Zweiter Akt / Fünfte Szene

Nataraja und Narayana sitzen beim Essen.

NARAYANA: Es schmeckt nach nichts.

NATARAJA: Es ist nichts. Du brauchst es nicht. Es ist ein Fremdkörper in dir.

NARAYANA: Ich habe langsam das Gefühl, die Welt besteht nur aus Fremdkörpern. Manchmal schadet ein wenig Demut eben doch nicht.

NATARAJA: Was all diese Leute hier nicht verstehen, ist, dass das Chaos kein Puzzle ist, das man nur zusammensetzen muss.

NARAYANA: Wer etwas bauen will, muss die Steine schleifen.

NATARAJA: Möchtest du ein Stein sein oder ein Baumeister?

NARAYANA: Ich will Ruhe! Ich will nicht über jeden Bissen, den ich zu mir nehme nachdenken müssen! Ich will mich nicht für jede Mahlzeit schlechten fühlen und ich will einen Fehler nicht als ewige Niederlage betrachten müssen! Vielleicht muss man sich mit der Demut arrangieren? Ist sie nicht auch eine Form des Verzichts?

NATARAJA: Du meinst, das Trüben der eigenen Sinne durch kontemplatives Fasten? Willst du jetzt doch religiös werden?

NARAYANA: Wenn es hilft?

NATARAJA: Wobei?

NARAYANA: Dich los zu werden!

NATARAJA: Glaubst du, du würdest es schaffen? Ein scheinheiliger Verzicht, der dir vielleicht Anerkennung bringt, aber keine Bedeutung hat? Ist Demut nur ein anderes Wort für Anbiederung? Glaubst du wirklich, ausgerechtet du würdest es schaffen, Buße zu tun und dich dabei nicht auf einen Wettbewerb einzulassen? Wer verteilt die meisten Almosen? Wer lächelt die Demütigung am heuchlerischsten weg? Wer zieht am meisten Selbstgerechtigkeit aus ihr? Oh, du wärst gut im Fasten! Probier es nur aus! Vielleicht findest du Gott auf dem Weg zur Heiligsprechung. Vielleicht findest du aber auch einfach... nichts.

NARAYANA: Spüre ich da Angst in deinem Zynismus? Kann es sein, dass du fürchtest, ich könnte dich ersetzen durch eine neue Form von Selbstkontrolle?

NATARAJA: Es wäre keine Selbstkontrolle. Es wäre Kontrollverlust.

NARAYANA: Auf einmal...

NATARAJA: Was glaubst du, wie schnell ich ersetzt wäre durch jemanden, der dir einflüstert, dass du nur dann ins Paradies einziehst, wenn du das radikalste Fastenprogramm durchziehst, der dir deine Sünden vorhält, der dir versichert, dass du Gottes widerlichste und missratenste Kreatur bist? Dein Problem ist, dass du dich selbst nicht kennst. Du bist besessen und wenn du nicht von dir selbst besessen bist, so musst du einen Ersatz dafür finden. Gott? Die Anerkennung der Massen? Aber eines wirst du niemals sein: in Ruhe. Du bist immer nur alleine mit dir! Und ob nun ich zu dir spreche oder ein von dir erfundener Gott...

NARAYANA: Du drohst mir!

NATARAJA: Ich konfrontiere dich mit der Wahrheit. Wie immer.

NARAYANA: Wie kann ich überhaupt wissen, dass du die Wahrheit sagst?

NATARAJA: Weil du daran glaubst, was ich sage. Ich sage nichts, was du nicht ohnehin verinnerlicht hast. Willst du mich nun deinen Gott nennen oder bleiben wir bei unserem jetzigen Verhältnis? Willst du mich umdeuten oder deine Kunst – von armselig zu dekadent? Oder umgekehrt?

NARAYANA: Als könnte man sich entscheiden, woran man glaubt...

NATARAJA: Du glaubst also, die eigenen Gedanken sind vorherbestimmtes Schicksal?

NARAYANA: Ich glaube gar nichts. Überhaupt nichts mehr.

NATARAJA: Ich wünschte, ich könnte dir das glauben.

NARAYANA: Ich frage mich, wann das angefangen hat.

NATARAJA: Was?

NARAYANA: Du. Wann hast du angefangen, mich zu quälen? Wann und warum? Wie ist das abgelaufen?

NATARAJA: Du meinst, wenn du den falschen Weg eingeschlagen hast? Wann du diese eine grundlegend falsche Entscheidung getroffen hast?

NARAYANA: Ja.

NATARAJA: Nein. So ist das nicht gelaufen. Du kannst eine ganzes, vermurkstes Leben nicht auf einen Moment herunter brechen. Aber ich kann dir auf die Sprünge helfen, wenn du willst: Wenn du zurückdenkst, was ist die vorherrschende Emotion?

NARAYANA: Scham. Und Reue.

NATARAJA: Und warum ist das so?

NARAYANA: Weil du es mir so vorgibst!

