15 - Julia : Die Maschine - Teil 2


Ein einst maßangefertigter, weiß-rot-silberner Traum, nun umgebaut und bereit für den nächsten Kunden: Wie gut, dass Chris die Maschine fotografiert hatte, bevor es mit den aufwendigen Umbauarbeiten losgegangen war. Jetzt stand die Harley vor ihm und erstrahlte in neuem, noch prächtigerem Glanz und war von Chris bereits für den neuen Werbeflyer abgelichtet worden. Sich wegen der Verwendung der Vorher-Nachher-Bilder mit einem Dritten abzustimmen, war nicht nötig.

„Lust auf eine Extra-Runde?", begrüßte Chris seinen Bruder überschwänglich, doch der hielt sich bedeckt.

Mit dem Hinweis auf etwas ganz Dringendes, das er noch zu erledigen hätte, machte er Chris den Vorschlag, doch Julia auf dem Soziussitz mitzunehmen, statt ihn fahren zu lassen. Auf den ersten Blick gab es daran nichts auszusetzen. Der neue Eigentümer würde bestimmt nicht ausschließlich alleine damit durch die Gegend cruisen, sondern garantiert auch mal eine zweite Person mitnehmen wollen, und da war es bestimmt nicht verkehrt, das Fahrverhalten des umgebauten Motorrads zu zweit zu testen. Wenn Chris darauf einging und Julia genauso begeistert anbiss, vielleicht klappte es jetzt endlich im dritten Anlauf mit dem Verkuppeln der beiden, nachdem er die ersten beiden Male damit so kläglich gescheitert war. Und vielleicht war ja doch etwas an dem Sprichwort dran, dass aller guten Dinge drei sind.

Julia konnte ihr Glück kaum fassen. Neulich noch hatte sie sich schweren Herzens von ihrem Traum verabschiedet. Und jetzt sollte sie an einer Probefahrt teilnehmen, die normalerweise nur dem Käufer eines Fahrzeugs vorbehalten war? Bitte sag ja, betete sie im Stillen. Zu ihrem Erstaunen fackelte Chris nicht lange und schnappte sich einen zweiten Helm, um ihn Julia in die Hand zu drücken. Beten half anscheinend manchmal doch – die Probefahrt konnte beginnen.

Lange hatte die zwar nicht gedauert, doch für Julia waren diese fünfundvierzig Minuten das Highlight der Woche gewesen. Wann hatte sie sich das letzte Mal so unbeschwert und sicher zugleich gefühlt? Was machte es schon, dass sie einen Helm tragen und auf das Gefühl des Wehens ihrer Haare im Wind verzichten musste? Auch dass es keine Griffe gab, an denen sie sich festhalten konnte, so dass sie gezwungen war, sich an den Fahrer zu schmiegen? Bei Chris musste sie jedenfalls keine Angst haben, dass dieser zu waghalsigen Überholmanövern ansetzte oder in Wut geriet, weil ein anderer ihm die Vorfahrt nahm, so wie Lukas. Die paar Male, die sie bei ihm mitgefahren war, hatten ihr gereicht.

Andere hatten sie beneidet, weil ihr Freund ein Cabrio fuhr, aber seine cholerischen Anfälle hinterm Steuer waren dieses zweifelhafte Vergnügen nicht wert. Ganz anders dagegen die Fahrt mit dem Motorrad, auch wenn sie es nicht selbst gesteuert hatte. Schade, dass dies die letzte Gelegenheit für sie gewesen war und sich der Käufer schon für den kommenden Montagmorgen angekündigt hatte. Je eher das Geschäft über die Bühne ging, desto besser. Schließlich hatte Chris noch am selben Tag wegen der Flyer seinen Termin mit der Druckerei.

Während dieser die Maschine wieder an ihren gewohnten Platz schob, hantierte Julia mit der Kaffeemaschine. Das altersschwache Gerät wäre das erste, was sie hier austauschen würde, sobald die Harley verkauft war. Zugegeben, der Kaffee schmeckte ja nicht schlecht, aber wie lange das immer dauerte...

