17 - Lara: Double X - ein Schluck für die Engel

Der Regen fiel in Strömen auf sie herab, nun konnte es losgehen.

Das Wasser hing wie eine undurchdringliche Wand in der Luft. Niemand würde etwas sehen, also auch sie nicht. Zuschauer konnte sie keine gebrauchen, und dank des Wolkenbruchs, wegen dem alle wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen nach drinnen verschwunden waren, konnte sie nun ihren Plan in die Tat umsetzen.

Besser kann es doch gar nicht laufen, dachte Lara. Das bisschen Regen? Sie war doch nicht aus Zucker! Gut, dass sie mit sieben Jahren ohne Schirm das perfekte Training hatte, das ihr jetzt zugute kam. Gefahr, dass jemand von der Hochzeitgesellschaft aus dem Fenster blickte, bestand nicht; so wie die Band da drinnen spielte, war die Tanzfläche gut gefüllt. Und selbst wenn... In ihrer olivgrünen Tarnkleidung war sie auf diese Entfernung hin kaum auszumachen. Über den Rasen huschen und das Spalier auf der Rückseite des Gebäudes hochklettern: So sah der Plan aus. Hineinzukommen wäre ein Kinderspiel, aber ganz oben bei den Schlafkammern der Dienstboten begann der wirklich schwierige Teil.

Wenn Seine Lordschaft nichts hatte umbauen lassen, würde sie die auf dem Plan mit einem X markierte Stelle im Nu finden. Der Mensch war ein Gewohnheitstier, und für Seine Lordschaft galt das erst recht. Sein Pech! Mitleid hatte sie mit Sir Randolph und seiner feinen Sippschaft nicht im geringsten. Krumm geackert hatte sie sich, und dann reichte ein Fehltritt, damit Mylady einen hysterischen Anfall bekam und Lara hochkant hinauswerfen ließ. Das war ja schlimmer als bei DowntonAbbey. Und das im Jahr 2013.

Ja, etwas war schiefgegangen bei ihrem zehnten und letzten Kontakt mit dem Weinenden Engel, das hatte ihr der Blick auf eine Zeitung im nächsten Papierkorb verraten. Der Blitz aus ihrem Tablet hatte nicht nur Paolo für immer versteinert, sondern so viel Energie freigesetzt, dass sie weiter als üblich in die Vergangenheit zurückgeschleudert worden war. Ohne Papiere, hatte sie gedacht, das wird schwierig.

Wie sie es geschafft hatte, sich fern der Heimat durchzuschlagen, war ihr immer noch ein Rätsel. Eine ganze Reihe von Festlichkeiten auf diesem herrschaftlichen Gut, da wurde jede Hilfskraft gebraucht. Manche Leute sparten gerne Geld, indem sie am Fiskus vorbeiwirtschafteten, da nahmen sie es mit Papieren nicht so genau und drückten gerne ein Auge zu. Leider hatte ihre Glückssträhne ein jähes Ende gefunden, als sie im Pub auf diesen Typen – Gavin –getroffen war und sich später herausstellte, in welcher Beziehung er zu ihren Arbeitgebern stand.

Wir haben zwar die Zehner Jahre, aber wenn man selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen ist, die Herrschaft anscheinend aber immer noch im neunzehnten lebt, ist es keine so gute Idee, wenn man sich mit deren Neffen einlässt. Wenn der Traumtyp dann auch noch das schwarze Schaf der Familie ist und nichts Gutes im Schilde führt, ist es an der Zeit, getrennte Wege zu gehen; selbstredend ohne Arbeitszeugnis oder ähnlich geartete Referenzen – von einer Abfindung ganz zu schweigen. Was erwartete sie auch von Seiner Knickerigkeit?

Aber die würden sich noch wundern! Niemand servierte Lara einfach so und ohne angemessene Entschädigung ab. Dafür würde sie schon selbst sorgen. Heute. Barfuß erklomm sie das Spalier und ließ sich durch das ein Spaltbreit hochgeschobene Fenster in den spärlich beleuchteten Gang gleiten. Die Stiefel baumelten mit zusammengebundenen Senkeln um ihren Hals, denn Fußabdrücke wollte sie nicht hinterlassen, und der Läufer würde das von ihr herabtropfende Wasser schon aufsaugen, ohne dass es groß auffiel.

Wie sie richtig vermutet hatte, waren alle Dienstboten unten, und keiner würde sie aufhalten. Nahezu lautlos huschte Lara über den ausgetretenen Läufer, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, bis sie vor der Wandvertäfelung stand. Auf dem Plan hatte Gavin hier das X eingezeichnet. Forschend schaute sie sich um. Irgendwo musste sich der Auslöser für den Mechanismus befinden, der ihr Zutritt zum geheimen Treppenhaus verschaffen würde.

Hoffentlich kam jetzt niemand die Treppe hoch. Horch!  Schritte näherten sich. Verdammt Lara, denk nach – wo würdest Du den Schalter positionieren?  Hektisch glitten ihre Augen über die Vertäfelung- da!