NATARAJA: Oh, nein. Das ist nicht wahr! Hör auf, Schuld verteilen zu wollen. Du weißt es doch besser, nicht wahr. Dein Problem ist, dass du zufällige Erfolge nicht anerkennst, Fehlschläge hingegen als tiefschwarze und nicht wieder wegzuwischende Flecken auf deiner Seele erachtest. Du blickst zurück und siehst nichts als Stolperer, Unzulänglichkeiten, Peinlichkeiten, undurchdachte Entscheidungen, stümperhafte Werke. Deine Freunde hast du brüskiert, deine Familie beschämt, alle deine Beziehungen aufgelöst, in allen deinen Jobs keine Ambition. Konsum langweilt dich und deine Kunst ist ein ständiges Hin und Her zwischen Beachtet-werden-wollen und Maske. Du willst nicht enttarnt werden, aber du willst auch nicht untergehen. Du klammerst dich an die Strohhalme, die andere hinterlassen haben und bastelst darauf minderwertigen Weihnachtsschmuck. Oh, du bist besser geworden, aber bist du auch gut genug? Du bist nie gut genug und der Tag rückt näher, an dem du nichts mehr zu sagen haben und du dich nur noch wiederholen wirst. Du wirst langweilig werden und du wirst niemals wirklich oben gewesen sein, weil du von Anfang an nichts weiter als mittelmäßig gewesen bist! Du hast die großen Gedanken nicht gedacht und wahrscheinlich hast du sie noch nicht einmal verstanden! Du hast nichts getan als dich selbst zu bemitleiden und weil du das niemandem zeigen wolltest, weil du dir das selbst verboten hast, verrennst du dich in Themen, die dich persönlich nichts angehen. Du lenkst dich ab mit dem Leid anderer, für das du vorgibst, dich zu engagieren, damit du dich nicht damit beschäftigen musst, was bei dir schief läufst! Hast du es je getan? Hast du je irgendwas getan? Du weißt, dass du keinen Gedanken zulässt, den du nicht analysiert hast. Aber wie richtig sind deine Schlussfolgerungen? Wer kann es dir sagen? Und während du über die komplexe Einfältigkeit deines Daseins grübelst, verblassen all die Erinnerungen, die dich vielleicht aufbauen würden. Warst du früher eigentlich der gleiche Mensch wie heute? Was hast du noch mit ihm gemeinsam und wie gerechtfertigt ist es, stolz zu sein, wenn da so viel ist, das du lieber verstecken solltest, um dich nicht bloßzustellen. Aber du weißt es und ich weiß es! Du weiß, dass man nichts verstecken kann... Und deshalb frage ich dich: Was tust du hier?

Ein Raum ohne Spiegel ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten! Ist das alles, was denen einfällt? Armselig!

NARAYANA: Es konnte nur so weit kommen, weil ich nie mit jemandem geredet habe. Ich hätte jemanden gebraucht, dem ich vertrauen hätte können.

NATARAJA: Du vertraust niemandem! Du hast keine große Meinung von dir selbst, aber von anderen Menschen hältst du noch weniger, sei ehrlich!

NARAYANA: Ich wollte niemanden belasten, ich wollte niemandem Sorgen bereiten.

NATARAJA: Wie sagt man so schön: Gib frei, was du liebst und erst, wenn es zu dir zurück kommt, bist du seiner Gegenliebe sicher.

NARAYANA: Es ist nie etwas zurückgekommen.

NATARAJA: Sie sind gegangen und du bist geblieben. So läuft das, wenn man den Anschluss verpasst und sich auf idiotische Sprichwörter verlässt! Du hältst dich vielleicht für den Mittelpunkt des Universums, aber das bist du nicht!

NARAYANA: Ich glaube, mir wird schlecht.

NATARAJA: Das sollte es auch.

NARAYANA: Ich ertrage deine Gegenwart beim Essen nicht!

NATARAJA: Aber irgendjemand muss dir doch Gesellschaft leisten und auf die aufpassen. Willst du etwa anfangen dir unkontrolliert dieses Zeug reinzustopfen? Du weiß noch nicht einmal, was da drin ist. Was, wenn es vergiftet ist?

NARAYANA: Wieso sollte es vergiftet sein?

NATARAJA: Fett ist Gift, oder etwa nicht?

NARAYANA: Ich muss mich übergeben!

Narayana steht auf und stürzt zur Tür ins Badezimmer hinaus.

NATARAJA: Das Leben verhält sich zum Tod wie Lärm zu Stille, Krieg zu Frieden, Verfall zu Regeneration, Konflikt zu Harmonie, Tumult zu Einsamkeit und Chaos zu Ordnung. Natürlichkeit ist also keineswegs ein wünschenswerter Zustand, sondern viel eher ein sicherer Weg in den Wahnsinn. Wir kanalisierten diesen Wahn durch Religionen oder Ideologien, nennen ihn gesund und bezeichnen ihn lapidar als Emotion. Es ist dieser irrationale Zustand, der uns zum ewigen Kampf treibt. Ein dummer Mensch kämpft für König, Vaterland und Religion. Ein aufgeklärter Mensch kämpft für sich selbst. Ein kluger Mensch kämpft nicht und richtet so den meisten Schaden an.

Nataraja ab.

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