ocho
Das Ohr, dem nun der Kopfhörer fehlt, vernimmt ein leises Rauschen. Wie Wellenrauschen. Oder wie Wind ... wie Wind in hohen, knarzenden, zerrütteten Baumstämmen, in häuserhohen, wolkensaugenden Regenwaldriesen.
Ich nehme mich zusammen und wiederhole meine Frage. „Was wissen Sie über meinen Ehemann?"
Er rührt sich nicht, blinzelt nicht einmal. Das Sausen in meinem Ohr nimmt kaum ab, geht fast fließend in seine Stimme über. „Ich weiß nichts über Aurelio, aber ich weiß etwas über dich. Und schau dich an. Du trägst ihn auf der Haut."
Hastig balle ich die vom Schweiß klebrigen Hände zur Faust, um mir nicht ins Gesicht zu greifen, wo sich die schmale, lange Narbe über meine Wange zieht. Leicht spüre ich den Druck meiner Fingernägel in den Handinnenflächen, aber es ist, als seien sie biegsam, morsch. Mein Körper fühlt sich plötzlich enger an als je zuvor, wie ein Gefängnis, auf dessen Wände der Scharfrichter schon seine Markierungen gemacht hat. Meine Finger wickeln sich um das Mikrofon, das ich noch immer halte, als würde es mir helfen, den Kontakt zu Außenwelt nicht vollkommen zu verlieren.
Aber das habe ich längst.
„Woher kennen Sie dann seinen Namen?"
„In der Not frisst der Teufel Fliegen", antwortet er gedankenverloren, und ich weiß nicht, was das mit meiner Frage zu tun hat, aber die Ton, in dem er es ausspricht, ist rau, kaum mehr kindlich wie zuvor und lässt mir einen lauwarmen, dickflüssigen Schauer die Wirbelsäule hinunter laufen wie ein Schwarm aus Tausenden von wimmelnden Tieren, Maden vielleicht, die gemeinsam eine fast flüssige Masse bilden.
„Hat er Sie geschickt?" Meine Stimme klingt leicht alarmiert. Paranoia. Nichts als unnötige Paranoia.
„Nein." Der Gefangene klingt überrascht; die irritierend hellen Augenbrauen bewegen sich mit kindlicher Weichheit. Ich registriere, dass er nicht im Geringsten schwitzt; seine Haut ist matt und dunkel. „Galathea, du hast nach mir gerufen."
Irgendwo hinter mir tropft plötzlich etwas. Überlaut. Verzerrt. Tockend. Helle, disharmonische Glocken erklingen im selben Takt wie dumpfe Schläge auf hohle Baumstämme. Ein Vogel kreischt schrill, wieder Wassertropfen, Tonscherben, die aneinanderschlagen, monotones, leeres Klappern wie von toten Zähnen, Zischen, Flattern, ein kehliges Raunen, dumpfes Pfeifen, ein höhnischer Hauchton wie ein kehliges Lachen, splitterndes Glas wie von – wie von Flaschen.
Meine Hand liegt auf meiner Wange.
Ich habe nicht bemerkt, dass ich sie angehoben habe.
Die Geräusche sind verstummt. Ich wende mich wieder dem Gefangenen zu, obwohl ich die Augen nie von ihm weggelenkt habe.
„Du fühlst es, nicht wahr?", sagt er leise zu mir.
„Was?" Ich muss seine Antwort nicht hören, um zu wissen, was er meint. Die Geräusche. Die Schwüle. Das Bewusstsein.
„Den Amazonas. Die Totenglocken."
Durch den Boden läuft ein Zittern, als kündigte sich ein Erbeben an. Eine leichte Vibration. Vielleicht auch nur ein sehr tief klingender Ton, aber einer, der nicht von einer starren, stählernen Maschine erzeugt ist. Es ist ein Geräusch des pulsierenden Lebens. Des Erwachens. Wie ein riesenhaftes, anschwellendes Organ. „Bist du hier, um mich zu töten?"
Er blinzelt, aber nur mit dem linken Auge. Es ist trotzdem kein Zwinkern. Ein Zwinkern hat etwas Scherzhaftes, Verspieltes an sich; in dieser Regung dagegen steckt keinerlei Wohlwollen oder Schalk. „Ich bin hier, um dich zu verwandeln."
„In was?"
„In was immer du sein willst." Ich kann nicht anders, als mir auszumalen, was immer ich sein will. Ein bestimmtes Tier? Eine andere Person? Ein Wesen – wie Peter Pan? Das Vibrieren scheint alles Blut in meinen Beinen zum Schäumen zu bringen, aufzuschlagen wie Sahne, dickflüssiger zu machen. Mein Fuß beginnt zu kribbeln, als sei er eingeschlafen; als krabbelten tausende von winzigen Wesen darin auf und ab.
„Es ist doch Weihnachten, nicht wahr?", sagt er in mein Schweigen hinein, nun wieder in einer unbekümmerten, kindlichen Art. „Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht."
„Was für ein Geschenk?", frage ich skeptisch.
„Eines, das dir bei der Entscheidung helfen wird." Ich erwidere nichts, beobachte nur, wie er seinen Blick von mir abwendet und die Trommeln in meinem Hinterkopf leiser werden.
„Ein Spiegel", sagt er leise und hebt die Hand, zeigt auf die Plexiglasscheibe, die uns von dem Forschungsteam trennt. Ich folge seiner Weisung und wende den Kopf.
Die zusammengekniffenen, rot umrandeten Augen Aurelios starren mich an.
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