05 - Chris : Blinder Passagier - Teil 1
"Dieses Jahr wird fabelhaft, weil es endlich geklappt hat, Bruderherz!"
Nur zu gut erinnerte sich Chris an das Telefonat mit Max, der kaum an sich hatte halten können vor Begeisterung, als er ihm die frohe Botschaft überbracht hatte, sobald die Gewinnzahlen gezogen worden waren. Fünf Richtige für diesen Glückspilz. So war es immer schon gewesen. Während seinem älteren Bruder alles zuflog, war er das vom Pech verfolgte Nesthäkchen.
Wie Hohn waren ihm Max' Worte damals vorgekommen: Mit seiner Werkstatt krebste Chris am Rande der Zahlungsunfähigkeit herum, konnte die Rechnungen gerade so bezahlen und schuftete wie ein Depp, um rechtzeitig mit den Aufträgen fertig zu werden, damit die wenigen Kunden nicht auch noch absprangen. Dieses Jahr wird fabelhaft? Für Max vielleicht; toller Job, tolle Freundin, und obendrein auch noch Gewinner im Lotto. Tolle Wurst! Wie war das nochmal mit dem Teufel und dem größten Haufen? Manche Sprichwörter sind eben nicht ohne Grund entstanden. Dass das Jahr dann ganz anders verlaufen war, hatte sich als große Überraschung herausgestellt; eine Überraschung, deren Folgen Chris noch immer beschäftigten.
Es war mitten in der Nacht, er lag wach und konnte nicht schlafen. Er hatte längst den Überblick verloren, wie oft er sich schon von links nach rechts gedreht hatte. Das letzte Mal war es irgendwann nach drei Uhr gewesen, als er wiederholt auf seinen auf sechs Uhr eingestellten Radiowecker gestarrt hatte. Chris seufzte. Andere waren an solchen Wochenenden bis in die frühen Morgenstunden unterwegs, und er wälzte sich schlaflos hin und her. Wieder einmal, und immer dann, wenn etwas Neues auf ihn zukam. So wie jetzt. Eigentlich sollte er an diesen Zustand längst gewöhnt sein, grübelte er vor sich hin. Die letzten Monate hatten ihm doch deutlich gezeigt, wohin die Reise ging.
Chris hatte es kaum glauben können, dass sich Max, der große Überflieger, innerhalb von nur wenigen Wochen nach Bekanntgabe der sechsstelligen Gewinnsumme von seiner Freundin getrennt hatte. Das war im Februar gewesen. Den Job hinzuschmeißen, war nur der nächste logische Schritt in dieser Kette, den er allerdings erst im Mai getan hatte.
Jetzt ist er völlig irre geworden, hatte Chris da noch gedacht, Max war wohl der Frühling zu Kopf gestiegen. Aber dann hatte er ihm einen Vorschlag gemacht, der überaus vernünftig und verlockend zugleich klang und der auch in gewisser Weise erklärte, woher sein Sinneswandel gekommen war. Was ihm nämlich inzwischen immer stärker gegen den Strich ging, waren die Raffgier und dass für sein Umfeld anscheinend nur noch das Motto „Geld, Geld, Geld" zählte.
Leute, die Max immer mehr auf den Zeiger gingen. Typisch, ging es Chris durch den Kopf, Max hatte leicht reden, wo er doch selbst genügend davon hatte, während er jeden Monat froh sein konnte, wenn er nicht noch tiefer in den Schulden versank. So eine Zwangsversteigerung kam schneller, als man dachte. Und genau da setzte Max' Angebot an: Er hatte einfach keine Lust mehr, Leuten, die den Hals nicht voll genug bekamen, auch noch Vorschub zu leisten und mitverantwortlich zu sein, wenn ein mühsam aufgebautes Geschäft am Ende bei der Bank landete. Also hatte als erstes in der Kanzlei gekündigt, um mit der Hälfte seines Gewinns die Werkstatt seines Brüderchens aus den roten in die schwarzen Zahlen zu befördern.
„Sieh es als Investition", hatte er gesagt, und am Ende war es dann doch eine erheblich höhere Summe gewesen, mit der sich Max an Chris' Werkstatt beteiligte. Und seitdem sich Max als Teilhaber bei „M & C Motor Service" um die Finanzen kümmerte, ging es mit dem Laden endlich langsam aufwärts. Die einen hatten es mehr mit Zahlen und waren handwerkliche Legastheniker, die anderen dagegen eher die Praktiker, denen das Händchen fürs Finanzielle fehlte.
