21 - Chris : Der Klotz am Bein

So verliebt war er schon lange nicht mehr, doch kaum hatte sich Chris von Julia gelöst und war wieder einigermaßen bei Verstand, meldete sich das schlechte Gewissen. Vorbei war es mit den Schmetterlingen, die wie Konfetti durch sein Inneres taumelten. Wie hatte das nur passieren können? Ausgerechnet Julia, die an seinen besten Freund vergeben war...

Wenn er nicht schnellstens die Reißleine zog, blühte ihm nicht nur Stress mit Tim, sondern auch von Julias Ex. Besser gesagt, den Gorillas von Lukas, denen er und seine kleine Clique nicht ganz grün waren. Die Kerle konnten sie schlichtweg nicht ausstehen und machten sich neuerdings überall breit. Schon der Auftritt dieses einen Typen im Bogside neulich hatte ihm gereicht. Wie ein Schatten hatte sich der Kerl an Julia geheftet, doch zum Glück hatte Max ihn rechtzeitig vertrieben, bevor die Lage eskaliert war. Aber Max konnte nicht überall sein. Und er alleine gegen Lukas? Da würde er den Kürzeren ziehen. Und das, obwohl Lukas mit dem Auswechseln der Schlösser, unmittelbar nach Julias Seitensprung mit Tim, bewiesen hatte, dass er in solchen Dingen keinen Spaß verstand. Gekränkte Eitelkeit oder bitterer Ernst? Chris konnte ihn nicht einschätzen, aber so oder so spielte es keine Rolle.

Nach dem zu urteilen, was Julia ihm über ihren Ex erzählt hatte, konnte sie froh sein, dass sie ihn rechtzeitig losgeworden war und sich Tim noch keine blutige Nase eingefangen hatte. Ihm reichten schon die Spuren, die sie ihm gezeigt hatte. Der typische Fall von häuslicher Gewalt, hatte er entsetzt gedacht, aber leider galt immer noch: Wo kein Kläger, da kein Richter – zwingen konnte man niemanden, und dennoch... Irgendwann hatte sie zugegeben, wie bedauerlich sie es fand, Chris nicht schon viel früher kennengelernt zu haben, anstatt sich von Lukas und seinem anziehenden Äußeren blenden zu lassen. Zwei verschwendete Jahre mit diesem Psycho wären ihr erspart geblieben.

Das hatte Chris für sehr unwahrscheinlich gehalten; einfach nur Jeans und T-Shirt, in Kombination mit einer verwilderten Frisur – Julia hätte ihn doch niemals mit dem Allerwertesten angeguckt. Wie hatte der „Pappkamerad" im Bogside ihn doch noch gleich genannt, als sie aneinander geraten waren? Motorradfuzzi mit Klitsche von Werkstatt... häßlicher Vogel mit dem Pfeil in der Hand? Das erste war eine absolute Frechheit, über die zweite Bemerkung konnte er nur müde den Kopf schütteln. Dass er rein optisch nicht das große Los gezogen hatte und nicht gerade als Magnet für Frauen galt, war ihm schon in der Realschule klargeworden – und jetzt das! Er konnte kaum glauben, dass Julia offenbar etwas ganz anderes in ihm sah.

Vorsichtig, beinahe ängstlich, um sie nur nicht aufzuwecken, schlüpfte er in seine Jeans und streifte sich ein T-Shirt über. Fröstelnd warf er noch einen letzten Blick auf Julia, die friedlich unter ihrer Daunendecke schlummerte, und verließ ihr Zimmer, um das zu tun, was er immer tat, wenn ein Problem ihn umtrieb: sich in die Arbeit stürzen. Die war paradoxerweise trotz des Flops mit der Harley nicht weniger geworden. Statt Autos waren es nun defekte Roller, die dringend auf seine Reparatur warteten. Außer den üblichen, winzigen Lackschäden, die nicht der Rede wert waren, weil man sie leicht mit einem Radiergummi entfernen konnte, waren es meistens die Bremsen, deren Instandsetzung bei dem ein oder anderen Kunden Schnappatmung oder gar eine veritable Ohnmacht hervorrufen würde, wenn es ans Bezahlen ging, und das war das letzte, was er wollte. Zumindest würden sie sich freuen, wenn der Lack der akribisch polierten Vespas in neuem Glanz erstrahlte, und die ein oder andere unentgeltliche Serviceleistung wie das Beseitigen ähnlich kleiner Schäden würde sie bestimmt bei Laune halten und zum Wiederkommen animieren.

Aber da hatte er noch nicht mit Max gerechnet, dem kein besserer Zeitpunkt als dieser Sonntagmorgen eingefallen war, um in aller Herrgottsfrühe vor der Tür zu stehen. Für das traditionelle Familienessen mit Kürbissuppe war er definitiv einige Stunden zu früh dran. Der geplatzte Deal mit dem Besitzer des Bogside machte seinem Bruder definitiv zu schaffen, doch hinter seiner Angespanntheit steckte noch etwas anderes. Sein Blick auf die abholbereiten Vespas sprach Bände.

„Du weißt ganz genau, dass uns Deine Gutmütigkeit geschäftlich noch das Genick brechen wird", versetzte er Chris mit säuerlicher Miene einen verbalen Seitenhieb. „Wenn wir weiterhin unsere Dienste unter Wert anbieten, sind wir in spätestens einem halben Jahr pleite."

Max hatte gut reden – abgesehen davon, musste er gar nicht so weit in die Zukunft gehen, um zu wissen, dass es im Moment für ihr gemeinsames Baby gar nicht gut aussah – seiner Meinung nach war der Punkt schon mit der Harley erreicht, die sie eigentlich hatten verkaufen wollen, die aber nun immer noch in der Werkstatt herumstand und sich mit jedem Tag zur größeren Belastung für sie entwickelte.

Wenn nicht bald ein Wunder geschah, dann blieb ihnen kein halbes Jahr mehr.

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