Teil 2
Drei Monate Später
"Netti!" rufe ich aus der Tür meines Büros und kehre hinter meinen Schreibtisch zurück, wo ich die vielen Akten hin und her krame, um die eine zu finden, die ich gerade suche. Doch mein Schreibtisch ist einfach zu überladen.
Überall liegen Baupläne, Kostenvoranschläge, Rechnungen, Lieferpläne und....
"Ja?" schnauft Netti atemlos, als sie im Laufschritt in mein Zimmer stürmt.
"Schon gut, ich hab es gerade gefunden." sage ich entschuldigend und halte die Unterlagen des Architekten in die Höhe. "Aber wo du schon mal hier bist, kannst du diese Rechnungen an mein Büro schicken, damit Mrs. Gunnar sie überweist. Du weißt ja, wie üblich..." sage ich mit schlechten Gewissen.
Denn eigentlich dürfte ich mich hier weder aufhalten, noch mich um die Sanierung kümmern, denn das Haus gehört ja gar nicht mir. Zumindest nicht wirklich, doch das weiß Netti nicht. Und so nimmt sie mir lächelnd die Briefe aus der Hand, die ich schon vorbereitet habe.
"Klar mach ich. War sonst noch was? Es klang so dringend." hakt sie hilfsbereit nach, doch ich schüttel nur entschuldigend mit dem Kopf.
"Nicht mehr. Ich hab die Sachen von Mr. Lemon schon gefunden. Ich wollte sie noch mal in Ruhe durchschauen, bevor er nachher kommt, um seine Vorschläge für den Wintergarten noch mal durchzugehen."
"Ach so. Dann ist ja gut. Ich geh dann mal und treib die Arbeiter an. Wenn man die nicht pausenlos im Auge hat, liegen die nur auf der faulen Haut." grummelt sie und lässt mich allein, nachdem ich ihr bestätigend zugenickt habe.
Ja, Annette ist mir wirklich eine große Hilfe und auch eine tolle Freundin.
Von dem Moment an, als ich mit geröteten Augen vor ihrer Tür stand und mich hier einquartierte, hat sie mir nicht einmal peinliche Fragen gestellt.
Sie hat einfach still akzeptiert, dass ich nun in diesem Haus wohne, ganz so, als würde es wirklich mir gehören.
Kost und Logis hatte ich jetzt zwar frei, aber meine anderen Rechnungen bezahlten sich leider nicht von allein und so würde ich mir bald Gedanken darüber machen müssen, wie ich in Zukunft mein Geld verdienen wollte. Denn so langsam ging mir das Geld aus.
Doch wieder als Sekretärin zu arbeiten, dass kommt für mich eigentlich nicht in Frage. Allein der Gedanke in ein Büro zu gehen, mit einem Mann oder einer Frau zusammen zu arbeiten, in einer Umgebung, die mich so sehr an Alexander erinnert, lässt mir die Haare zu Berge stehen und mein Puls vor Angst in die Höhe schnellen.
Seit drei Monaten habe ich nichts von ihm gehört, doch noch immer fehlt er mir so sehr, dass es schmerzt.
Nicht mehr so sehr wie am Anfang, doch die Nächte, in denen ich mich in den Schlaf weine sind noch immer recht häufig. Aber wenigstens breche ich tagsüber nicht mehr in Tränen aus, nur weil Netti Schokolade ist, oder ich jemanden sehe, der Alexander auch nur ansatzweise ähnlich sieht. Auch habe ich nicht mehr ganz so viel Mühe mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Eine Arbeit, die ich eigentlich gar nicht machen dürfte, zumal ich sein Geld ausgebe, für ein Haus, das er eigentlich verkaufen wollte.
Noch immer frage ich mich, warum er es noch nicht gemacht hat, oder warum es ihm noch nicht aufgefallen ist, dass regelmäßig Rechnungen von hier bei ihm eintreffen.
Allerdings habe ich am Anfang darauf geachtet, dass es so aussieht, als hätte ich die Arbeit schon vor unserer Trennung in Auftrag gegeben, so dass er nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass ich vielleicht hier sein könnte. Und bis jetzt scheint mein Plan aufzugehen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er hier her kommt immer größer wird.
Irgendwann wird ihm einfach auffallen müssen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zu geht.
