two
Als sie die Tür öffnet, richten sich sieben Augenpaare auf ihre schmale Silhouette. Im ersten Moment spürt sie wieder die Abscheu und den Spott, die zu sehen sie immer in den Blicken ihrer Kollegen erwartet, aber alle Augen sind sachlich und ohne eine Emotionen wie diese, die sie manchmal in den Blicken eines anderen Mannes gesehen hat. Eine einzige Frau ist unter ihnen, eine junge, kleine Person namens Catrina Boyvish – eine Schottin, glaubt sie zu wissen.
Als sie sich an einem provisorischen Schreibtisch vorbeidrängt, wenden sich ihre Kollegen wieder von ihr ab; sie hört ihre Stimmen leise reden. Klein und vollgestellt ist der Wellblechraum, mit einem einzigen beschlagenen Fenster und einer dreckig weißen Tür. An den Wänden hängen Karten, Fotografien, Skizzen, Pläne, Protokolle, Datenausdrucke und Messbeobachtungen, ein paar davon in Spanisch, die meisten aber auf Englisch. Es ist ein internationales Forschungsprojekt; von den vielen Menschen, die hier arbeiten, sind viele in den USA oder in Europa geboren.
Unauffällig schiebt sie sich in den kleinen Kreis ihrer Kollegen, nicht unabsichtlich, aber scheinbar zufällig neben Nicolau Caminero, obwohl sie dafür wieder ein Stich von Schuldgefühl und Scham spürt. Er wirft ihr, ohne die Aufmerksamkeit von den Gesprächen der anderen zu nehmen, ein stummes, kleines Lächeln zu, das sie schüchtern erwidert.
„Bist du gelaufen?", fragt er leise, als er ihre schweißnasse Stirn registriert.
„Es tut mir leid", erwidert sie in derselben Lautstärke und hofft wie jedes Mal einerseits, dass er nicht die hässlichen Narben sehen möge, und gleichzeitig, dass sie ihm doch auffallen – damit er sie anspricht, oder auch, damit er sich von ihr abwendet und sie nicht weiter gezwungen ist, sich selbst etwas vorzugaukeln.
„Es war keine Maschine mehr da. Die meisten Tore waren geschlossen, wegen des Festes."
Er nickt wortlos, aber noch immer mit dem Anklang eines Lächelns, und als er sich abwendet, um wieder vollends dem Gespräch zu folgen, spürt sie den Hauch von Enttäuschung, der ihre Kehle hochzieht, gleich darauf die leichte Röte, die ihre Wangen ziert, das eigentümliche, vertraute Gefühl der irrationalen Furcht und der Distanzierung und – stärker noch als zuvor – die tiefe Schuld, die langsam, aber sicher Aurelios Fingerabdrücke auf ihre Haut zeichnet.
Ihr Vorgesetzter nickt ihr kaum merklich zu. Im Gegensatz zu Nicolau ist er ein großer Mann, mit herrischem, schmalem, langem Gesicht, durchfurchten, klaren Zügen und leicht ergrautem Haar; Nicolau hat eine weiche, vertraute Art, die sie sehr schätzt, auch wenn sie weiß, wie leicht man sich in einem Menschen täuschen kann.
Ruben Fletcher, obwohl er selbst ein Inbild von Professionalität, Korrektheit und Distanz darstellt, ist ein Mann wie die, die sie gelernt hat, zu fürchten.
„Señora Lahembra." Er wartet einen Moment, damit der Rest ihrer Kollegen seine Gespräche beendet. „Ich schätze, Sie haben Ihr Bestes getan, rechtzeitig hierher zu gelangen."
Sie zieht unabsichtlich ein wenig den Kopf ein, obwohl kein Tadel in seiner Stimme gelegen hat. „Das habe ich." Vorsichtig fährt sie mit der Zunge über ihre Lippen und wirft einen schnellen, neugierigen Blick zu der dreckig-weißen Tür leicht hinter ihr. „Ist er da drin?"
