01 - Julia : Am Haken


Lukas hatte sie doch nicht mehr alle!

Voller Zorn knallte Julia die Haustür hinter sich zu und stürmte schnaubend die Straße hinunter. Schon seit Wochen gärte es in ihr. Oh, diese verdammte Eifersucht. Lukas und seine haltlosen Verdächtigungen waren kurz davor, sie in den Wahnsinn zu treiben. Aber jetzt war das Maß voll. Mit seiner jüngsten Anschuldigung hatte er erreicht, dass sie an die Decke gegangen war und nun ihr Viertel durchstreifte, auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich abzureagieren.

Fünfzig Meter weiter zu ihrer Linken befand sich das Bogside. Normalerweise war die irische Kneipe gut besucht. Jetzt befand sich nur knapp die Hälfte des sonst so zahlreichen Publikums darin, aber das war ganz normal. Dienstags war hier nie viel los. Umso besser, dachte Julia. Vielleicht fand sich so schneller jemand für eine Runde Darts.

Oh ja, erst mal ein großes Guinness, und dann die Pfeile in die Scheibe donnern. Bullshit Darts hatten sie und ihre Freundin Mellie das Spiel getauft, bei dem sie sich vorstellten, sie würden nicht auf Nummern zielen, sondern auf Fotos mit den Gesichtern all jener, die sie zur Weißglut brachten. Lukas zum Beispiel! Heute hätte sich sein Porträt besonders gut im Zentrum der Scheibe gemacht. Und dann ein Bull's Eye nach dem anderen werfen - Mellie hätte bestimmt freudig mitgemacht.

Blöd nur, dass sie zur Zeit nicht erreichbar war, sondern sich auf einer Reise durch Irland befand. Wie passend. Dann halt nicht. Julia würde schon jemand anderes finden.

„Out of Order" verkündete das Pappschild, das jemand am elektronischen Darts-Automaten aufgehängt hatte. Auch das noch! Ging denn heute alles in die Hose? Na, wenigstens funktionierte noch die Jukebox.

Okay, sie konnte ihre Münzen auch hier loswerden. Zum Glück hatte sie vorher noch die Pappröhre mit dem Wechselgeld geplündert. Geld, das sie vor dem Wäschewaschen immer aus den Hosentaschen von Lukas' Jeans herausgefriemelt hatte, und da sich in der Röhre früher eine Literflasche Single Malt befunden hatte, war dort auch ordentlich was reingegangen. Jetzt hatte sie ordentlich was rausgenommen, um es sinnlos zu verprassen.

Das geschieht ihm recht, grollte sie. Er sollte sich bloß nicht einbilden, dass er mit ihr machen konnte, was er wollte. Oh ja, das würde ein heiterer Abend werden. Nachdem sie dem Barkeeper ihre Order durchgegeben hatte, ein Guinness und einen doppelten Jameson's, marschierte sie geradewegs auf die Jukebox zu, vorbei an den Leuten, die am Tresen saßen und mit sich und ihren Getränken beschäftigt waren. Wie viele es genau waren, nahm Julia gar nicht so richtig wahr. Dafür aber zog sie die Aufmerksamkeit des Typen auf sich, den sie beim Vorbeigehen versehentlich streifte; leider aber nicht so, wie man es hätte erwarten können, denn der Kerl war nicht in Flirtlaune.

„He, pass doch auf, blöde Kuh!"

Mein Gott, krieg dich wieder ein, rollte sie genervt mit den Augen, Dein Bierglas ist doch noch voll genug. Was sollte also der Aufstand wegen dem bißchen übergeschwappten Kilkenny. Am besten ignorierte sie ihn und konzentrierte sich lieber auf den Inhalt der Jukebox.

Dropkick Murphys, Paddy goes to Holyhead, The O'Reillys and the Paddyhats... Spitzenauswahl, was für eine gute Idee, hierher zu kommen. Mit einem Scheppern verschwanden die Münzen in dem Apparat, dann erklangen die punkig-folkigen Klänge, die sie so liebte. Was gab es besseres als das, wenn man so richtig Dampf ablassen wollte? So, das Wichtigste war erledigt, jetzt konnte sie sich ihren Getränken widmen, die der Barkeeper inzwischen für sie auf dem Tresen abgestellt hatte. Für ihren Geschmack leider zu dicht an dem Heini, der sie eben so blöd von der Seite angemacht hatte. Mit Schwung griff sie sich das Glas, um einen Hocker von ihm weg zu rutschen; aber auch das wurde von dem Kerl entsprechend kommentiert.

Oh Mann, jetzt stell dich wegen der paar Tröpfchen bloß nicht so an, knirschte sie innerlich mit den Zähnen. Was für ein Vollpfosten: Obwohl sie sich entschuldigt hatte, textete der Kerl sie weiter zu und dachte nicht daran, sie in Frieden zu lassen. Nerv. Nerv. Nerv. Herrgott, konnte man denn nirgends seine Ruhe haben? Inzwischen hatten auch andere diese Szene mitbekommen. Vor allem der Typ mit dem Hut, der drei Plätze weiter saß und nun auf diese kaum zu stoppende Nervensäge aufmerksam wurde.