Doch ich wollte hier auch nicht einfach so wohnen, also ohne ihm etwas zurück zu geben und so habe ich nach einigen Wochen einfach damit angefangen den Umbau voran zu treiben, so dass das Haus kein geldschluckendes Ungeheuer bleibt, sondern möglichst schnell Gewinne einbringen wird.
Und tatsächlich nimmt dieses altertümliche Gebäude langsam Gestalt an.
Sämtlich Tapeten wurden von den Wänden entfernt, die alten, staubigen und verschlissenen Teppiche herausgerissen, , Durchbrüche gemacht und neue Räume geschaffen.
So gibt es im Erdgeschoß jetzt einige Zimmer mit Terrasse und behinderten gerechter Ausstattung, sowie Konferenzräume, einen großen Aufenthaltsraum, sowie einen kleinen Fitness Bereich mit einer kleinen Sauna und eine Art Medienraum, in dem man Fernsehen, Lesen oder auch am Rechner sitzen konnte. Also rein Theoretisch, denn bisher befindet sich all das nur in meiner Fantasie, denn so weit, dass wir mit dem Einrichten und vermieten der Zimmer beginnen können, sind wir noch lange nicht.
Noch immer ist das Hotel mehr eine Baustelle, als dass man hier wohnen kann. Auch mein Zimmer ist alles andere als wohnlich, aber da ich ja irgendwo wohnen muss, lassen wir diesen Raum fürs erste einfach aus, ebenso wie mein Büro, in dem ich mich jetzt gerade aufhalte.
Nachdenklich schaue ich auf die Pläne vor mir, die ich vorsichtig auf meinem Fußboden entrollt hatte.
Auf meinem Schreibtisch ist einfach nicht genug Platz dafür!...und grübelte, darüber nach, was mich an der ganzen Sache störte, als es an meiner Tür klopft.
"Herein!" rufe ich in Gedanken vertieft und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich immer wieder in mein Sichtfeld schiebt.
"Mrs. Wellenstein." begrüßt mich mein bevorzugter Architekt und sieht schmunzelnd auf mich hinunter.
"Ach, Mr. Lemon." grüße ich ihn abgelenkt und deutete auf einen Punkt auf den Plänen. "Gut das sie kommen. Bestimmt können sie mir DAS hier erklären."
Langsam nähert er sich mir und steigt vorsichtig über den Plan hinweg, dann kniet er sich neben mich und legt sein Finger neben meinen.
"Sie meinen das hier?" will er wissen.
Mit gerunzelter Stirn sehe ich ihn an. "Ja, genau. Dieses Runde etwas auf dem Boden...oder ist es an der Decke?" stimme ich ihm zu und setzte mich auf die Fersen zurück.
"Also dass ist ein Brunnen." sagt er lächelnd und richtet sich ebenfalls auf, wobei seine Schulter die meine streift und mich ein Stück zur Seite weichen lässt.
"Ach so?" staune ich und sie meinen, dass das machbar ist? Ich meine von der Statik her und so? Es liegt ja der Keller unter dem Wintergarten. Und auch der ganze Sand und die Steine werden ja nicht gerade leicht sein. Meinen sie, mit dem Brunnen wird es dann nicht doch zu viel?" skeptisch mustere ich sein freundliches Gesicht und kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll.
"Doch, Mrs. Wellenstein, das haben ich alles berechnet und da sie meinten, sie wollten es so realistisch wie möglich, habe ich den Brunnen einfach mal hinzugefügt. Sie werden sehen...wenn der Wintergarten fertig ist, werden sie denken, sie würden in einem richtigen Garten stehen. Mit Büschen und Bäumen." sagt er zuversichtlich, was mich doch sehr erleichtert.
Der Wintergarten, der sich gleich an den Großen Ballsaal anschließen soll, und das Gebäude um viele Quadratmeter vergrößert, wird im Winter einen behaglichen Rückzugsort bilden, in dem man auch bei schlechtem Wetter der Natur so nah wie möglich sein kann. Und davon, dass das Wetter im Winter hier durchaus unzumutbar ist...zumindest gelegentlich...davon konnte ich mich zur Genüge überzeugen, denn schon seit mehr als drei Wochen, regnet es eigentlich ununterbrochen. Mal mehr und mal weniger. Wobei es heute mehr zu sein scheint, wenn ich den nassen Mantel meines Gesprächspartners betrachte.