Ruben Fletcher nickt nur. „Gehen wir", hört sie einen ihrer anderen Kollegen sagen, und jeder dreht sich nach seinen Notizen, Akten und Papieren um, um zu sammeln, was sie gleich brauchen werden. Es ist nicht viel von den Bergen an Material, das in diesem Zimmer lagert; normalerweise sind sie nicht zu acht in diesem Bunker. Als die Eilmeldung sie und ihre Mitarbeiter erreicht hat, sind viele von ihnen bereits in die Städte zurückgekehrt über den Feiertag; alte Tempel und Ruinen, die Flora und Fauna des Waldes sind trotz ihrer Lebendigkeit fähig, ein paar Tage ohne sie zu überdauern. Nur wer gerade akute Studien und Beobachtungen, die nicht von Maschinen oder von anderen Stellvertretern durchgeführt werden können, leitet, ist geblieben. Es sind nicht viele. Das Projekt ist fast beendet, soll zu Neujahr endgültig abgeschlossen werden.
Sie greift hastig nach einem Klemmbrett, ein paar leeren Papieren und einem Kugelschreiber. Sie hat sich keine Notizen gemacht, keine vorherigen Theorien aufgestellt; dazu hat sie nicht die Zeit gehabt. Ob sie bleiben würde oder nach Hause zurückkehren würde diese Weihnachten war lange Gegenstand einer Diskussion gewesen, eines Telefonates. Wenn sie daran denkt, spürt sie die Galle in ihrem Hals hochsteigen vor Schuldgefühlen und vor Angst.
Du bist so lange weg gewesen, hat Aurelio gesagt, und er hat es in einem so leivollen Ton gesagt, so emotional und echt, dass sie es selbst durch den Lautsprecher ihres Handys gehört hat. Du weißt doch, wie es mir geht, wenn du nicht da bist. Dann beginnt die Flaschenzeit. Irgendwann hat sie es so genannt, Flaschenzeit.
Warum kommst du nicht über Weihnachten wieder zu mir?
In diesem Moment haben die Narben und die Wunden, die in den letzten Monaten ihrer Abwesenheit wegen des Forschungsprojekts überschminkt in ihrem Gesicht, vor allem aber auf Armen und Beinen, an der Hüfte und den Schultern langsam einem Heilungsprozess unterzogen gewesen sind, mehr geschmerzt als je zuvor, und sie hat über ihre Wange gestrichen und gewusst, warum.
Willst du Weihnachten mit einem anderen verbringen?, hat er gefragt, so besorgt, dass sie ihn niemals angelogen hätte, auch wenn sie an Nicolau denken musste.
Sie lässt zwei ihrer Kollegen den Vortritt hinter dem jungen Mann mit dem lockigen Haar. Als ihr ebenjenes Telefonat in den Kopf steigt, fühlt sie sich, als seien ihre Worte und vor allem ihre nichtgesagten Worte in ihre Haut geritzt, so offensichtlich und anprangernd, dass jeder es sehen kann, deswegen will sie nicht direkt hinter Nicolau gehen, obwohl ihr Blick immer wieder zu Teilen seines Hemdes oder seines Körpers, die hinter den anderen hin und wieder hervorschauen, zurückschwebt – eine Hand, ein Ärmel, eine Locke, eine Schuhspitze.
Aurelio weiß nichts von Nicolau. Er verdächtigt sie einfach aus Misstrauen heraus, sie könnte andere Männer ihm vorziehen. Dann versucht er es mit den Drohungen. Mit Bitten und Betteln und Appellen. Mit Geschenken, Wünschen und Versprechen. Dieses Weihnachten ist sie hart geblieben.
Vielleicht wird sie es bereuen.
Nicolau öffnet die Tür. Es ist nicht nur die Entfernung von Aurelio und die Nähe zu Nicolau, sondern auch der Inhalt der Eilmeldung, der schließlich eine Abreise verhindert hat. Einen Menschen haben ihre Kollegen Boyvish und Puente gefunden, einen Menschen in einem der Tempel, die von außen so gut verschlossen scheinen, dass nicht einmal neu- und geldgierige Schatzsucher oder organisierte Räuberbanden es gewagt und geschafft haben, sie zu betreten. Und nicht etwa einen toten Menschen haben sie gefunden, sondern einen lebenden Mann, einen lebenden jungen Mann.
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