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Ich stolpere zurück. Seine Worte haben eine solche Wucht, dass ich nach hinten taumele und froh bin, dass meine Füße mich noch auffangen.
Meine Gedanken beginnen, wie ein absurd überspanntes Karussell herumzuwirbeln, an dessen Wänden sie zerdrückt werden wie in einem Mörser.
Warum hat er nach mir gefragt? Kenne ich ihn? Woher kenne ich ihn? Hat er wirklich Kinder gefressen? Ist er ein Mörder? Ein Kinderschänder? Wann habe ich diesen Namen je gehört, dieses Wort; diese absurden Augen je gesehen, dieses makabre Grinsen?
„Lahembra?" Fletchers alarmierte Stimme dringt aus dem Kopfhörer meines Headsets. Ich reibe mit den Fingern über meine Lippen, als könnte ich die Übelkeit vertreiben, die meinen Hals hinaufsteigt.
Peter Pan, der Kinderfresser. Der Kinderfresser.
Der Kinder -- fresser.
„Ich ... es ... alles in Ordnung. Nichts ist - passiert, ich war nur ... ich bin nur -"
Ich hole kurz Luft. Ich will nicht mit dem Gefangenen reden. Ich wollte es nie, aber ich muss es, wenn ich wissen will, wer er ist und warum er hier ist, warum er mich kennt und was er vorhat. Und ich bin beschützt. Ich bin doch in Sicherheit hinter dieser verdammten Plexiglasscheibe.
„Ich habe mich nur erschreckt. Es ist alles in Ordnung.", wiederhole ich, diesmal leise und sehr viel ruhiger, obwohl in meinem Kopf noch immer ein Gedanke den anderen frisst. „Ich bin okay."
„Er ist offensichtlich stark verwirrt", sagt Fletcher langsam. „Wir können warten, ob sich das morgen gelegt hat. Lahembra, kommen Sie raus, wenn Sie es nicht mehr schaffen."
Morgen werde ich nicht wieder einen Schritt in diesen Raum machen. Ich werde es nie wieder tun, mich nie wieder dazu durchringen. Wenn wir eine Chance haben, dann nur jetzt.
Widerstrebend schüttle ich den Kopf und baue ich wieder Blickkontakt zu dem jungen Mann auf; recke das Kinn, um zu zeigen, um zu lügen, dass ich noch nicht fertig bin.
Er hat keine Miene verzogen, sitzt wieder wie vorhin, ohne Treuherzigkeit, ohne Enttäuschung, ohne ein Grinsen. Ich gehe langsam auf ihn zu.
„Peter Pan ist ein Kind.", sage ich leise, aber bestimmt.
Seine Mundwinkel verziehen sich kaum merklich. „Ich bin es lange gewesen, und ich werde es auch wieder sein." Er neigt den Kopf. „Es ist eine Metamorphose, eine immerwährende Metamorphose."
„Eine Metamorphose?"
„Oh ja. Und ich, Galathea ..." Er beugt sich zu mir hin; ich kann seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren, so glühend heiß und faulig, wie der feuchte Händedruck des Todes, wie der erste Gruß der Verwesung. „... ich stehe kurz vor meiner Reinkarnation."
Bei seinen Worten erschaudere ich wieder. Ich habe das Gefühl, als hätten sie plötzlich etwas in Gang gesetzt, als sei der Rhythmus des Regenwaldes noch lauter, noch schneller, noch tosender, noch fülliger, noch stakkatohafter, noch drängelnder, doch drohender, noch permanenter, noch mehr wie Totentrommeln, noch mehr wie der nonverbale Befehl, die Opfergabe auf den Altar zu legen. Mit einem Mal höre ich den Amazonas lauter denn je, obwohl ich mich im Inneren einer Hütte befinde - die Schreie, die Verzweiflung, die draußen hängt, die Feindseligkeit, die Hilflosigkeit, das Labyrinth aus den winzigen Lungenverzweigungen des Waldes. Ich höre die Tiere, panisch gellend wie Schweine vor dem Schlachter, als wüssten sie, dass ihre Mutter, der Amazonas, sie zwar behütet, aber auch verschlingt, wenn ihre Zeit gekommen ist, langsam verdaut und zersetzt in ihrer stinkenden, abstoßenden Magensäure.
Reinkarnation. Kurz vor seiner Reinkarnation.
Das Minzegrün ist plötzlich die Visualisierung der Angst, der Enge, der Gefangenheit. Deswegen bin ich froh, als Fletcher wieder zu mir spricht, auch wenn seine Stimme wie durch auditiven Nebel zu mir hindurch dringt. Schwach erreicht mich ein rauschiges Tippen im Hintergrund der Tonübertragung. Vielleicht sitzt irgendjemand an einem Gerät, recherchiert, zeichnet unser Gespräch auf, kontaktiert Psychologen und andere Fachleute, aber ich vermeide es, nach draußen durch die Plexiglasscheibe zu sehen.