"Kommen sie." bietet er mir an und steht langsam auf. Hilfsbereit reicht er mir die Hand und zieht mich auf die Füße.
"Lassen sie uns doch mal in den Saal gehen, dann kann ich ihnen alles noch mal ganz genau erklären.
"Das ist eine gute Idee." stimme ich ihm zu und klopfe mir den Staub von den Knien. Die Pläne rolle ich kurzerhand zusammen und nehme sie mit.
"Bitte sehr." sagt er höflich und hält mir die Tür auf.
"Vielen Dank." bedanke ich mich geschmeichelt von seiner Galanterie und verlasse mein Büro.
Während wir durch die Gänge gehen erläutert er mir immer wieder die Arbeiten, die gerade im Gange sind und von denen mich einige immer wieder erstaunen.
"Hier müssen noch extra Verstärkungen eingesetzt werden, weil wir den Durchgang verbreitern, damit der Eingang in den Ballsaal so werden kann, wie sie ihn sich vorstellen. Aber keine Angst, davon wird man später nichts mehr sehen." versichert er mir schnell, als ich große Augen mache. Ich hätte nicht gedacht, dass eine neue, etwas größere Tür so viel Probleme macht und auch die Loge, die ich für Life Musik etwas seitlich darüber vorgesehen habe lässt sich wohl auch nicht so einfach umsetzten wie mir scheint.
Doch ich wollte es so authentisch wie möglich und ich habe mal gesehen, wie ein großes Orchester in einem Film auf genau so einer Loge gespielt hat und da mich mein Ballsaal an diesen Film erinnert, konnte ich mir gut Vorstellen, dass es auch hier so eine Loge geben könnte.
Doch während Mr. Lemon mir von den Umbauten berichtet, schweifen meine Gedanken ab und ich sehe den Saal, so wie ich ihn mir vorgestellt habe vor mir.
Gefüllt mit Menschen. Vielleicht feiern sie eine Hochzeit und tragen alle schöne Kleider und Anzüge.
Beinahe kann ich sie vor mir sehen...die Braut...wie sie in ihrem weißen Kleid den Saal durchschreitet, wie sie strahlt, während sie durch die große Flügeltür in den Wintergarten hinüber geht und dort den Brunnen umrundet.
Wie ihre Augen zu funkeln beginnen, als sie den Mann ihrer Träume vor dem Altar stehen sieht, den wir extra für sie errichtet haben. Vielleicht einen Weißen Bogen, mit roten oder blauen Blumen geschmückt. Auf dem Rasen stehen weiße Stühle und überall sitzen Menschen.
Sie machen erstaunte Gesichter. Manche weinen vielleicht. Vermutlich die Eltern der Braut, doch auch die engsten Freunde und verwanden werden mit Sicherheit vor Rührung ein Paar tränen verdrücken, wie ich, wenn ich in einem Monat bei Karas Hochzeit anwesend sein werde.
Irgendwie finde ich es wirklich schade, dass wir dieses Haus bis dahin nicht fertig bekommen werde.
Denn noch immer stehen einige Baugenehmigungen aus. Und die nicht nur für die neuen Gebäude, die ich draußen geplant habe, sondern auch für den Wintergarten haben wir noch nicht endgültig grünes Licht, was mich auf den Gedanken bringt mich mal wieder danach zu erkundigen.
Doch als ich mich meiner Begleitung zuwende um ihn danach zu fragen, muss ich erstaunt feststellen, dass er mich lächelnd betrachtet.
"Hören sie mir überhaupt zu. Mrs. Wellenstein?" schmunzelt er und reibt sich belustigt das Kinn.
"Ja...doch...aber ich...Ist die Baugenehmigung jetzt eigentlich schon durch?" weiche ich seinem Blick aus, mit dem er mich interessiert mustert.
