11. Kapitel


Müde tappte Beere über die von kahlen Sträuchern umgebene Lichtung unweit des Ortes, an dem sich die Clans jede Vollmondnacht zu etwas trafen, das sie »Große Versammlung« nannten. Hier, am Rand der Clanterritorien hatte sich der Stamm vorerst niedergelassen. In der letzten Nacht waren sie bis nach Mondhoch auf der Großen Versammlung gewesen und an diesem Morgen hatte Biene ihn schon vor Dämmerungsbeginn für eine Jagdlektion in das Gebiet mitgenommen, das der BlattClan ihnen überlassen hatte. Es würde ein anstrengender Tag werden, das war klar. Am liebsten hätte Beere sich wieder in sein Nest gelegt und geschlafen, aber damit würde er noch bis zum Sonnenuntergang warten müssen.

Zumindest hatte seine Mentorin ihm erlaubt, die magere Maus, die er erbeutet hatte, selbst zu essen, statt sie auf den Beutehaufen zu legen. Mit der Beute im Maul steuerte er einen zwei Dachslängen hohen Steinhaufen an, in dem sich eine Höhle befand. Diese war groß genug für um die sechs Katzen und war so zum Bau des Anführers und seiner Nachkommen, der Wolkenkrieger, geworden. Neben dem größten der Gesteinsbrocken setzte sich Beere, um die Maus zu verspeisen, und ließ seinen Blick durchs Lager schweifen. Kaum jemand war bereits wach, nur Esche und ihre Schwester Amsel unterhielten sich beim Jägerbau, einer umgestürzten Tanne, mit Lilie. Keine zwei Fuchslängen entfernt hockten Schimmer und Qualm, die mit gespitzten Ohren ab und an argwöhnische Blicke zu ihren drei Stammesgefährtinnen hinüber warfen.

Seit Beere seiner Mentorin erzählt hatte, dass Mücke, Dunst, Lilie, Brand und Esche planten, sich dem Befehl des Anführers zu widersetzen und Katzen zurück in die Berge zu schicken, wurden die fünf ständig von Biene, ihren Anhängern und Rauch beschattet.

In diesem Moment sprang Esche auf ihre Pfoten und tappte zum Frischbeutehaufen hinüber. Ihr Blick streifte Beere, aber anstatt wie sonst auf ihn zu zu hüpfen und ihn in ihrer ungestümen Art über seine letzte Trainingseinheit auszufragen, nickte sie ihm nur kurz zu, schnappte sich einen Eichelhäher und kehrte damit zu Lilie und Amsel zurück.

Seit er sie verraten hatte, hatte Esche kaum ein Wort mehr mit Beere gewechselt und er vermisste ihre Freundschaft. Niemand sonst im Clan hatte ihn immer wieder so unterstützt und aufgemuntert und wie sie. Hätte ich Biene doch nur nichts gesagt! Viel angenehmer ist das Training dadurch auch nicht geworden. Das einzige, was ich erreicht habe, ist, meine beste Freundin zu verärgern und Weides Brüder, sowie Brand zu enttäuschen. Seufzend schob Beere die Überreste seiner Maus zusammen und vergrub sie neben dem Steinhaufen, bevor er in den Bau der Wolkenkrieger hinein tappte.

»Falter?«, miaute er.

Vielleicht hatte seine Mutter ja einen Rat für ihn.

»Hmm?« Falters Stimme klang, als wäre sie gerade erst aufgewacht.

Beere konnte ihre Umrisse zwischen denen zweier anderer Katzen in der Dunkelheit lediglich erahnen. Sie regte sich in ihrem Nest, erhob sich auf ihre Pfoten und kam auf ihn zu. »Was ist los?«

»Kann ich mit dir reden?«

»Natürlich. Wir sollten uns aber draußen unterhalten, nicht dass wir Weide und Mücke wecken.«

Beere nickte und folgte seiner Mutter auf die Lichtung hinaus, wo sie sich neben den Heilerbau setzen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages bahnten sich ihren Weg durch die umstehenden Tannen und wärmten ihre Pelze dort ein wenig, während das restliche Lager im Schatten lag.