Inzwischen war es schon Oktober, und Chris konnte sich über Aufträge kaum beklagen. Das Jahr raste nur so dahin. Auch wenn er sich über Geld keine Sorgen zu machen brauchte, reichte es noch nicht, jemand zweites für die Werkstatt einzustellen. Da musste er jetzt leider noch für eine Weile alleine durch. Dabei hätte er gerade jetzt Unterstützung gebrauchen können. Beim Gedanken an den Auftrag, den Max für ihn an Land gezogen hatte, fuhr er sich nervös mit den Händen durch das wirr vom Kopf abstehende Haar und schleppte sich zum Fenster.
Da unten stand die Maschine, die ihm Max vor Stunden auf den Hof gerollt hatte. Eine Harley. Custom Made, erstanden von einem Typen, der seinerseits nach der Devise „Geiz ist Geil" das Motorrad für einen Spottpreis ersteigert hatte, selbst aber damit gar nicht zurecht gekommen war. Das war ja das Dumme an solchen maßgeschneiderten Umbauten: solange man selber damit fährt, ist alles bestens, aber sobald das Fahrzeug den Besitzer wechselt, fängt der Ärger an.
Ein verdächtiges Grollen aus der Ferne ließ nichts gutes erahnen. Ich sollte das edle Teil in die Fahrzeughalle rollen, überlegte sich Chris und streifte sich ein Shirt über. Kurz darauf stand er auch schon in seinen Arbeitsschuhen auf den Hof und bewegte die Maschine langsam in Richtung des geöffneten Hallentors. Ein Traum in Weiß, Rot und Chrom.
Für den Käufer war die Harley ein vermeintliches Schnäppchen gewesen, und wie in dessen Augen die Dollarzeichen gestrahlt haben mussten, konnte sich Chris so richtig vorstellen. Wie ein Bündel Uranbrennstäbe. Eigentlich eine Frechheit, wenn kostbare Dinge aus Nachlässen geradezu verschleudert wurden. Als ob die Hinterbliebenen in ihrer Trauer nicht auch so schon genug Probleme hatten. Eigentlich konnte ihm der Umstand, dass der Käufer anscheinend nicht der Hellste war und das Bike an Max weiter verkauft hatte, doch nur recht sein. Es erneut umzubauen und den Bedürfnissen des zukünftigen Eigentümers, den Max an der Angel hatte, anzupassen, war für ihn eine der leichteren Übungen und lukrativ noch obendrein. Für eine brandneue Harley hätte der Typ erheblich mehr hinblättern müssen.
Trotzdem wurmte es ihn, dass er diesen Kunden ausgerechnet Max verdankte – der selbst mit seinem Anteil das Ende für die Werkstatt abgewendet hatte. Und nun schlug er selbst Profit aus der ganzen Geschichte? Chris wollte gar nicht wissen, wie hoch Max' Provision bei diesem Geschäft war.
Nur noch wenige Meter, dann stand das Schätzchen im Trockenen. Am liebsten hätte Chris jetzt schon losgelegt, aber mitten in der Nacht an einer schweren Maschine herumzuschrauben, fand erstens von seinen wenigen Nachbarn niemand gut. Und zweitens plagte ihn nach der Anstrengung der Durst.
Sein Blick fiel auf die Wanduhr über dem Werkzeugschrank: Fünf Uhr – sich jetzt noch einmal hinzulegen, hatte keinen Sinn. Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige. Bis zur Küche hatte er es nicht weit, sie war von der Werkzeughalle nur durch eine Tür getrennt. Für gewöhnlich war die Tür verschlossen. Heute nicht.
Chris schaltete das Licht ein, und das erste was er sah, waren schmutzige Fußabdrücke auf dem gefliesten Boden. Dann fiel sein Blick auf zwei halbvolle, dreckige Gläser auf der Spüle. Die hatten noch nicht dagestanden, als er am letzten Abend die frischgeputzte und aufgeräumte Küche verlassen hatte, kurz bevor die Harley gebracht worden war.
Irritiert begutachtete er das eine, auf dem Abdrücke von Lippenstift prangten,als er von oben plötzlich ein Geräusch hörte.
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