11 - Max : Gefährliche Brandung
Nach dem missglückten Abend im Bogside hatte Max das Gefühl, seinem Bruder und dessen Freunden als Entschädigung ein Alternativprogramm anbieten zu müssen. Um ein Haar wäre Julia ausgerastet und hätte dem Typen, der sich vor Chris und Tim aufgebaut hatte, den Pfeil sonst wohin gerammt, doch das hatte er noch verhindern können. Erst nachdem Max ein Machtwort gesprochen hatte, war der Pappkamerad, wie er ihn so unfein bezeichnet hatte, davongeschlichen, jedoch nicht ohne einen Haufen halbverständlicher Flüche zu murmeln, die sich auf das gesamte Quartett bezogen.
Leider war auch das Alternativprogramm auf der Kirmes nicht so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Nachdem Julias Augen beim Anblick des Werbeplakats für die diesjährige Hafenkirmes geradezu begehrlich geleuchtet hatten, war ihm dieser Gedanke gekommen, von dem er sich hinterher wünschte, er wäre zum Zeitpunkt seines Entstehens von einer temporären Amnesie befallen worden. Er sah sie wieder vorsich, die Szene, mit der das Unheil seinen Lauf genommen hatte...
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Die Planken knarrten - sie hatten ihr Ziel erreicht: Julia, Chris und Tim. Max kam als letzter mit den Tickets hinzu. Vor ihnen war er, der Katamaran - die größte Schiffschaukel weit und breit. Großspurig hatte Max alle eingeladen und sich gebrüstet, dass dieses Karussell das einzig Wahre sei: nichts gegen den Klabautermann, aber hiermit konnte eine popelige Geisterbahn nicht mithalten. Für Max, den Meister der Achterbahnen, war die große Stunde gekommen; schon, weil er nun endlich seinen Bruder und Julia miteinander verkuppeln konnte.
Er musste nur noch sicherstellen, dass Tim ihm nicht dazwischenfunkte.
Kaum hatten sie Platz genommen, läutete es, und der Katamaran setzte sich in Bewegung. Chris erbleichte. Max lächelte in sich hinein; er wusste, gleich griff Julia nach dessen Hand, um ihn zu beruhigen. Der Rest war ein Kinderspiel. Schlecht konnte seinem Bruder nicht werden, er hatte ja nichts gegessen, dafür hatte Max gesorgt. Schade nur, dass Chris nun nicht mehr in den Genuss der Tintenfischringe kommen würde, denn die letzte Portion hatte Max ergattert. Aber vielleicht warteten ganz andere Genüsse auf ihn. Man konnte nie wissen, was der Abend noch brachte. Der Katamaran nahm Fahrt auf.
DieTintenfischringe rollten... mit jedem Schwung der Schaukel wurde ihm immer sonderbarer. Windstärke 6. Kalter Schweiß auf der Stirn: Julia sah ihn besorgt an. Er gefiel ihr gar nicht, mit jeder Woge wurde er blasser. Windstärke 9 – Sturmtief. Max' Gesicht war so grün wie wogendes Seegras. Gleich brach er zusammen – im Auge des Sturms.
Schiffschaukel mit Überschlag.
Nein, doch nicht. Zum Glück ebbte die Brandung ab. Der Tsunami war ausgeblieben, doch nur Chris und Julia waren heil davongekommen. Mit Max war nichts mehr anzufangen. Und Tim? Der war genauso blass, doch wenn er klug war, würde er dieses Erlebnis genauso totschweigen wie sie.
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Da hatte er sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert, und über seinen peinlichen Auftritt hätte er am liebsten den Mantel des Schweigens gebreitet – er, der König der Karussells, hatte es gnadenlos versiebt, und nun wusste selbst der Dümmste, dass er auch als selbsternannter Matchmaker auf ganzer Linie genauso grandios versagt hatte.