"Ja. Erst gestern habe ich die Genehmigung erhalten, weshalb ich auch noch mit ihnen sprechen wollte. Aber lassen sie uns doch dort hingehen." er deutet auf die Terrassentür, hinter der eines Tages der Wintergarten beginnen soll, und von dem ich gerade noch geträumt habe. "Dann kann ich ihnen noch mal alles erklären. Wie wir besprochen haben wird der ganze Raum von Glas umgeben sein, doch wird sich die Form, von den derzeit in Mode kommenden rechteckigen Gebilde mit den platten Dächern, unterscheiden...." beginnt er, kaum dass wir an der Tür angekommen sind. Lang und breit erklärt er mir, wie zur damaligen Zeit solche Gärten angelegt wurden, und wie er vor hat, mit den heutigen Materialien ein Reich zu erschaffen, das meine Erwartungen übertreffen wird.
Und dann gehen wir sogar nach draußen. Dorthin, wo derzeit die Terrasse ist und gehen die Strecke ab. Er zeigt mir, wo der Brunnen hin soll, wo die Wiesen und Sitzplätze entstehen, wo der Kamin, die Bäume, und wo der Platz vorgesehen ist, an dem wir bei Bedarf auch ebenbesagten Bogen aufstellen können, wo Trauungen vollzogen werden können.
Doch schnell sind wir dazu gezwungen ins Haus zurück zu kehren, denn noch immer Regnet es und so kehren wir nach kurzer Zeit ins Haus zurück und setzten uns in mein Büro, wo ich ihm einige Veränderungswünsche unterbreite.
"Die Idee mit dem Brunnen finde ich wirklich wundervoll, aber es stört mich, dass er direkt vor der Verbindungstür ist. Können wir ihn nicht etwas seitlich unterbringen? Damit die Aussicht auf den Garten vom Saal aus nicht so eingeschränkt wird." rege ich zum Nachdenken an, was meinen Gegenüber überlegend die Stirn runzeln lässt.
"Hmm...wenn wir hier den Weg ein wenig schmaler....und da..., also dann...hmm. Doch, dass müsste sich machen lassen." grübelt er leise vor sich hin. Doch dann hellt sich sein Gesicht auf. "Vielleicht haben sie sogar recht. Wenn wir den Brunnen hier her verlegen..." er deutet auf die linke Seite meines kleinen Botanischen Paradieses, "...dann könnten wir einen Kiesweg darum herum führen und auf der rechten Seite könnten wir so etwas wie eine Terrasse verwirklichen. Was meinen sie?" forschend schaut er mir ins Gesicht, während ich mir vorzustellen versuche, was er meint und so richte ich konzentriert den Blick auf die Papiere vor mir und beuge mich vor.
"Also hier den Brunnen? Sehe ich das Richtig?" Tippe ich auf eine Stelle "Und hier Möglichkeiten um in der Sonne zu sitzen?" murmele ich gedankenverloren vor mich hin, doch als nach und nach das Bild in meinem Kopf entsteht, kann ich mir ein Lächelnd nicht verkneifen. "Ich glaube, so gefällt es mir besser Mr. Lemon." strahle ich ihn an.
"Gut, dann machen wir es so." stimmt er mir zu "Haben sie sonst noch etwas, das ihnen auf dem Herzen liegt?" fragt er höflich, während er den Rest seinen Kaffees trinkt, den ich ihm angeboten habe und lehnt sich an den Schreibtisch.
"Nein. Das wärs fürs erste. Nur? Wann meinen sie, das die Bauarbeiten beginnen können, jetzt wo die Genehmigungen da sind?" frage ich gespannt.
"Ach, das könnte schon nächste Woche losgehen. Sobald die Baufirma die Maschinen hier hat und das Material geliefert ist." sagt er zuversichtlich, was mich geradezu in eine euphorische Stimmung versetzt.
"Wirklich?! SO schnell?" begeistert falle ich ihm um den Hals und drücke ihm einen Kuss auf die Wange und klatsche aufgeregt in die Hände.
Schmunzelnd sieht er mich an und zieht seinen Mantel wieder an, den er an einen Harken neben die Tür gehängt hat und nickt bestätigend.
"Ich melde mich bei ihnen, wenn ich mehr weiß." verabschiedet er sich im gehen, während ich ihn zum Haupteingang begleite.
"Das wäre nett Mr. Lemon." sage ich zum Abschied und stelle mich noch einen Moment auf die Veranda und schaue ihm nach, wie er in seinen schwarzen Audi steigt und den Hof verlässt.
