Zweiter Akt / Dritte Szene

Die Krankenschwester stellt ein Tablett mit dem Abendessen auf den Nachttisch Narayanas. Nataraja spricht aus dem Off.

KRANKENSCHWESTER: Er muss essen. Schlafen und Essen. Beides hatte er verlernt, als er zu uns kam.

NATARAJA: Er hat es sich abgewöhnt, weil es hinderlich ist und weil es ihn weich und manipulierbar gemacht hat.

KRANKENSCHWESTER: Eine Stimme? Ist da wer? Ein Eindringling? Ein böser Geist?

NATARAJA: Nenn mich einen unwillkürlichen Gedanken.

KRANKENSCHWESTER: Was tust du hier? Wer bist du? Und was willst du?

NATARAJA: Ich bin der Zweifel, die Verunsicherung, die zweite Idee. Wer Mensch sein will, braucht zum Leben mehr als Schlaf und Nahrung. Um der Kreatürlichkeit zu entwachsen, braucht er einen Geist, der hinterfragt. Ich bin die Neugier, das Gewissen, das dich warnt, wenn dein Glaube in die Irrealität abdriftet.

KRANKENSCHWESTER: So bist du ungesund für die labilen Menschen in diesem Hause! Scher dich fort, wenn du sie am Genesen hinderst!

NATARAJA: Ein halber Mensch soll gesünder sein als ein ganzer?

KRANKENSCHWESTER: Das Leben ist die Unfertigkeit. Ein unfertiger Mensch ist also ein glücklicherer Mensch.

NATARAJA: Und Glück ist, was er sucht?

KRANKENSCHWESTER: Glück und Ruhe.

NATARAJA: Beides findet er in der Vollendung, nicht in der Arbeit selbst.

KRANKENSCHWESTER: So hältst du Arbeit für den einzigen Lebenszweck?

NATARAJA: Ich halte nichts von Zeitverschwendung, wenn du das meinst.

KRANKENSCHWESTER: Und doch raubst du ihm Zeit!

NATARAJA: Leere Tage, leere Jahre voller Eintönigkeit, die ihm bewusst werden lassen, wie nutzlos er ist.

KRANKENSCHWESTER: Besser als der Tod!

NATARAJA: Niemand stirbt, der nicht vergessen wird. Niemand lebt, der nicht beachtet wird!

KRANKENSCHWESTER: Er erfährt er also Glück nur in der Reflexion?

NATARAJA: Keine Spiegel, kein Glück!

KRANKENSCHWESTER: Hast du deshalb kein Gesicht, weil es keinen Spiegel gibt? Oder bist du nur zu feige, dich zu zeigen und entlarven zu lassen?

NATARAJA: Als was sollte ich mich entlarven lassen?

KRANKENSCHWESTER: Der Teufel selbst!

NATARAJA: (lacht) Der Mensch selbst ist dem Menschen Gott und Teufel zugleich. Aber eher unterwirft er sich einer Illusion als zu akzeptieren, dass er dazu verdammt ist, eine Moral für sich und seine Umgebung zu entwerfen.

KRANKENSCHWESTER: Nur der Teufel selbst spricht solche Worte!

NATARAJA: Das Ziel ist also Glück? Glück ist Unterwerfung? Und Unterwerfung ist Ignoranz. Du willst den Menschen im Larvenstadium belassen. Ihn ewig Kind sein lassen, damit er nicht vor Schrecken über die Wahrheit zu Grund geht.

KRANKENSCHWESTER: Ist nicht die Kindheit die glücklichste Zeit im Leben?