»Also, worum geht es?«

Beere holte tief Luft. Der gesamte Stamm wusste, dass die Brüder des Anführers mit einigen anderen Katzen geplant hatten, Weide zu hintergehen, aber weder Rauch noch Biene hatten berichtet, von wem sie diese Information bekommen hatten. »Ich habe Biene von dem Verrat erzählt. Wegen mir werden Mücke, Dunst, Lilie und Brand bestraft werden und wegen mir können sie nichts mehr ohne Bienes oder Rauchs Aufsicht tun.«

Falter legte ihm den Schweif auf den Rücken und leckte ihm über den Kopf, als sei er ein Junges. »Und das war auch richtig so«, miaute sie. »Wir können keinen Verrat dulden, denn nur wenn wir alle zusammenhalten, können wir als Stamm bestehen.«

Sie klingt genau wie Biene. »Aber ich habe meine Freunde verraten. Dabei wollten sie dem Stamm gar nicht schaden, im Gegenteil: Sie wollten, dass diese Reise ein Ende hat, dass wir wieder zurück nach Hause gehen, dass sich nur eine kleine Gruppe von Auserwählten um sie Sache mit Flamme kümmert. Das wäre das beste für alle gewesen, besonders für die Jungen und Ältesten!«

»Du hast dennoch das richtige getan«, schnurrte Falter. »Manche Entscheidungen sind nunmal nicht einfach und erscheinen uns im ersten Moment als falsch. Aber wir wären kein Stamm mehr, keine Gemeinschaft von Katzen, die sich gegenseitig schützt, wenn jeder das tut, was er will, anstatt auf seinen Anführer zu hören. Und wenn man merkt, dass seine Stammesgefährten nicht loyal sind, dann muss man etwas dagegen tun, gerade als zukünftiger Anführer. Auch, wenn es schwerfällt. Und auch, wenn es einige Katzen nicht verstehen. Aber du tust das nicht für dich, sondern dafür, dass der Stamm nicht in einzelne Gruppen zerbricht, die gegeneinander ankämpfen, anstatt ihren Blick auf die wahren Gefahren zu richten.«

Vielleicht hat sie recht, dachte sich Beere, obwohl er noch immer zweifelte. Es fühlte sich trotzdem nicht richtig an, dass er Biene von allem berichtet hatte. Außerdem habe ich es gar nicht für den Stamm getan, sondern lediglich aus Angst vor Biene...

Eine Weile saßen Mutter und Sohn so nebeneinander am Rand der Lichtung. Beere beobachtete Esche, die mit Amsel Kampftricks übte und wünschte sich, das, was zwischen ihnen Stand, aus dem Weg räumen zu können. Nur wusste er nicht, wie er das anstellen sollte.

»Katzen des Stammes!« Rauchs Ruf ließ Beere aus seinen Gedanken hochschrecken. Sie, Maus und Weide waren auf den Bau der Wolkenkrieger geklettert. »Ich rufe euch im Namen meines Vaters zu einer Clanversammlung zusammen.«

»Müsstest du nicht eigentlich da oben stehen?«, flüsterte Beere Falter zu. Rauch schien neben Maus Weides engste Vertraute zu sein, obwohl sie die Zweitgeborene war. Falter hingegen war Weides erstgeborene Tochter und würde vor Beere den Anführerposten erben. Trotzdem mischte sich seine Mutter nie in Anführerangelegenheiten ein, während Rauch ihren Vater ständig auf den Stammesversammlungen vertrat. Bisher hatte sich Beere darüber selten Gedanken gemacht, denn schließlich war er es so gewohnt...

»Rauch scheint besseren Zugang zu Weide zu finden«, miaute Falter. »Ich weiß meistens gar nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, wenn er wieder einmal einer Stimme nachjagt, die nur in seinem Kopf existiert. Außerdem ist meine Schwester die bessere Anführerin von uns beiden, das war sie schon immer. Aber jetzt sollten wir uns anhören, was sie zu sagen haben.«

Beere nickte und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Lichtung, die sich allmählich füllte.

