08 - Lara : Laras Entscheidung
Lara schloss die Augen und nippte an ihrem Glas. Ruhig, sagte sie zu sich selbst, bleib ganz ruhig, und atmete bewusst durch. Dabei musste sie an die Worte denken, die sie aufgeschrieben und an den Kühlschrank gepinnt hatte. „Beende angefangene Dinge, und Du erhältst inneren Frieden."
Eigentlich war der Sinn hinter ihnen ein anderer und nicht die Anweisung an ihren Bruder, angefangene Lebensmittel oder die von der Party übriggebliebenen Spirituosen zügig aufzubrauchen. Angefangene Dinge beenden...
Lara seufzte und nahm noch einen Schluck von dem schweren Barolo, dessen tiefrote Farbe allein schon eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Angefangene Dinge beenden - das klingt so einfach, wenn es sich um eine Tüte Chips oder eine Flasche Milch handelt, aber eine Entscheidung zu treffen, die ihr ganzes Leben in eine andere Bahn lenken würde, war etwas völlig anderes und mit so etwas banalem wie dem Aufräumen der Wohnung nach einer Party wohl kaum zu vergleichen. Nein, diese Aufgabe war größer und würde ihr einiges abverlangen.
Wie durchbricht man einen Kreislauf, in den man nur durch puren Zufall geraten ist und dem man seitdem nicht entkommen kann? Ein Kreislauf, an dessen Beginn man sich nicht mehr erinnern kann? Lara waren nur noch zwei Fixpunkte geblieben: Jenes unsägliche Halloween, an dem sie Paolo zum ersten Mal begegnet war und jede weitere zukünftige Begegnung mit ihm.
Dass sie durch die Abfolge von unterschiedlichlangen Zeitschleifen jegliches Zeitgefühl verloren hatte, war längst nicht das Schlimmste. Wenn sie die Zeiträume zusammenzählte, in denen sie ihre Vergangenheit wieder und wieder durchlebte, kam sie gut und gerne auf fünf Jahre, vielleicht auch auf sieben.
Mit Bedauern dachte sie daran, wie dumm sie doch gewesen war und die Euphorie sogar noch genossen hatte, in die Vergangenheit zu reisen und an gewissen Stellschrauben drehen zu dürfen. Wie überlegen sie sich doch gegenüber Tim gefühlt hatte, der ebenfalls von einem Weinenden Engel in die Vergangenheit versetzt worden war. Doch diese Putte war noch klein gewesen und ihre Fähigkeiten noch nicht voll entfaltet.
Sie dagegen hatte das „Vergnügen" gehabt, nicht bloß die letzte halbe Stunde erneut zu erleben, bei ihr ging es um andere Zeiträume: Mal sechs Monate, mal drei, dann wieder nur zwei Wochen... sie war immer nur für kurze Zeit von Paolo zurückgeschickt worden, und wenn sie sich dann endlich wieder gegenüber standen, überkam sie stets ein Schauer. Zu gerne hätte sie ihn länger berührt, aber genau das war nicht möglich.
Eine Berührung mit einem Weinenden Engel genügte, und man landete irgendwo in der Vergangenheit, je nachdem, wie viel Energie der Engel aus diesem Zeitsprung zu gewinnen suchte. Paolo mochte zwar aus derArt geschlagen sein, und ganz am Anfang hatte sie sich sogar noch auf die Begegnungen mit ihm gefreut. Doch das verliebte Kribbeln mit den berühmten Schmetterlingen im Bauch war längst vergangen. Inzwischen waren Lara diese ständigen Wiederholungen nur noch lästig.
Wenn es doch wenigstens so gewesen wäre wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier" oder wie in jenen Geschichten von Leuten, die die Lottozahlen, Sportergebnisse oder Aktienkurse eines bestimmten Datums in der Zukunft kennen und durch die Anwendung ihres Wissens stinkreich werden. Leider hatten Laras Zeitschleifen die unangenehme Eigenschaft, sich gelegentlich zu verändern, und damit auch ihr Leben.
„Change keeps us moving on"?
