cinco
Ich bin allein mit ihm.
Ich bin vollkommen allein mit ihm.
Wir sind gefangen in einem gläsernen Käfig, besser: in einem Schaufenster. Nicht gefangen sind wir, ausgeliefert – er den Menschen vor der Scheibe, ich dem Raubtier hinter der Scheibe.
Die Angst beginnt langsam, stärker denn je an meinen Gedanken zu nagen. Habe ich eine falsche Entscheidung getroffen?
„Galathea."
Seine Stimme hat sich kaum verändert; klug, aber fast schüchtern und melodisch. „Galathea, warum bist du noch hier?"
Ich fahre mir wieder mit der Zunge über die Lippen, obwohl ich weiß, dass die Galle und die Spucke, der Klumpen aus Blut und Wasser sehr viel tiefer hängen, irgendwo in meiner Kehle. Ich habe augenblicklich das Gefühl, dass der Raum dunkler wird, dass sich alles um uns herum verfinstert, dass die Schatten gierig an meinen Füßen zu lecken beginnen.
„Ich bin geblieben ... " Ich schüttle den Kopf, eher aus Gedankenverlorenheit und um rein körperlich eine Ausrede zu haben, nicht in seine Augen sehen zu müssen. „Wir sind alle geblieben, um nach Ihnen zu sehen. Wer – wer sind Sie?"
Er schnaubt, aber wendet den Blick nicht von mir ab. „Wir kennen uns, Galathea. Wir kennen uns sicherlich."
Ein plötzlicher, bizarrer Angststoß durchfährt mich. Es ist Aurelio.
Nein. Unmöglich. Ich rufe mich selbst zur Vernunft, als das mit einem Schlag aufkochende Blut in meinen Arterien Sekunde für Sekunde wieder abkühlt. Aurelio ist in Texas, ist zuhause, ist nicht hier. Er kann nicht hier sein. Er kann nicht in einem anderen Menschen sein. Der Mann vor mir hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem Ehemann; ich hätte es ihm auf den ersten Blick angesehen, wer er ist.
Ein kalter, schwarz-schwacher Schatten, ein geisterhaftes Abbild meiner Angstvision, bleibt in meinem Kopf stecken, und ich spüre das Zittern in meiner Stimme auf meiner Zunge, als ich sage: „Es – es tut mir leid, ich kann ... kann Sie nicht einordnen. Wie ist Ihr Name?"
Als würde meine Antwort ihn enttäuschen, zieht er die Augenbrauen zusammen. In meiner Brust krampfen sich die Muskeln zu einem festen, fleischigen Konstrukt. Habe ich etwas falsch gemacht? Weiß er, was ich denke?
„Galathea! Wir kennen uns!", wiederholt er eindringlich und in einem fast vorwurfsvollen Ton. Seine Augen beginnen noch mehr, noch kindlicher zu leuchten, so scheint es mir, als er die nächsten Worte ausspricht. „Ich bin Peter!"
„Peter?" Das P rutscht mir so schwer über die Lippen, bleibt daran kleben, als seien diese aus einem unförmig-elastischen, haftenden Stoff gemacht. Die spitzbubenhafte Leichtigkeit, mit der er den Namen ausgesprochen hat, ist so sehr wie die eines kleinen Jungen, dass sie unmöglich echt sein kann. Wie eine abnormale, überspitze, unechte Version eines Kindes wirkt er.
„Peter", wiederholt er, und der Ausdruck gräbt sich tiefer in sein Gesicht, der sich fast schon als Treuherzigkeit bezeichnen lässt, so erwartend, so strahlend, so jung und naiv – „Peter Pan!", sagt er in die Stille hinein, als ich nicht antworte.
Er muss verrückt sein. Er muss völlig von Sinnen sein. Psychisch gestört oder durch ein schlimmes Kindheitsschicksal in ein Trauma gezwungen. Er ist nicht Aurelio, aber er auch ist nicht Peter Pan. Peter Pan ist ein Märchenwesen, ein Kinderheld, eine Phantasievorstellung.
Ich spüre, wie sich meine Muskeln noch mehr versteifen. Wenn er ein Irrer ist, ein Psychopath, dann ist es noch gefährlicher, mich mit ihm einzuschließen. Was habe ich mir dabei gedacht? Lauwarm spüre ich eine Gänsehaut in meinem Nacken; jedes einzelne Härchen erzittert, krümmt sich zusammen, vibriert einen Millimeter über ihrer gereizten Haut, stellt sich auf.
„Peter Pan ... der Nimmerlandsjunge?"
Er grinst. Das Blut in meinen Adern wird plötzlich heißer und dicker.
Es ist eine furchterregende Geste, eine groteske, hässliche Bewegung; seine Unterlippe zieht sich sanft und geschmeidig in die Länge und entblößt eine Reihe keilförmiger, angespitzter Zähne. Für einen Moment glaube ich, einen bläulich-pastellfarbenen Grünton in der Innenseite seiner Lippe auszumachen.
„Nein", sagt er langsam und gedehnt.
„Ich bin Peter Pan, der Kinderfresser."
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