

Erst jetzt bemerkte er, dass auch Esche gekommen war, die neben dem alten Kater stand und zu ihm hinüber blickte. Er vermisste ihre Freundschaft, vielleicht hätte er sich mit ihr an seiner Seite nicht so allein fühlen müssen.

Unsicher, was nun überhaupt zu tun war, tappte er zu seinen beiden Stammesgefährten hinüber und folgte ihnen ins Lager. Dort hatte sich schon fast der gesamte Stamm versammelt. Die Katzen redeten überall im Lager leise miteinander. Nicht wenige von ihnen blickten immer wieder in den Himmel, dessen graue Wolken noch mehr Schnee anzukündigen schienen, oder zu Biene, von der sie sich nun offenbar Antworten erhofften. Antworten auf die Frage, wie es für den Stamm weitergehen sollte.

Biene selbst thronte auf dem Felshaufen, der den Wolkenkriegern während des letzten Mondes als Bau gedient hatte. Der Wind wehte durch ihr Fell, doch ihr schien die Kälte nichts auszumachen. Beere kannte sie gut genug, um zu erkennen, wie sehr sie es genoss, dort oben zu stehen und auf alle anderen herabzusehen. Aufrecht stand sie da, den Kopf hoch erhoben.

»Katzen des Stammes!«, miaute Biene. »Ich habe diese Versammlung einberufen, um mit euch darüber zu sprechen, wer unsere Gruppe zukünftig anführen wird.«

»Tu etwas!«, zischte Dunst Beere zu, ehe er sich zu Mücke gesellte, der neben Weide und Rauch beim Bau der Jäger saß.

Möglichst langsam, um Zeit zu schinden, tappte Beere auf den Bau der Wolkenkrieger zu. Viel zu schnell war er angekommen. Auf wackligen Beinen kletterte Beere auf einen der niedrigeren Steine, zögerte jedoch, als Biene mit ihrer Rede fortfuhr.

»Beere wird weiterhin mein Schüler bleiben. Er hat noch nicht genug gelernt, um den Stamm anführen zu können. Er ist unsicher und schwach. Bis er zu einem starken Anführer herangewachsen ist, werde ich als seine Wolkenlehrerin den Stamm leiten. Denn obwohl ich stets mein Bestes gegeben habe, Beere auszubilden und auf seine Aufgabe vorzubereiten, wäre er zu diesem Zeitpunkt kein besserer Anführer als Weide es gewesen ist. Er ist dem, was uns bevorsteht, nicht gewachsen und würde uns nur in weitere Schwierigkeiten führen, genau, wie es auch sein Großvater getan hat. Doch ich werde verhindern, dass unser Stamm an den Herausforderungen zerbricht, die vor uns liegen. Im Gegenteil, ich werde dafür sorgen, dass wir uns gegenseitig helfen und gestärkt aus der kommenden Reise hervorgehen.«

Mit gemischten Gefühlen blickte Beere zu seiner Mentorin auf. Sicherlich würde sein Training nun noch härter werden. Und das, obwohl er inzwischen so alt war, dass er gehofft hatte, es bald ganz hinter sich zu haben. Aber wie hatte er das nur annehmen können? Biene hatte Recht, wenn sie sagte, dass er alles andere als bereit dazu war, ein Anführer zu werden. Im Moment fühlte Beere sich eher, als würde er diese Aufgabe niemals in seinem Leben stemmen können.

Jubelrufe ertönten irgendwo zwischen den Versammelten Katzen. Es waren Bienes fleißigste Unterstützer, Dohle, Schimmer und Qualm.

Doch nicht alle schienen glücklich zu sein. Maus, Weides alter Wolkenlehrer, peitschte wütend mit dem Schweif, Mücke und Dunst schüttelten die Köpfe, während sie miteinander flüsterten. Lilie und Brand wagten es gar, laut zu protestieren.

»Damit hätten wir das also geklärt«, erhob Biene ihre Stimme über die Stimmen im Lager hinweg. »Was die Sache mit dem Schnee angeht, habe ich folgendermaßen entschieden: Wir werden zunächst bleiben und versuchen, die Clans zu überzeugen, dass wir hier überwintern können. Wir sind stark genug, um das Gebiet, in dem wir während des letzten Mondes gejagt haben, weiterhin zu beanspruchen.«

Mit diesen Worten sprang sie vom Steinhaufen, sämtliche Einwände des Stammes ignorierend.