Nein, oh nein. Ich sollte aufhören, mir etwas vorzumachen, jetzt erst recht, wo mir noch immer die Tierstimmen in den Ohren nachhallen wie ein plötzlich abgerissener Albtraum. Er verhindert es, dass ich durch die Glasscheibe sehe. Irgendwie.
„Es ist gut möglich, dass sein Zustand durch einen Unfall oder durch das ungewohnte Klima herbeigeführt worden ist. Er könnte eine Art Hitzeschlag erlitten haben ... oder eine Krankheit, wenn er nicht anständig geimpft ist."
So viele Worte, die Fletcher zu mir sagt, aber ich höre sie nicht alle so laut und deutlich wie er sie vermutlich spricht.
„Kommen Sie wieder raus. Ich denke, Sie können nicht viel mehr aus ihm herausholen."
Er kann die Worte auch hören, weil ich noch immer so nah an seinem Gesicht bin, dass ich nur minimal aus dem Gleichgewicht kommen müsste, um mit der Nase seine Wange zu berühren. Aber ich weiß, dass er nicht sprechen wird, solange das Mikrofon so nah an seinen Lippen ist. Es ist wie vorhin mit McCarty und Iversen. Er spricht mit niemandem. Nur mit mir.
Fletcher räuspert sich; vielleicht ist ihm gerade auch bewusst geworden, was ich denke.
„Lassen Sie das, Lahembra", sagt er mit einer Mischung aus Härte und Sanftheit, die nur Männer mit seiner Widerstandsfähigkeit und seiner Erfahrung aufbringen.
Ich schlucke und versuche langsam, mein Gewicht weiter nach hinten zu verlagern, um ein paar Schritte weg von dem Gefangenen zu gehen. Als die Muskeln in meinem Hals einen Klumpen Spucke hinunterwürgen, fühlt sich meine Kehle ganz wund an und ich spüre, wie die Druckwelle in meinen Ohren knackt. Sie bringt die Trommeln zurück, die Regenwaldtrommeln.
„Meine Zeit ist noch nicht um, nicht wahr?", frage ich trocken ins Mikrofon. Fünf Minuten haben sie mir gegeben. Der Gefangene verzieht wieder die Mundwinkel zu einem Lächeln und ich zucke zurück, darauf vorbereitet, wieder verfärbtes Fleisch um seine Zähne zu sehen, aber seine Lippen bleiben geschlossen; nur an deren Enden bohren sich dunkle - wie ich mir einbilde, bläuliche - Schatten in seine Wange. Es ist ein Grinsen das nein zu sagen scheint, obwohl kein herablassender Hohn darin liegt, nein, deine Zeit ist tatsächlich sehr bald um. Es sagt nicht, welche Zeit er meint.
„Nein", gibt Fletcher zu. „Aber es wäre sicher besser -"
„Ich komme klar." Ich beiße mir fast sofort auf die Lippe. In meiner Kindheit, meiner Jugend hätte ich so etwas sicher gewagt. Einen Mann unterbrechen, einen älteren Mann, meinen Vorgesetzten auch noch und einen solchen Mann, wie es Ruben Fletcher sein könnte. Wie es Aurelio ist. Eine andere Version von mir, eine, die irgendwie stehen geblieben ist, als ich durch die Plexiglasscheibe gegangen bin, würde sich vorstellen, wie Fletcher die Augenbrauen zusammenzieht, wie sich die Furchen auf seiner Stirn tiefer eingraben. Ich, die ich mich noch immer nicht von dem Gefangenen lösen kann, kann an nichts davon denken. Nur, dass ich hierbleiben muss. Ich muss wissen, wer dieser Mann ist, warum er hier ist und was er von mir will. Warum er meinen Namen kennt. Die Trommeln in meinem Kopf sind bloß das Blut in meinen Ohren, das heftiger zirkuliert denn je.
Ich deute Fletchers Schweigen als eine stumme Erlaubnis, und in diesem Moment, indem ich glaube, mich wieder ein wenig zusammengerissen zu haben, schaffe ich es, einen Fuß nach hinten zu setzen und aus der unmittelbaren Reichweite des Gefangenen zu kommen. Nicht weit genug zwar, um den Fäulnisgeruch auszublenden, der über ihm schwebt wie der Modergeruch im Unterholz des Waldes, und auch nicht, ohne seinen minzefarbenen Iriden auszuweichen, aber doch eineinhalb gute Schritte, die mir erlauben, meine nächste Frage zu formulieren.