Doch dann lasse ich auch hier meinen Blick schweifen, wobei sich hier noch nicht so viel getan hat. Jedoch soll sich auch das bald ändern. Nur hat bisher das Wetter einfach nicht mitgespielt. Es war einfach zu kalt oder zu nass, oder beides, so dass die Erdarbeiten immer wieder verschoben werden mussten, doch um so weiter das Jahr fortschreitet, umso größer wird ja die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Wetter bald ändern wird.
Na, wir werden sehen.
Guter Dinge gehe ich wieder nach drinnen. Trinke noch eine Tasse Kaffee und schlendere dann zurück in den Ballsaal, wo ich mir die Bilder noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen will, doch vielleicht hätte ich mehr auf meine Umgebung achten sollen, als meinen Gedanken nach zu hängen, denn gerade will ich durch eine seitliche Tür den Ballsaal betreten, als ich über ein am Boden liegendes Bauteil stolpere und auf einen der Arbeiter falle, der hier gerade beschäftigt ist.
"Ahh!" kreische ich erschreckt auf, was ihn dazu veranlasst sich geistesgegenwärtig umzudrehen und mich aufzufangen.
Wir landen zwar trotzdem auf dem Boden, aber da er so nett war mir seinen muskelbepackten Körper als Unterlage zu bieten, tue ich mir zumindest nicht so weh, als wenn er nicht da gewesen wäre. Doch da er kein T-Shirt oder ähnliches trägt, ist es mir doch sehr unangenehm.
"Oh Gott! Tut mir leid." entschuldige ich mich zerknirscht, was seine anfänglich recht verärgerte Mine in ein belustigtes Lächeln verwandelt.
"Also... Gott bin ich zwar nicht, aber du darfst mich gerne Leo nennen." schmunzelt er, während ich von ihm herunter krabbel, wobei ich mich auf seiner breiten Brust abstütze und mir den schmerzenden Ellenbogen reibe, den ich mir scheinbar irgendwo angeschlagen habe.
"Dann, danke Leo, dass du mich aufgefangen hast." sage ich abgelenkt, als auch er vom Boden aufsteht.
Er ist viel größer, als er aussah, jetzt, wo er steht und seine grünen Augen funkeln mich verschmitzt an.
"Ehrensache." versichert er mir, doch dann mustert er mich skeptisch. "Was machst du überhaupt hier?" will er wissen und schiebt mich ein Stück aus dem Gefahrenbereich.
"Ich? Wieso? Ich arbeite hier?" sage ich verwirrt. Eigentlich müsste er mich doch kennen, oder? Habe ich IHN hier schon mal gesehen? Hmm? Nachdenklich sehe ich ihn an, doch bevor ich zu einer eindeutigen Antwort gekommen bin, unterbricht er meine Überlegungen.
"Und als was? Malerin bist du jedenfalls nicht und dass du hier bei den Abrissarbeiten hilfst, kann ich mir auch nicht vorstellen..." sagt er zweifelnd aber nicht unfreundlich und mustert eingehend meine zweckmäßigen Jeans, den schlichten Pullover und meine zierlichen Körperbau.
"Wenn du's genau wissen willst, ich hab hier das sagen." sage ich augenzwinkernd um ihn zu verwirren, was scheinbar auch funktioniert, denn sein grinsendes "Ja, Klar." klingt mehr als zweifelnd.
Ich mag es um ehrlich zu sein nicht besonders, wenn mich die Arbeiter alle so seltsam ansehen, wenn sie erfahren, wer ich wirklich bin, deshalb versuche ich die Wahrheit möglichst so unwahrscheinlich wie möglich klingen zu lassen und versuche mich eher an einer Lüge.
"Ne, ich wollte mir nur mal ansehen, wie sich hier alles verändert und mir überlegen, ob ich hier meine Hochzeit feiern kann." nehme ich ihn auf die Schippe, wobei ich mir noch mal über den schmerzenden Ellenbogen fahre.
"Hast du dich verletzt?" fragt er aufmerksam nach und deutet auf meinen Arm.
"Ne, schon gut. Nur ein bisschen gestoßen." versichere ich ihm, doch scheinbar will er sich selbst davon überzeugen, denn schon greift er nach meiner Hand und schiebt meinen Pullover sanft den Arm hoch.