Beere erzitterte. Hatte Biene etwa vor, einen Kampf gegen die Clans zu riskieren?
Eine Weile stand er so da, wusste nicht, was er tun sollte, betrachtete seine Stammesgefährten, die nach wie vor auf der Lichtung versammelt blieben.
Amsel, die ziemlich weit hinten saß und leise mit Lilie sprach.
Dunst, der ihm einen finsteren Blick zuwarf. Hätte Beere die Gelegenheit eben besser nutzen sollen, um den älteren Kater um Rat zu fragen? Nun war es zu spät.
Rauch, die sich zu Weide gesellt hatte. Seit dem Kampf wirkte sie ebenso wie der ehemalige Anführer ungewöhnlich entspannt. Was eigentlich kein Wunder war, schließlich hatte Weide kein einziges mal mehr irgendeine Stimme gehört, die ihm Dinge zuflüsterte. Storm hatte ihn offenbar endlich in Ruhe gelassen.
Maus, der fast direkt neben dem Bau der Wolkenkrieger saß. Auch mit ihm hätte Beere noch reden können, bevor Biene sich zur Anführerin erklärt hatte. Stattdessen hatte er nur an Falters Grab herumgestanden.
Frosch und Farn, die ihn seltsam gespannt ansahen.
Qualm, Dohle und Schimmer, die ganz in der Nähe zufrieden schnurrten.
Biene, die ihn mit einem Blick ansah, den er nur allzu gut kannte. Sie gab ihm ein Zeichen, vom Steinhaufen herab zu klettern und zu ihr zu kommen. Er sollte weiterhin nur tun, was sie von ihm verlangte.

Erneut huschte Beeres Blick über seine Clangefährten. Einige von ihnen schienen ganz zufrieden damit, dass Biene den Stamm anführen wollte. Und eigentlich sollte es auch ihn, Beere, nicht allzu sehr stören. Er war ohnehin nicht dazu geboren, ein Anführer zu sein. Er wünschte sich nichts weiter, als ein ganz normaler Jäger des Stammes zu werden. Am besten, er würde seinen Anspruch auf den Anführerposen einfach abgeben. Zwar war er im Gegensatz zu Weide noch viel zu jung, um schon Junge und damit einen Nachfolger zu haben, doch wenn sein Großvater einfach erklären konnte, kein Anführer mehr sein zu wollen, wieso sollte Beere das nicht auch können?

Kein Training mehr, das ihn auf etwas vorbereiten sollte, das er nie sein wollte. Und das dabei noch nicht einmal funktionierte, wie Beere feststellte. Es hatte ihn nur verunsichert, ihn letztendlich sogar von seiner besten Freundin entfernt. Von Esche… Diese hockte ganz am Rande der Versammlung und starrte demonstrativ in eine andere Richtung. Nein, Beere hatte nie gewollt, dass es so kam. Und doch war er immer dem Pfad gefolgt, den seine Mutter, seine Mentorin und nicht zuletzt auch die Traditionen des Stammes für ihn vorgesehen hatten. Allmählich dämmerte ihm, dass es genau so bleiben würde, wenn er jetzt nicht etwas tat. Ja, er wäre zufrieden, wenn Biene statt ihm Anführerin werden würde, doch Esche wäre es nicht. Wenn er schon nicht für sich selbst aufstehen und protestieren konnte, dann doch wenigstens für sie. Das schuldete er ihr genauso wie Mücke, Dunst, Brand und Lilie, nachdem er sie verraten hatte.

