Vierter Akt / Fünfte Szene
Das Krankenzimmer. Nataraja allein.
NATARAJA: Fort ist er. Die Bestrafung folgt auf dem Fuß. Ein Blick in den Spiegel ist ein Verbrechen, so scheint es. Selbstkommentierung ist ein Tabu. Sie wollen die Stimmen zum Schweigen bringen, sagen sie. Die Stimmen, die nichts weiter als das Echo sind, das widerhallt in den ausgehölten Herzen jener Kreaturen, die bereit sind, sich selbst zu erkennen. Ehrlichkeit zu sich selbst hat kein gutes Image in einer Welt, die durch Lügen am Laufen gehalten wird.
Ich bin nicht der Feind.
Der Feind ist der Wankelmut, der Kompromiss, das Eingeständnis. Entscheidungen ab- und aufzugeben macht uns schwächer, nicht gesünder. Meinungen zu erodieren, höhlt uns aus. Was ist übrig, wenn sie ihm die Überzeugung nehmen und die Leere dann mit Lügen füllen? Nichts. Es ist ein fremdes, falsches, heuchlerisches Nichts, das sie ihm einpflanzen, an Stelle seines eigenen... Nichts. Sie kennen den Text. Nicht einmal der Schlaf kann ihn vor den Gedanken verstecken, die durch seinen Kopf splittern. Nichts. Der herausstehende Nagel, wird niedergehämmert. Nichts. Ehrlichkeit tötet. Sie kennen den Text...
Und übrig bleibt die Angst. Nackte, kalte, rasende Angst. Nicht ich bin der Feind. Der Feind ist die Unsicherheit, die sie ihm einreden. Die Schwäche, die sie ihm andichten. Die Kontrolle, die sie ihm nehmen und die sie über ihn ausüben.
Sie erzählen ihm etwas vom Widerspruch zwischen Kunst und Natur. Sie wollen ihn natürlich. Sie wollen ihn instinktiv. Sie wollen ihn unreflektiert. Was aber ist der Mensch, wenn nicht Künstler? Nichts. Er kann nur schaffen oder zerstören. Existenz ist keine Option!
Er ist sein eigener Architekt. Er gestaltet sein Schicksal. Er hat Pläne. Existenz ist keine Alternative.
Ich bin nicht der Feind. Der Feind, das sind die anderen. Leiden bedeutet beobachtete, bedeutet isoliert zu sein. Leiden bedeutet, keine Macht über die eigenen Entscheidungen zu besitzen, keine Verantwortung übernehmen zu können, missachten, unterschätzt, belächelt, verehrt, geliebt zu werden, Erwartungen erfüllen zu müssen. Leiden bedeutet, eingebunden zu sein und weder die Aufmerksamkeit, noch die Ignoranz ertragen zu können.
Und so stellt er – der Mensch – an Stelle seines Ichs seine Kunst. Und man legt ihm das Verstecken als Arroganz aus. Und man legt ihm seine Ansprüche als Anmaßung aus. Und die Frustration, mit der er seine Werke zerstört halten sie für Gewalt, für krankhaft und gefährlich.
Ist nicht die Einsamkeit der einzige Balsam für diesen Menschen, der getrieben ist von Erwartungen und Konventionen? Ist nicht die Einsamkeit oder die Bürde, in den Augen der anderen ein Egoist zu sein, das einzige sichere Ziel eines Flüchtenden?
Und diese Bürde... ist sie nicht der Quell allen Unglücks? Der Egoismus der anderen, den einen des Egoismus zu beschuldigen, der ihnen nicht die Beachtung schenkt, die sie glauben, verdient zu haben?
Ich bin nicht der Feind. Der Feind, das sind Sie! Denn was zerfrisst den Menschen? Die Furcht andere zu enttäuschen, für andere nichts weiter als ein Quell von Sorgen zu sein. Er will Sie nicht enttäuschen. Er will Sie nicht beunruhigen. Er will, dass Sie glücklich sind, aber er selbst kann Ihnen dieses Glück nicht bereiten. Ist er ein Versager? Sagen Sie es mir! Sagen Sie mir, wer der wahre Egoist ist!
Ich klage Sie an! Sie alle, den Druck, Ihren Erwartungen zu entsprechen!
Am liebsten wäre er nirgendwo. Nicht in diesem Raum. Nicht in diesem Haus. Nicht in dieser Zeit. Nicht in Ihren Gedanken! Am liebsten würde er nicht gesehen werden! Er will unsichtbar sein, er will klein und mickrig sein. Er isst nicht, um nicht kommentiert zu werden. Er isst nicht, weil er zu verschwinden versucht, weil er glaubt, alles, was er anfasst, mit seiner Mittelmäßigkeit zu besudeln, alles, was er konsumiert, sei verschwendet.
Ich bin nicht der Feind. Der Feind ist der Durchschnitt. Sie reden uns ein, dass es schon ausrecht, normal zu sein. Warum? Damit Sie selbst herausstechen können? Der Feind ist der Wettbewerb und die gleichzeitige Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem nach Fortschritt. Es ist einsam an der Spitze, aber es ist ein Hauen und Stechen in der Masse. Wer am Boden liegt, wird niedergedrückt, wer bestehen will, muss unfair spielen, wer es nach oben schafft, muss sich der Verachtung stellen.
Ich bin nicht der Feind. Der Feind ist alles, das nicht nichts ist.
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