"Lass mich mal sehen." kommentiert er sein Handeln und sieht mich abwartend an, doch als ich ihn nicht aufhalte, fährt er fort, bis mein Arm bis zum Ellenbogen entblößt ist.
"Es ist wirklich nichts." versichere ich ihm während er sanft meinen Arm untersucht, doch als er meine Hand leicht hin und her dreht und meinen Ellenbogen betrachtet sagt er tadelnd. "Du blutest. Komm, das versorgen wir lieber gleich." bestimmt dirigiert er mich durch den Saal, bis zu einer großen Box, auf der ein Rotes Kreuz zu sehen ist.
"Wirklich Leo. Ist schon gut. Das ist doch nur n Kratzer." sage ich verlegen von der übertriebenen Aufmerksamkeit, doch er macht ungerührt weiter.
"So fertig." vorsichtig schiebt er den Ärmel wieder herunter nachdem er ein Pflaster auf die Stelle geklebt hat. Doch dabei frage ich mich, wie er mit diesen Pranken überhaupt so behutsam sein kann, denn seine Hände sind einfach riesig. Fast als würde er einfach so große Hände brauchen, damit er seine Muskelmassen überhaupt sinnbringend anwenden kann.
"Danke. Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen." schmunzele ich und will gehen, doch er hält mich auf.
"Warte. Es ist besser, wenn du hier nicht allein rumläufst. Nicht, dass dir noch was passiert. Nachher kommt dein Verlobter noch auf die Idee, jemand hätte dich hier misshandelt." grinst er und geleitet mich hilfsbereit zur Terrassentür, wo nicht so viel herum liegt.
"Du brauchst mich wirklich nicht herumzuführen. Ich kenn mich hier eigentlich ganz gut aus." versuche ich ihn an seine Arbeit zurück zu schicken, doch er schüttelt nur den Kopf.
"Ich hatte eigentlich nicht vor, dich herumzuführen." lacht er auf. "Ich wollte dich eher nach draußen bringen. Oder vielleicht ins Büro der Chefin, allerdings weiß ich noch nicht, wo es ist. Ich bin selbst erst seit zwei Tagen hier." sagt er entschuldigend und deutet Richtung Ausgang, wo Gott sei Dank gerade Netti auftaucht und mit finsterem Gesicht auf uns zu kommt.
"Ach hier steckst du Leo! Samuel sucht dich schon überall. Du solltest doch den Presslufthammer nach oben bringen!" fährt sie ihn brummig an, doch als sie mich hinter ihm entdeckt, weiten sich erstaunt ihre Augen.
"Oh, tut mir leid Emely. Ich wusste ja nicht, dass du mit Leo was zu besprechen hast." entschuldigt sie sich bei mir und will sich zurückziehen, doch ich halte sie auf.
"Ist schon gut Netti. Ich brauche ihn nicht mehr." sage ich resigniert, als er mich plötzlich mit neugierigem Blick ansieht.
"Ach, dann bist du also doch mein neuer Boss." sagt er grinsend. "Na, da bin ich aber froh, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, um dich zu beschützen. Aber hätte das nicht eigentlich dein Verlobter tun sollen?" Nachdenklich sieht er mich an, dann lacht er auf "Oder gibt es den etwa nicht."
"Nein. Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen Leo. Alles erfunden. Ich wollte nur mal sehen, wie gut meine Leute sind und ob sie sich vor der Arbeit drücken." führe ich ihn an der Nase herum.
"Na wenn das so ist Boss, dann werde ich Sam jetzt mal das Teil da rauf bringen. Aber sei in Zukunft etwas vorsichtiger, wenn du hier herumspazierst. Nicht dass du dich noch ernsthaft verletzt." grinsend nickt er mir zu, dann macht er sich wieder an die Arbeit. Doch ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass er sich drücken wollte. Er hat nur darauf geachtet, das mir nichts passiert und das ist ja durchaus positiv.
Wäre ja noch schöner, wenn hier jeder Hans und Franz unbehelligt herumspazieren könnte!
"Immer das gleiche mit den Neuen!" seufzt Netti kopfschüttelnd "Kaum lässt man sie alleine, graben sie alles an was weiblich ist und auf zwei Beinen steht."