„Warum nennst du dich selbst den ..." Wieder lecke ich mir über die Lippen. Es ist keine Regung, um meinen Mund zu befeuchten, denn die Luft in diesem Raum ist schwül genug, gerade so, als wären wir draußen vor dem Bunker. Es ist ein Zeichen von Nervosität und ein vergeblicher Versuch, das Wort, das ich gleich wieder aussprechen muss, wegzulöschen, bevor es meine Haut verätzt. „... den Kinderfresser?"
Er legt den Kopf schief und zieht mit einem fast kindlich sturen Ruck die Schultern hoch, und es ist eine so ungewohnt menschliche Bewegung, dass mein Blick von seinem Gesicht abrutscht und irritiert an den Rändern des Tuchs hängen bleibt, das Millimeter für Millimeter von seiner bronzenen Haut entblößt. Als er es bemerkt, huscht eine Emotion über sein Gesicht, die ich nicht auffangen kann, weil sie so schnell wieder vorüber ist.
„Ja, schau nur hin", sagt er leise und beinahe betrübt. „Man sieht es mir an. Ich bin kurz vor dem Verhungern."
Er wirkt nicht wie jemand, der tagelang Hunger gelitten hat; im Gegenteil, ich kann trotz des weißen Tuches sehen, dass sein Körper kräftig und gesund ist, aber das kann es auch nicht sein, was er meint. Oder vielleicht ist es auch gerade das. Peter Pan. Der Junge, der nie erwachsen wird. Daran muss ich denken, als ich die Stellen mustere, die das Tuch zuvor verdeckt hat. Die Haut ist makellos, aber darunter zeichnen sich Sehnen und Muskeln zu deutlich für einen schlaksigen kleinen Jungen ab. Das Kind, das nie erwachsen wird, wird nicht mehr lange ein Kind bleiben.
Der Kinderfresser.
Ich verliere fast das Gleichgewicht auf der Stelle, wie in alle Richtungen gleichzeitig wegkatapultiert von dieser Erkenntnis.
Vielleicht ist es eine Art Fluch.
Unsinn. Er mag ein Psychopath sein, eine Verrückter, ein Wahnsinniger, er ist geheimnisvoll und rätselhaft und manipulativ und er kennt meinen Namen - aber er ist ein Mensch, und das hier ist die Realität. Die echte, bittere Realität. In meiner hinteren Hosentasche steckt ein Mobiltelefon, das diese Tatsache bestätigen könnte.
„Wenn du Kinder verspeist..." - ich bringe das Wort fressen nicht noch einmal über die Lippen - „...was tust du dann hier?" Das nächste Dorf ist meilenweit entfernt; es gibt nur den Amazonas und ein paar Stationen wie diese hier, wo Forscher wie ich ihre Studien praktizieren. Keine Kinder weit und breit.
„Ich bin kurz vor dem Verhungern", wiederholt er, nun in einer Tonlage, die vermutlich mehr Unbekümmertheit suggeriert als tatsächlich in ihm steckt.
Ich schüttle leicht den Kopf. „Hier gibt es nichts. Nur uns." Ich widerstehe dem Drang, durch die Plexiglasscheibe zu schauen, ob ich tatsächlich die Wahrheit sage - als wäre ich mir selbst nicht mehr so sicher. Einzig Fletchers angestrengtes Atmen, das ich bisher fast völlig ausgeblendet habe, lässt mich fixiert bleiben. Das und er, der Gefangene.
„Wenn du dir sicher bist, dass es keine Kinder gibt, kann euch ja nichts passieren."
Er sagt es so lauernd, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass ich vom Gegenteil ausgehen kann
„Das reicht." Ich höre dumpfe Geräusche, einmal durch die Kopfhörer und einmal durch die Plexiglasscheibe hindurch. „Lahembra, kommen Sie sofort." Fletchers Stimme ist nun unbarmherzig. Fast wie Aurelio, wenn er sich an eine Flasche klammert.
Ich gehe rückwärts Schritt für Schritt Richtung Tür.
„Galathea!" Der Gefangene streckt beide Arme aus, als wollte er nach mir greifen. Das weiße Tuch rutscht in seine Ellbeugen.
„Auf Wiedersehen, Peter Pan.", sage ich, und ich weiß nicht einmal recht, wieso. Meine Hand greift nach dem Griff der Tür und ich höre, wie die Schritte auf der anderen Seite näher kommen, um mir aufzuschließen.
„Wer weiß, ob wir uns wiedersehen", erwidert der Gefangene, plötzlich betrübt. „Vielleicht hat dich dein Ehemann aber bis dahin auch totgeprügelt."
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