»Wir werden heute eine Patrouille zum FederClan schicken«, krächzte Maus, »um zu überprüfen, wie es Flamme dort geht und ob sie wirklich keine Gefangene ist. Rauch wird festlegen, wer mitkommt.«

Rauch neigte den Kopf vor Weides Wolkenleher. »Ich werde diese Patrouille anführen. Begleiten werden mich Schimmer, Farn, Asche, Esche und Beere.«

»Wenn du Beere mitnehmen willst, werde ich ebenfalls mitkommen.« Biene war eine Dachslänge entfernt auf die Pfoten gesprungen.

»Ich habe dich nicht aufgezählt«, stellte Rauch nüchtern fest. »Also bist du nicht dabei.«

Maus nickte zustimmend. »Dein Schüler muss auch lernen, ohne dich eine Mission zu bestehen.«

»Ihr seid beide nicht mein Anführer, ihr habt mir gar nichts zu sagen«, protestierte Biene.

»Ich gebe meiner Tochter Recht«, miaute Weide, sprang von dem Steinhaufen und trottete etwas unverständliches vor sich hin murmelnd davon.

Beere hörte, wie seine Wolkenlehrerin ein leises »alles Krötenhirne« knurrte. Doch sie setzte sich und widersprach nicht weiter, weshalb er erleichtert aufatmete.

***

»Und was denkst du, sollen wir tun?« Irgendwoher kannte Beere diese Stimme.

Ihn und den Rest seiner Patrouille umgab das Grasland des FederClans. Einzelne, schwächliche Sonnenstrahlen schafften es vom wolkenbedeckten Himmel bis hinab auf den Erdboden, wärmten die Pelze der Katzen aber kaum. Ein kalter Wind fegte über das Land und peitschte Beere ins Gesicht. Gerade hatte er beschlossen, zu den anderen aufzuholen - er lief einige Fuchslängen hinter ihnen - um ihren Windschatten ausnutzen zu können, als ihn das Miauen innehalten ließ.

Er hatte eigentlich nicht vor, das Gespräch zu belauschen, doch bevor er etwas anderes tun konnte, erwiderte eine zweite Katze: »Du sagtest selbst, dass wir neues Territorium dringend benötigen. Die Beute läuft schlecht und wegen der Probleme mit den Adlern und dem zusätzlichen Adlerabwehr-Training fallen Krieger bei der Jagd aus. Und ich sage dir noch einmal, den BlattClan anzugreifen und von ihm Territorium zu verlangen ist keine gute Idee. Sie haben schon etwas abgegeben. Außerdem steht der Stamm auf ihrer Seite und könnte ihnen zur Hilfe eilen.«

Beere hielt die Luft an. Das ist Flammes Miauen gewesen!

»Der Stamm steht auf der Seite des BlattClans? Wieso sollte er? Hat er ihn nicht aus den Bergen vertrieben? Und sollte er uns nicht auch dankbar sein, weil wir ihm ebenfalls Territorium geliehen haben?«

Nun wurde Beere klar, wem die erste Stimme gehörte. Er hatte sie auf der nächtlichen Vollmond-Versammlung schon einmal gehört. Es war dieser FederClan-Anführer.

»Die meisten BlattClan-Katzen werden dem Stamm das sicherlich noch immer übelnehmen... Aber darum geht es nicht. Vertrau mir, ich werde dir beweisen, dass ich Recht habe.«

»Ich weiß nicht...«

Einige Weile blieb es still und Beere schloss eilig zu seinen Stammesgefährten auf. Gerade, als er sie erreicht hatte, ließ ihn ein Knurren aufhorchen.

»Ihr kommt, um bei uns herumzuschnüffeln? Weil euch eure Katzen nicht treu sind und sie sich lieber uns anschließen?«

Eine FederClan-Patrouille sprang hinter einem Strauch hervor und versperrte Rauch, die an der Spitze der Stammeskatzen lief, den Weg. Vorne hatte sich eine rotorangene Kätzin aufgebaut. Sie hatte ihre Ohren angelegt und das Fell gesträubt. Eine zweite Kriegerin mit braunem Pelz und dunklen Tigerstreifen, die wesentlich gelassener schien, trat neben sie. Noch zur Hälfte hinter dem Strauch verborgen stand ein hellbrauner, gefleckter Kater, der in etwa in Beeres Alter sein musste. Er tappte ständig von einer Pfote auf die andere und sein Blick zuckte zwischen allen Anwesenden umher.