"Also eigentlich hat er mir nur geholfen." nehme ich ihn in Schutz. "Ich bin auf ihn gefallen und dann wollte er mich "in Sicherheit" bringen." schmunzel ich und gebe ein leises schnauben von mir, während ich meinen Pferdeschwanz neu binde.
"Wie auf ihn gefallen?" fragt Netti verwundert, woraufhin ich ihr die Sache erkläre.
Anzüglich wackelt sie mit den Augenbrauen. "Emely! Was muss ich da hören? Du gehst ja ran....mein lieber man!" lacht sie auf. Auch ich muss lachen, so abwegig finde ich die Idee, doch eigentlich war er schon ganz ansprechend und nett fand ich ihn auch. Trotzdem winke ich ab.
"Woran du gleich wieder denkst, Netti."
"Ach komm schon. Meinst du nicht, dass drei Monate Trübsal blasen genug ist?" fragt sie durchaus ernst gemeint. "Und du musst ja nicht unbedingt ihn nehmen, aber ich finde, du solltet mal wieder ausgehen." setzt sie noch hinzu, als sie sieht, wie sich meine Mine verfinstert.
"Ich glaube, soweit bin ich noch nicht. Okay." sage ich verletzt, wobei sie mit Sicherheit Recht hat, aber ich kann Alexander einfach nicht vergessen.
"Ach Emely!" seufzt sie auf, schüttelt den Kopf und drückt einfühlsam meinen Arm. "Dein Loverboy muss wirklich etwas besonderes gewesen sein, wenn du noch immer so an ihm hängst. Aber bisher hat er sich nicht einmal gemeldet, oder? Weder Angerufen, noch geschrieben. Ach keine E-Mail. Nichts. Vielleicht solltet du dich damit abfinden, dass es vorbei ist." leicht presst sie die Lippen zusammen, sagt dann aber nichts mehr.
Muss sie auch nicht, denn dieses Gespräch haben wir bestimmt schon hundert Mal geführt, dabei habe ich ihr nie gesagt, was wirklich passiert ist.
Wie könnte ich auch. Das Ganze ist einfach zu privat.
Doch inzwischen bin ich manchmal wirklich kurz davor, die Flinte ins Korn zu schmeißen. Denn eigentlich hat sie Recht. Wenn er mich wirklich hätte finden wollen, dann hätte er es mit Sicherheit schon geschafft.
Allerdings bin ich auch froh darüber, dass er noch nicht hier aufgetaucht ist.
Es würde doch nichts ändern. Er ist doch noch immer der selbe Mann, der er vor drei Monaten war.
Und ich bin auch noch die selbe. Nichts hat sich verändert. Und wenn wir es noch einmal versuchen würden, würden es doch irgendwann wieder genau so enden wie dieses Mal.
Er würde seinen Wunsch, geschlagen zu werden, für mich unterdrücken. Solange, bis es ihm wieder zu viel wird und er mich wieder zwingt ihn zu verletzten, aber das steh ich nicht noch einmal durch.
"Vielleicht hast du recht." stimme ich ihr deshalb zerknirscht zu. Fühle mich aber absolut nicht wohl bei meinen Worten.
Ich liebe Alexander einfach noch viel zu sehr und er fehlt mir. Trotzdem muss ich irgendwann einsehen, dass es vielleicht ganz hilfreich wäre jemanden kennen zu lernen, der mich auf andere Gedanken bringt.
"Natürlich habe ich recht Emely." zuversichtlich sieht Netti mich an, doch als aus dem Oberen Stockwerk lautes Gebrüll zu uns herunter hallt, weiten sich erst ihre Augen, dann nimmt ihr Gesicht einen harten Zug an. "Was ist denn jetzt schon wieder los!" schimpft sie los, sieht mich entschuldigend an und schon stürmt sie aus dem Saal, um den Männern in den Hintern zu treten.
Ach! Wenn ich sie nicht hätte! Sicher ginge es hier dann noch turbulenter zu, als ohnehin schon.
Und vielleicht hat sie ja tatsächlich recht, was mein Problem angeht. Vielleicht sollte ich mal wieder ausgehen. Einfach nur so. Zum Spaß haben. Und einfach um Leute kenne zu lernen. Damit ich mal auf andere Gedanken komme.
Denn das ist hier wirklich schwer.