Allein schon deswegen, weil er in seinem ramponierten Zustand gerade noch mitbekommen hatte, wie Chris und Julia den von Übelkeit gebeutelten und kalkweißen Tim gestützt und auf der Rückbank von Julias Fiat abgeladen hatten. Er musste das kleine Einmaleins nicht beherrschen, um zu erkennen, dass sein Versuch, Chris und Julia miteinander zu verkuppeln, gründlich danebengegangen war. Denn nun machte sich Julia Gedanken um Tims Wohlbefinden anstatt über einen romantischen Abend mit Chris.
Weitere Versuche in dieser Richtung waren für Max dann wohl gestorben. Wie hatte er ahnen können, dass der Rest des Abends völlig anders verlaufen war, nachdem er sich empfohlen und den Weg nach Hause angetreten hatte.
Nachdem sie Tim, der sich trotz der vielen frischen Luft nicht wesentlich besser fühlte, ins Bett verfrachtet hatten, zogen sie sich mit einer Flasche Bier auf die Veranda zurück, um zu beratschlagen, was sie tun konnten. Max würde sich schnell wieder erholen, davon war Chris überzeugt. Außer etwas Rumoren im Magen und einem angeknacksten Ego fehlte ihm im Grunde nichts. So gut kannte er seinen Bruder – um ihn machte er sich keine Gedanken.
Tim dagegen gefiel ihm gar nicht. Er war schon am Morgen so komisch gewesen, blasser und wortkarger als sonst. Bestimmt hatte er sich wieder mit Delia gezofft. Dass die sich in den letzten Monaten richtiggehend zur Drama Queen entwickelt hatte und pausenlos am Nörgeln war, konnte sich Chris nicht erklären. So war sie doch früher nicht gewesen.
Allein schon dieses Theater an Ostern wegen des ausgefallenen langen Wochenendes, das sie für sich und Tim geplant hatte, weil der wegen der Coronakrise mit dem LKW Sonderschichten fahren durfte. Der Frühling hatte schon komische Auswirkungen auf die Hormone. Frust auf der ganzen Linie. Hatte es da bereits angefangen?
Weitergegangen war es im Sommer mit dieser Putzorgie, die über sie gekommen war, nachdem Tim das Badezimmer mal wieder als Schwimmhalle hinterlassen hatte. In deren Verlauf hatte sie das komplette Haus auf den Kopf gestellt. Ausgemistet hatte sie diesen Saustall, und zwar gründlich – die angebrochenen Spirituosen inbegriffen, und Tim. Den hatte sie während der vergangenen Monate nicht zum ersten Mal vor die Tür gesetzt. On-Off-Beziehung nannten andere das. Wie einen Lichtschalter, den man ständig ein- und wieder ausknipst.
Chris konnte wetten, dass das nur vorgeschobene Gründe waren und das Problem ganz woanders lag und das man mit wenigen Worten auf einen einfachen Nenner reduzieren konnte: „das Fitneßstudio und seine weibliche Kundschaft" - sechs Worte in der Langfassung. Noch knackiger ging es in drei Worten: „Meisterschaft im Flirten", oder noch kürzer: „Fremdgehkandidat".
Allerdings schien sich das gelegt zu haben, seitdem Tim bei Chris wieder eingezogen war. Eingezogen. Wie das klang. Wie nach einer Dauerlösung. Vielleicht herrschte schon länger Funkstille zwischen ihm und Delia. So langsam wusste Chris nicht mehr, woran er bei seinem besten Freund war.
„Die beiden sollten wirklich zusehen, dass sie miteinander ins Reine kommen", hatte Julia nachdenklich geäußert, als Chris den letzten Satz gesprochen hatte. Ja, vermutlich sollten sie das tun, dachte Chris, aber so lange Julia und Tim sich das kleine Zimmerchen an den Wochenenden teilten, würde das nicht so einfach werden. Oder womöglich auch gar nicht.
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