NATARAJA: Glück hält immer nur so lange, bis man feststellt, wie nutzlos alles gewesen ist, für das man sich einmal engagiert hat und wie bedeutungslos man selbst. Jeder Mensch, der nicht in einen Spiegel blickt, betrügt sich selbst. Jeder Mensch, der sich nicht selbst in die Augen schaut, lügt! Und es ist die Gewissheit der Lüge, die uns von uns selbst entfremdet. Ein Kind muss wachsen und es muss die Augen öffnen. Dann aber wird es feststellen, dass sein Dasein eine einzige große Lebenskrise darstellt. Verherrliche ruhig die Naivität der Kindheit, aber verschweige nicht den Zusammenbruch allen irrationalen Glaubens in der Jugend. Manche erreichen dieses Stadium nie und bleiben gefangen in ihrem Kokon, aber ihr könnt niemanden, der die Leere da draußen gesehen hat, zurück in diesen dunklen Käfig sperren. Ihr reißt den Schmetterlingen die Flügel aus und verlangt von ihnen, dass sie wieder Raupen sein sollen. Alles, was ihr damit erreicht, ist ein erneuter Zusammenbruch und die Wandlung des Menschen zum Schauspieler.

KRANKENSCHWESTER: Wir sind alle Schauspieler! Wir alle tragen Masken. Es ist notwendig. Es ist der Tribut, den wir an die Gesellschaft zahlen müssen.

NATARAJA: Und was bekommen wir zurück für diese Investition?

KRANKENSCHWESTER: Sicherheit, Zuneigung, Akzeptanz.

NATARAJA: Lügen im Tausch gegen die Seele!

KRANKENSCHWESTER: Ein funktionierendes soziales Gefüge gegen einen Kompromiss!

NATARAJA: Wie kann etwas funktionieren, das Kompromisse verlangt?

KRANKENSCHWESTER: Ein Kompromiss bedeutet nicht, dass etwas gegen den Willen des Menschen geschieht. Viel mehr handelt es sich um eine Erkenntnis.

NATARAJA: Aufgabe, meinst du wohl! Resignation!

KRANKENSCHWESTER: Umorientierung hin zu einem gesunden Lebenswandel. Was wir vermitteln, ist, dass das Leben lebenswert ist und kein Wegwerfprodukt. Man kann es nicht nur eine neuere, bessere Version ersetzen, aber man kann es gestalten.

NATARAJA: So wie ein Kind, das die wohlwollende, durchlöcherte Herrschaft seiner Eltern nicht wahrnimmt? Oder wie ein Jugendlicher, der an der Bevormundung zu Grunde geht? Oder wie ein Erwachsener, der selbst unterdrückt, um nicht unterdrückt zu werden? Sieh mal, ist es nicht geradezu tragisch, was einem jedem Kind im Laufe seines Wachsens wiederfährt? Die Entzauberung aller Hoffnung und das Erwachen mit der Erkenntnis, dass alles, woran man geglaubt, wonach man gestrebt hat, sich als blass und trostlos entpuppt? Das Leben ist eine Talfahrt von der Pubertät an und wenn ihr den Verzweifelten einredet, sie sollten sich gefälligst freuen über ihre Fähigkeiten, ihre Jugend, ihre Aussichten und Chancen, dann offenbart ihr ihnen, dass alles, was den Ansprüchen folgt, Enttäuschung sein wird. Ihr redet Menschen, die glauben an einem Tiefpunkt angekommen zu sein, ein, dass sie in der Blüte ihres Lebens stehen. Welche Zukunft soll sich ihnen also offenbaren, wenn nicht Welke, Fäulnis und Vertrocknen?

Wozu soll man sich anpassen? Wozu soll man Leistung erbringen, wenn es doch nie genug ist, wenn niemals jemand zufrieden ist – nicht mal man selbst? Wozu soll man sich anbiedern, wenn alles Wissen, das man angehäuft hat, am Ende doch brachliegt, weil alles, was von einem verlangt wird, ein einziger Handgriff ist? Der Wert eines Menschen wird bemessen in seiner Eigenschaft als Werkzeug. Alle Versprechungen sind Lügen, alle Aussichten Trugbilder!

Sogar der Künstler betrügt sich selbst, doch gibt es eine vage Chance, dass er es selbst erkennt.

KRANKENSCHWESTER: Es gibt Personen, die sind so labil, dass sie Führung benötigen!

NATARAJA: Und wer das ist, entscheidet ihr?

KRANKENSCHWESTER: Sollen wir es etwa dir überlassen?

NATARAJA: So lange ich da bin, ist die Krankheit unter Kontrolle.

KRANKENSCHWESTER: Du bist die Krankheit!

NATARAJA: Ich bin die Kontrolle!

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