Lara schnaubte verächtlich. Für alle anderen vielleicht, aber nicht für sie. Die einzigen Veränderungen, die sie erlebte, fanden in der Vergangenheit statt. Eine Vergangenheit, die sich stets zwischen zwei Fixpunkten abspielte. Eine Vergangenheit ohne Wechsel der Jahreszeiten: keine Schneeglöckchen im Frühling, keine Libellen im Sommer...
Ein Leben im Reset-Modus, gefangen zwischen Herbst und Winter, ein Leben ohne Zukunft. Doch damit würde heute und für immer Schluss sein.
In Gedanken ging sie die vor ihr liegenden Stunden und ihren Plan noch einmal durch. Am späten Nachmittag sollte das Treffen im Park stattfinden. Zeit und Ort hatte sie mit Bedacht gewählt, denn damit konnte sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Es wäre noch hell genug für das, was sie vorhatte, und dass sich an der verabredeten Stelle andere Menschen aufhielten, war nicht zu erwarten. Zum Glück, denn wenn es etwas gab, das sie nicht brauchen konnte, so waren es Zeugen, denn die würden alles nur unnötig verkomplizieren.
Wie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen, waberte Nebel in der Nähe des Eingangs zum Park. Früher wäre Lara erschaudert, aber jetzt kümmerten sie solche Kleinigkeiten nicht mehr. Entschlossen betrat sie den Skulpturengarten und schaute sich um. Sie war jetzt bis zu dessen Zentrum vorgedrungen und auf ihrem Weg dorthin keinem Menschen begegnet. Kein Wunder, die Bäume rundherum wirkten in ihrer Kahlheit trostlos und unheimlich, und weil die Sonne nicht schien, war der Park heute kein einladender Ort. Spaziergänger bevorzugten in der Regel schöneres Wetter und eine ansprechendere Umgebung. Doch für ihre Zwecke war dieser Umstand perfekt.
Das Geräusch hinter ihr kannte Lara zur Genüge. Jedes Mal dasselbe Knirschen von Marmor auf Kies. Und jedes Mal lief ihr dieselbe Gänsehaut den Rücken hinunter. Reiß Dich zusammen, versuchte sie, sich innerlich für das zu wappnen, was nun kam.
Nur noch wenige Meter trennten sie und Paolo voneinander. Ihre Hände fest in den Manteltaschen vergraben, drehte sie sich langsam um. Jetzt bloß nichts falsches tun. DON'T BLINK.
Auf keinen Fall blinzeln. Jedenfalls noch nicht jetzt.
Ihre Finger legten sich um das kühle, sich seidig anfühlende Tablet, bereit zum Schuss. Bereit zum Angriff auf das ahnungslose Opfer. Doch versuchen Sie mal, nicht zu blinzeln, wenn Sie an nichts anderes denken können. Dreimal dürfen Sie raten, was dann passiert. Und wenn Sie sich mit einem solchen Engel konfrontiert sehen...
Nur noch wenige Sekunden blieben Lara, dann würde sich Paolo mit ausgebreiteten Armen auf sie stürzen und sie an sich ziehen. Wenn sie nicht erneut auf Zeitreise geschickt werden wollte, dann musste sie handeln, und zwar schnell. BLINK! Genau jetzt! Lara stellte sich in Position und riss ihr Tablet am ausgestreckten Arm in die Höhe und brachte es zwischen sich und Paolo.
„Es ist aus!" schrie sie aus Leibeskräften, und auf Paolos Gesicht erschien ein Ausdruck des Entsetzens, als er auf der Tabletoberfläche sein eigenes Spiegelbild erblickte. Dann erstarrte er auf der Stelle zu Stein.
Wer ebenfalls erstarrte, war Lara. Zu spät erkannte sie, dass in dem Augenblick, als der grelle Blitz während des Fotografierens aufgeflammt war, Paolo nach ihrer Hand gegriffen hatte und diese nun fest umklammert hielt. Noch einmal flackerte der Blitz auf, dann fiel das Gerät zu Boden und verstummte augenblicklich. Es wurde schwarz, und das einzige, was außer einem Haufen unbrauchbarer Elektronikteile übrig blieb, war Laras Handschuh in Paolos verkrümmten Fingern.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top