»Du weißt genau, dass Wasserstern ihnen auf der Großen Versammlung erlaubt hat, hierher zu kommen, Apfelschatten«, miaute die Getigerte an ihre Begleiterin gewandt und neigte dann den Kopf vor Rauch. »Ihr dürft meine Clangefährtin nicht so ernst nehmen, sie hat einfach keinen Respekt. Mein Name ist übrigens Wiesenfluss und das« Sie zeigte mit dem Schweif auf den jungen Kater »Ist mein Bruder Entenpfote. Wir werden euch den restlichen Weg ins Lager begleiten.«

Apfelschatten fauchte erneut und schimpfte vor sich hin, machte aber keine Anstalten, die Katzen aufzuhalten, als Wiesenfluss die Stammespatrouille davon führte. Sie bahnte sich einen Weg durch das hohe Gras, das überall auf dem FederClan-Territorium wucherte und nur ab und an von einigen Sträuchern unterbrochen wurde. Beere schloss zu Farn auf, trottete schweigend neben ihm her und beobachtete Esche, die sich ein Stück weiter vorn mit Asche unterhielt. Esche hatte Beere während ihres gesamten Marsches nicht einmal angesehen. Ich hätte sie nicht verraten dürfen! Wie kann ich das nur wieder gut machen?

Ihr Weg führte sie an einer großen Trauerweide vorbei und am Ufer eines Sees entlang, bis ein Wall in Sicht kam, der aus abgestorbenen Ästen zusammengeflochten war.

»Das dort ist unser Lager«, hörte Beere Wiesenfluss' Miauen. »Entenpfote, lauf du doch schon einmal voraus und sage Wasserstern Bescheid, dass wir Gäste haben.«

Der Schüler nickte, huschte über einen Trampelpfad und wäre im Lagereingang beinahe mit einer schildpattfarbenen Kätzin zusammengestoßen. Diese sprang im letzten Moment zur Seite und rief: »Entenpfote, da bist du ja. Ich habe schon nach dir gesucht!«

»Ich... mit... Schwester... Jagd... Wasserstern...« Was Entenpfote miaute konnte Beere kaum verstehen, dafür sprach der Schüler zu leise.

Die Kriegerin antwortete etwas, woraufhin Entenpfote ins Lager hüpfte.

»Und danach begleitest du Erdschweif, Blütenfleck und mich zum Adler-Abwehr-Training!«, rief sie ihn noch hinterher, ehe der Schüler aus Beeres Blickfeld verschwand.

Alder-Abwehr-Training? Auch Flamme hatte dieses Wort erwähnt, das bei Beere unangenehme Erinnerungen wachrief. In ihrer alten Heimat, den Bergen, hatten sie es einige Male mit den Raubvögeln zu tun gehabt. Einmal hatte Biene es für eine gute Idee gehalten, Beere auf einen Baum bis hin zu einem Adlernest klettern zu lassen. Ihr Auftrag war es gewesen, die Adlerjungen zu töten, damit sie nicht zu den selben katzenjungenmordenden Bestien heranwuchsen wie ihre Eltern. Allerdings hatte Beere nicht geschafft, was sie ihm aufgetragen hatte. Eines der Adler-Elterntiere hatte ihn entdeckt und er hatte nur knapp entkommen können, war von dem Baum gestürzt und hatte einen halben Mond bei dem Heiler Dunst verbringen müssen. Wobei gegen diese Zeit eigentlich soviel nicht einzuwenden gewesen war, fand Beere. Die Erfahrung, von dem Heiler umsorgt zu werden, war ihm doch lieber als manch ein Tag mit Biene - trotz der Schmerzen.

»Beere?«

Beere schreckte aus seinen Erinnerungen hoch, als er seinen Namen hörte. Er war langsamer geworden und hinter den anderen zurückgefallen, die sich gerade in der mitte des FederClan-Lagers versammelten. Nur Esche war am Lagerwall stehengeblieben und blickte zu ihm zurück.

Erfreut schloss Beere zu ihr auf. Zumindest in diesem kurzen Augenblick hatte sie ihn nicht ignoriert. Vielleicht bin ich ihr ja doch nicht so egal, vielleicht kann sie mir sogar irgendwann verzeihen.

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