»Katzen des Stammes!«, miaute er. Seine Stimme zitterte und er hatte den Eindruck, dass ihn nicht einmal alle gehört hatten. Beinahe war er dankbar für den kalten Wind, der immer stärker und stärker über das Land peitschte. Er half gegen die unangenehme Wärme, die sich unter seinem Pelz ausbreitete. Beere schloss seine Augen, legte sich in Gedanken zurecht, was er zu sagen hatte und atmete tief durch. Dann kletterte er auch das restliche Stück den Felshaufen hinauf und begann von neuem. »Katzen des Stammes! Biene hat Unrecht!«

Ein Jaulen unterbrach ihn. Biene war von ihrem Platz neben Schimmer aufgesprungen und stürmte auf ihn zu. Beere duckte sich, bereit, von den Steinen herab zu springen und zu fliehen. Doch kurz, bevor seine Mentorin ihn erreicht hätte, warfen Brand und Lilie sich ihr in den Weg und packten sie am Nackenfell.

»Lasst mich los, ich befehle es euch, ich bin eure Anführerin!« Biene schlug um sich, verpasste Brand einen blutigen Kratzer an der Nase und biss Lilie ins Bein, doch die beiden Krieger ließen nicht locker.

Weiter hinten waren Schimmer und Qualm auf die Pfoten gesprungen, doch auch sie wurden sofort von anderen Katzen umringt, die ihnen mit peitschenden Schweifen gegenüber standen.

Vor lauter Staunen wusste Beere nicht mehr, was er sagen sollte. Mit so viel Unterstützung seiner Stammesgefährten hatte er nicht gerechnet. Sogar Esche hatte sich ihm zugewandt.

Für einen Moment fehlten ihm die Worten und er fürchtete, den Stamm enttäuschen zu müssen, doch dann riss er sich zusammen. Jetzt oder nie…
»Ich bin inzwischen alt genug, um nicht mehr Bienes Schüler zu sein.«

Ein erneutes Jaulen aus Bienes Richtung unterbrach ihn.

Beere zuckte zusammen, hatte Mühe, die Unruhe unten auf der Lichtung zu ignorieren. »Und das macht mich laut den Traditionen des Stammes zu eurem Anführer. Was Biene eben gesagt hat…« Er suchte nach den richtigen Worten. »Mir scheint es, als hätte Biene niemals darauf hingearbeitet, mich zum Anführer zu machen.« Beere zitterte. War seine Anschuldigung wahr? Tat er hier gerade selbst unrecht, indem er log? Er wusste es nicht. Und doch führte nun kein Weg mehr zurück. »Sie hat mich immer nur kritisiert und mich somit verunsichert. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich jemals als Anführer sehen wollte, oder ob es ihr nur um ihre eigene Macht ging. Sie wollte mich von ihr abhängig machen, damit sie die mächtigste Katze im Stamm wird. Alles was sie eben gesagt hat, scheint dies nur zu bestätigen.«

Inzwischen war es ruhiger geworden auf der Lichtung. Die Katzen hörten ihm endlich zu, selbst wenn er in den Augen einiger Wut aufblitzen sah.

»Und doch hatte Biene auch recht.« Beere sah die Verwirrung in den Augen seiner Stammesgefährten. Er konnte nur hoffen, dass sie verstehen würden, was er ihnen verkünden würde. »Ich bin kein Anführer. Und ich werde auch niemals einer sein. Doch Biene ist es ebenso wenig. Deshalb schlage ich vor, dass wir gemeinsam wählen, wer unseren Stamm in Zukunft anführt.«

Gespannt wartete er auf eine Reaktion. Was, wenn sie ihm nicht zustimmten? Oder wenn sie es doch taten und am Ende Biene wählten?

Als Esche ihm zunickte, wusste er jedoch, dass er das Richtige getan hatte. Was immer nun geschah, es wäre zumindest nicht seine Schuld.

»Noch können wir so oder so nicht abstimmen«, ertönte Schimmers Stimme. »Es sind schließlich gar nicht alle Stammeskatzen anwesend.«

Nicht? Beeres Blick wanderte unter seinen Stammesgefährten umher. Und tatsächlich: Eine Spur von Pfotenabdrücken im Schnee führte aus dem Lager hinaus. Noch immer tanzten die weißen Flocken vom Himmel herab, es konnte also nicht lange her sein, dass die Katze gegangen war. Nur wer hatte das Lager mitten in der Versammlung verlassen?

Es war Rauch, die den Schneespuren folgte und Beere so darauf brachte, wer fehlte. Es war Weide.

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