Warum nur war sie bloß so ungeduldig?

Es war Samstagnachmittag, es gab kaum noch was zu tun, und Tim war von seiner wöchentlichen Tour mit dem Laster auch noch nicht zurück. Ganz zu schweigen von Max, der sich auffallend schnell verabschiedet hatte. Konnte es sein, dass ihr langweilig war? Höchste Zeit, sich mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen, vielleicht mit dem Sichten der Bilder für die Werbebroschüre.

Gespannt fuhr Julia das Firmenlaptop hoch und hätte es am liebsten gleich wieder heruntergefahren. Noch langweiliger ging es ja wohl nicht! Rein technisch war mit ihnen alles okay, aber das Bike als alleiniges Motiv in der Bildmitte zu plazieren, war für sie an Einfallslosigkeit kaum zu überbieten. An den Vorher-Fotos ließ sich wohl nichts mehr ändern, denn die Transformation war längst abgeschlossen, aber vielleicht ließ sich bei den Nachher-Aufnahmen noch etwas machen. Und sie hatte schon eine ungefähre Idee.

Pinterest war eine wahre Fundgrube, wenn es um Themen aller Art ging, zu denen Bilder wie an einer Pinnwand festgeheftet waren; nur dass sich hinter ihnen Links verbargen, die zu anderen Seiten im Internet führten. Tausende und Abertausende sogenannte Pins füllten die Startseite, und mit jeder Minute wurden es mehr. Julia griff nach ihrem eigenen Laptop und loggte sich in ihr Account ein. Es bedurfte nur eines Suchbegriffs als Quelle der Inspiration: „Classic Cars & Motorbikes". Schade nur, dass ihr Laptop im Schneckentempo arbeitete. Sie konnte nur noch geduldig abwarten, welche Auswahl auf der Startseite erscheinen würde.

Historische Fahrzeuge im Detail, eine Gruppe Biker mit dem Spruch „Group Therapy" am linken Bildrand, ein Yoda (Motorradfahren Du musst), weibliche Pin-Ups als Dekoration – nein, diese Art von Bildern konnte sie vergessen. Doch dazwischen tauchten immer wieder vereinzelt Aufnahmen von Stars auf, zusammen mit ihren geliebten Maschinen. Matthew McConaughey, Pierce Brosnan, Steve McQueen, Michael Hutchence.

War das nicht genau das, was sie schon die ganze Zeit über suchte? Auf das eine Bild des langhaarigen Sängers, der dem Fotografen den Mittelfinger entgegenstreckte, konnte sie getrost verzichten, schließlich befanden sich in der Sammlung auffallend viele Aufnahmen von ihm, die geeigneter waren.In diesem Album befanden sich noch mehr Bilder mit anderen Personen darauf, und so bestanden für sie gute Chancen, ein angemesseneres Motiv zu finden, das sie mit Chris für den Flyer nachstellen wollte.

Sie war beeindruckt von der schieren Menge der Bilder, die eines gemeinsam hatten: Die jeweilige Person darauf verlieh dem Foto Leben. Chris war zwar weder ein Rockstar noch eine jüngere Version von Matthew McConaughey, aber als Moodboard war diese Sammlung durchaus zu gebrauchen. Nun musste sie ihn nur noch davon überzeugen, dass es an der Zeit war, eine zusätzliche Fotosession einzulegen, und zwar mit ihr hinter der Kamera.

„Sie ist ein Model und sie sieht gut aus", war Chris' trockener Kommentar, als er Julia von hinten über die Schulter schaute. Entsetzt fuhr sie in die Höhe und hätte um ein Haar das Laptop dabei heruntergerissen.

Sie hatte Chris nicht hereinkommen hören, so vertieft war sie in die Bildersammlung gewesen. War ja klar, dass ihm jetzt so ein Oldie aus dem letzten Jahrhundert einfiel – der Mauszeiger war bei einer Schwarz-Weiß-Aufnahme von einer dunkelhaarigen Schönheit aus den Fünfziger Jahren auf ihrer blitzblanken Vespa stehengeblieben.

Er wird doch nicht, dachte sie...




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