Irgendwie erinnert mich alles an ihn.
Selbst der Ballsaal, in dem wir gefrühstückt haben, obwohl er derzeit absolut keine Ähnlichkeit mit dem Raum von damals mehr hat.
Doch auch die Zimmer und die Lobby, ach! Einfach alles lässt mich an ihn denken. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwer fallen würde ihn zu vergessen.
Seufzend Atme ich auf. Werfe einen Blick durch die Tür nach draußen und wende mich dann wieder meiner Arbeit zu.
Doch als ich im Büro die Post öffne, in der auch mein Kontoauszug zu finden ist, bekomme ich einen ziemlichen schreck, als ich sehe, wie wenig von meinem Geld noch übrig ist. Die Reparatur meines Autos hat mich ein ganzen Batzen Geld gekostet und jetzt ist mein Konto beinahe leer.
Ich muss dringend einen Job finden. Und am besten, ohne das Netti etwas davon mitbekommt.
Es könnte sonst wirklich schwierig werden, die Sache mit Mrs. Wellenstein aufrecht zu erhalten.
Aber was soll ich machen. Ich muss ja irgendwie Geld verdienen. Und dafür muss ich nun mal Arbeiten.
Und so durchforste ich gewissenhaft das Internet nach allen möglichen Aushilfsjobs, denn viel Geld brauche ich ja nicht. Nur ein wenig um meine Telefonrechnung zu bezahlen und Klamotten und son Zeugs. Da würde vielleicht auch ein Teilzeitjob ausreichen. Zumal mir ja auch noch genug Zeit bleiben muss, um hier alles zu regeln.
"Oh je!" stöhne ich, schon jetzt erschöpft, von der doppelten Belastung. "Wie soll ich das nur alles schaffen?"
Aber was soll ich machen? Ich hab ja keine andere Wahl, außer.... ne...ich hab keine andere Wahl, denn ich werde ganz sicher nicht gehen, bevor die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sind. Einfach, damit er etwas hat, dass ihn an mich erinnert, also nur für den Fall, dass er sich überhaupt erinnern will...aber wenn nicht, kann er das Haus ja noch immer verkaufen. Das wollte er ja eigentlich sowieso.
Doch so sehr ich auch nach einem Job suche. Ich finde nichts. Oder besser nichts, dass in der Nähe ist und mir genug Geld einbringt. Denn zwei Mal die Woche zu Arbeiten bringt einfach nicht genug ein um mich über Wasser zu halten und dann brauche ich ja auch noch Geld für den Flug zu Kara nach Hannover wegen der Hochzeit.
Was mich wieder daran erinnert, dass Mila mich heute Abend noch anrufen wollte um mit mir über unsere Kleider zu sprechen und dann muss ich sie unbedingt fragen, wie es ihr geht. Denn vor einer Woche ist ihr Sohn auf die Welt gekommen.
Knuddelige 48 Zentimeter war er nur klein und wog gerade mal 2480 Gramm. Natürlich hat sie mich gleich eingeladen vorbei zu kommen, doch ich kann mir mit Glück vielleicht einen Flug leisten, aber Zwei...?! Niemals!
Und so musste ich sie vertrösten auf den 6. April, denn da wollen Kara und Marek heiraten.
Ich bin so froh, dass Bens neue Freundin Kessy, Mila bei den ganzen Vorbereitungen geholfen hat, denn von hier aus konnte ich nicht viel tun. Weder mir geeignete Lokation's ansehen, noch die Torte mit aussuchen, oder Kara mit dem Brautkleid helfen, dabei wäre ich da wirklich gern dabei gewesen.
Doch was soll ich machen? Wenn ich nicht wieder nach Hannover ziehen will, oder einen Richtig gut bezahlten Job annehme, um mir mehr leisten zu können, muss ich wohl auf die schöne Erfahrung, Brautjungfer zu sein, verzichten. Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben, Mila wo ich konnte zu unterstützen.
Doch noch während ich nach geeigneten Jobs schaue, klopft es leise an meiner Tür.
"Herein!" rufe ich in Gedanken versunken und schließe das letzte Fenster, dass mal wieder nur eine Niete war und schaue erwartungsvoll auf die Tür, die sich langsam öffnet.
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4765 Worte
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