Gerade noch rechtzeitig fand sie das winzige Astloch, in dem sie suchend mit dem Finger herumstocherte, bis sie endlich das sehnlich erwartete Klick! hörte.

Jetzt aber husch, husch, hinein und das Paneel wieder von innen festgedrückt, damit niemand Verdacht schöpft. Finsternis umfing Lara, aber sie traute sich nicht, die Taschenlampe anzuknipsen. Man sollte ja das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Es dauerte ewig, bis sie sich nach unten vorgetastet hatte.

Im Kellergeschoss ließ sie den Lichtkegel ihre Taschenlampe über den Boden wandern und folgte dem niedrigen Gang bis zu einer Wand mit andersfarbigen Ziegeln in der Mitte. Mit etwas Glück saßen diese so locker, dass Lara sie nur noch durchschieben und in den nächsten Kellerraum einsteigen konnte, hatte Gavin ihr erklärt. Wenn er so ein Genie war, hatte sie erwidert, warum stieg er nicht selbst über den Geheimgang in den Kellerraum ein und verschaffte sich Zugang zu dem kostbaren Fass, das Seine Lordschaft dort aufbewahrte.

Die Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen: Mit seinen einsdreiundachtzig war er zu groß, um in dem engen Gang vorwärts zukommen, aber Lara wäre klein und wendig genug, um das Werk der Bosheit zu vollenden. Die Idee hatte Gavin als einfach aber genial beschrieben: In den Keller einsteigen, dem Fass mehrere Flaschen abzapfen, die entsprechende Menge an Wasser nachfüllen und auf dem gleichen Weg wieder verschwinden, ohne größere Spuren zuhinterlassen. Inspiriert zu diesem Coup hatte ihn der Film „Angels' Share – ein Schluck für die Engel", in dem sich vier junge Leute in die Highlands aufmachen, um sich in einer Whiskydestillerie das kostbare Nass im Wert von über einer Million Pfund unter den Nagel zu reißen und an einen Sammler zu verkaufen, der alles geben würde. Das konnte er auch!

Onkel Randolph hatte von Whisky doch sowieso keine Ahnung, und hieß es nicht, dass Wasser manchmal den Geschmack des edlen Destillats durchaus verbessern konnte? Außerdem hatte er seinem Vater den Floh ins Ohr gesetzt, dass der liebe Gavin sich ruhig seine Brötchen selbst verdienen und sich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen konnte, dass sein späteres Erbe vielleicht nicht ganz so üppig ausfallen würde. Mehr als den Pflichtteil brauchte er gar nicht erst zu erwarten, der Hauptteil wäre in einer Stiftung besser aufgehoben. Sich die Brötchen selbst verdienen? Und wie er sie sich verdienen würde. Ganz groß absahnen würde er – mit Laras Hilfe.

Dass er die im Pub getroffen hatte, war wie ein Wink des Schicksals gewesen. Sie war nicht nur verdammt hübsch und hatte eine Bombenfigur, sondern war auch noch bei Onkel Randolph angestellt. Besser konnte es doch gar nicht laufen... Tja, hatte er gedacht, zumindest bis zu dem Tag, an dem ihre Liebelei aufgeflogen war. Welch freudige Überraschung, dass sie es seinem Onkel und ihrem ehemaligen Brötchengeber heimzahlen wollte. Ein Schluck für die Engel? Wie passend, hatte Lara in Gedanken ergänzt.

Da stand es, das Fässchen. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Zwei weiße Kreuze flankierten das Spundloch. Mit einem Schlauch beförderte Lara die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die mitgebrachten Flaschen aus ihrem Rucksack und kippte schadenfroh das mitgebrachte Wasser aus dem Kanister hinterher. Mit Wasser konnte man jedes Getränk verhunzen, auch teuren Whisky. Einen fünfundzwanzig Jahre alten Glenfarclas hatte sie einmal bei einem Tasting aufwerten wollen, ein Versuch, der gründlich misslungen war, weil die Qualität des völlig überbewerteten und überteuerten Grundstoffs eine solche Verbesserungsmaßnahme gar nicht erst zuließ. Fünfundzwanzig Jahre! Da lachten ja die Hühner.

Wetten, dass dieses „edle Wässerchen" vom selben Kaliber war und dank ihrer Aktion Sir Randolph nicht mehr ganz so viel Spaß an seinem bei der Auktion erstandenen Fäßchen haben würde? Innerlich sich die Hände reibend, verstaute sie die von Gavin zum Verkauf bestimmten Flaschen und den Schlauch im Rucksack und machte sich zum Gehen bereit. Im Geiste zählte sie schon die Scheinchen und freute sich auf die bevorstehende heiße Nacht mit ihrem Geliebten. Oh ja, sie würden es bei der Feier ihres gemeinsamen Coups ordentlich krachen lassen. Doch es sollte nicht mehr dazu kommen.

Den leeren Kanister in der einen Hand und die Taschenlampe in der anderen, erstarrte sie sprichwörtlich zu Stein, als die Deckenbeleuchtung anging und Sir Randolph die Tür zum Kellergewölbe aufstieß, dicht gefolgt von seinen Freunden.

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