Das fehlte noch, dass es gleich zum großen Krawall kommen würde, stöhnte sie innerlich vor sich hin. Und tatsächlich erhob sich der mit dem Hut von seinem Sitz und kam langsam näher. Eine Schlägerei war das letzte, was hier gebraucht wurde. Nein, das war kein Zufall: Mr. Cowboyhut wollte nicht an ihnen vorbei, um draußen mal eben eine zu rauchen. Der kam ganz gezielt auf sie zu, das sah sie ganz deutlich an der Art, wie er den Nervtöter und sie ins Visier nahm. Vor allem sie. Zuerst ihn, dann heftete sich sein Blick an ihrem fest. Zwar nur für Bruchteile von Sekunden, aber die reichten aus, um die Luft zum Knistern zu bringen.

Jeder, der keinen tiefergelegten IQ besaß, hätte die in der Luft hängende Elektrizität spüren können, aber manche waren wohl wirklich nicht die Hellsten, und zu denen zählte der Typ neben ihr offensichtlich. Wäre er clever gewesen, hätte er zugesehen, dass er Land gewann. So aber blieb er sitzen und ließ es drauf ankommen. Mist. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Ohrfeigen hätte sich sich können. Warum war sie nicht einfach aufgestanden, als der Typ zu nerven angefangen hatte, und hatte sich nicht woanders hingesetzt? Egal wohin. Was sie jetzt nicht brauchte, war ein Fremder, der sich als Held berufen sah, sich um die Dame in Bedrängnis zu kümmern. Der rettende Held? Na Bravo, und zu allem Übel musste sie auch noch feststellen, dass sie ihn vom Sehen kannte, auch wenn ihr sein Name nicht einfiel. Aber war das wichtig? Jetzt stand er direkt vor ihnen, und es fehlte nicht mehr viel bis zur Explosion.

Julia wollte das alles nicht, doch nun steckte sie zu tief mit drin. Diesen Stress brauchte sie heute nun wirklich nicht mehr. Kurz blitzte dieser Gedanke in ihr auf, doch ein Ausweichen war nicht mehr möglich. Konfrontationskurs war angesagt. Niemals würde das gutgehen. Schön würde es schon gar nicht werden. Der eisige Blick, den der eine dem anderen zuschoss, sprach Bände. Ein Wunder, dass der klägliche Rest von abgestandenem Bier in dessen Glas nicht auf der Stelle gefror.

„Guinness extra cold" war nichts dagegen. Aber der Blitzfrost zeigte Wirkung. Für einen Moment war Ruhe, dann richtete er seinen Blick auf Julia: „Belästigt der Kerl dich?"

Von wegen „Frosta ist für alle da", unterkühlter Charme sah anders aus. Julia war weit davon entfernt, als Eisskulptur den Raum zu verschönern, auch wenn sie bei seiner Stimme eine Gänsehaut bekam, und erst dieser Blick... Sie wusste mit Bestimmtheit, dass sie ihn kannte, auch wenn sie immer noch nicht auf seinen Namen kam. Wie sie sich wünschte, er wäre ein anderer. Und gleichzeitig auch wieder nicht. Man hatte sie vor ihm gewarnt, denn es verging kein Wochenende, an dem er nicht eine andere abschleppte, mit welchen Sprüchen auch immer – Sprüche, von denen womöglich einer noch abgedroschener war als der andere. Kein hübsches Mädchen war vor diesem Schwerenöter sicher. Und doch... Eine Idee schwebte durch den Raum, und sie musste nur noch eins tun: schnell zugreifen. Sehr schnell sogar. Oh ja, mit dem, was sie vorhatte, würde niemand rechnen, und am wenigsten er.

Mit einem betont lässigen „Wie kommst Du denn darauf.... Süßer?!" erhob sie sich und griff nach ihrer Tasche. Dem zur Salzsäule erstarrten Nachbarn am Tresen warf sie einen letzten, mindestens genauso unterkühlten Blick zu. Der jedenfalls würde keinen Mucks mehr von sich geben. Fein, Teil eins der Mission war erfüllt; nun konnte sie den zweiten Teil in Angriff nehmen, und der Startschuss dazu war mit dem eindeutig als Provokation gemeinten „Süßer" gefallen. Wie war das nochmal mit den x-ten an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen gewesen, sie hätte Lukas in seiner Abwesenheit betrogen? Von seiner grundlosen Eifersucht hatte sie die Nase gestrichen voll. Glauben würde er ihr trotzdem nicht, auch nach ihrem Krach von heute.

Lukas suchte einen Grund? Bitteschön – den konnte er haben. Steter Tropfen höhlt den Stein.

Die Zeit war reif, die Gelegenheit günstig, und sie hatte den idealen Kandidaten gefunden: sexy, attraktiv, optisch genau ihr Typ. Einer, der keine überflüssigen Fragen stellte. Einer, der es selber mit der Treue nicht so genau nahm und deshalb auch keine Scherereien machen würde, wenn sie ihm gleich danach Auf Wiedersehen sagte. Ja, den hier hatte sie fest an der Angel, und sie würde ihn während der nächsten Stunden nicht mehr vom Haken lassen. Schließlich war der Abend noch nicht vorbei und die Nacht noch viel weniger.

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