▫️Zwei Geiseln▫️

Ich lande nur Millimeter neben Ariu, der erschrocken aufspringt.
"Mann, hast du mich erschreckt!"

Ich versuche, mich zusammenzureißen, um nicht loszulachen über seinen Gesichtsausdruck, aber es will mir nicht wirklich gelingen, und ich grinse.

"Haha, sehr witzig. Diese 19 Stunden stumpfes Warten waren so ziemlich die längsten Stunden in meinem Leben...
Wobei es mit genug Schlaf zwischendurch sogar irgendwie ging.
Allerdings sind mir dabei meine Beine eingeschlafen, die Position, in der ich lag, war ständig unbequem und auf Toilette musste ich auch.
Also... Irgendwann wusste ich halt nicht mehr so genau, wer von uns wo genau gesessen hat."

Ich sehe Ariu erstaunt an und frage mich, warum er auf einmal so aufgeschlossen ist.
Er verdreht die Augen, zuckt mit den Schultern und hebt beide Hände.

"Was denn?"
Er schenkt mir einen leicht grimmigen Blick, dann beginnt er, sich aufzurappeln.
"Lass uns keine Zeit verschwenden."

Wir laufen weiter in Richtung Osten und ich erzähle ihm spontan ein wenig von meinem Tag und der Schule, als mir langweilig wird. Mias Bemerkung darüber, dass er keine "vertrauenswürdige" Person sei, lasse ich weg.

Ich habe mir ein breites Schweißband in einem Laden neben dem "Antiken Paradies" mitgenommen, das mein Metallband sehr gut verdeckt. Es ist schwarz, nur eine kleine weiße Katze leuchtet mir entgegen.
Ich dachte, das würde Lucy bestimmt gefallen, wenn sie es sähe, es ist sozusagen eine Erinnerung an meine kleine Schwester.
Ich vermisse sie mehr, als ich je gedacht hätte.

Dann rege ich mich noch ein wenig über Mathe auf. Ich habe den Stoff heute einfach nicht kapiert, und leider wird es für mich da auch keine Extraerklärungen geben, weil die Lehrer mich nicht wahrnehmen.
Ariu verspricht mir, mir bei Gelegenheit weiterzuhelfen.

Ich lächle und schaue zu Boden, damit Ariu es nicht sieht.
Aus irgendeinem Grund ist er heute wesentlich freundlicher zu mir als gestern.

Ich beschließe, mich nicht weiter darüber zu wundern. Ehrlich gesagt bin ich von seinem Vorschlag freudig überrascht. Ich verziehe meine Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. Ariu fährt sich mit der Hand durch die Haare und erwidert mein Lächeln etwas verlegen.

Bevor die Peinlichkeit der Situation noch ausartet, erklärt Ariu mir seinerseits, dass die Schule und das Schulsystem in Kay eigentlich dem von meinem Zuhause entsprechen würden, es jedoch kleinere Unterschiede bei den Fächern gebe.

Bei Ariu stand zum Beispiel in einem Schuljahr mal "Kämpfen mit einer beliebigen Nahkampfwaffe", also Schwert, Säbel oder sonstigem auf dem Stundenplan, in einem anderen hat er das Schießen mit Pistole und Gewehr gelernt. Diese speziellen Fächer wechseln jahrweise. Die restlichen glichen aber den meinen.

Was mir besonders skurril erscheint ist, als Ariu meint, sie müssten alle 14 Tage für drei Schulstunden still sitzen oder liegen. Jedes Mal gäbe der Lehrer eine andere Pose vor.
Ariu erklärt mir, dass das wohl eingeführt worden sei, weil an dem Tag, als die Wissenschaftler Kay angegriffen haben, alles drunter und drüber ging. Die Lehrer wollen sie so wohl darauf vorbereiten, dass sie, wenn so etwas wieder vorkommen sollte, sich ohne Probleme ein paar Stunden lang komplett ruhig verstecken können.
Das finde ich gar nicht mal so unpraktisch, mir schläft mein Arm ja schon ein, wenn ich ihn nur mal fünf Minuten nach oben halte. Ganz ehrlich, ausprobieren würde ich das schon mal gerne, aber ich glaube nicht, dass ich da lange durchhalten würde.

Ariu meint, dass man in Kay bis zu einem Alter von 21 Jahren in die Schule muss. Dafür sei bei ihnen das Schuljahr in zwei Hälften geteilt, in der ersten müssten sie jeden Tag außer sonntags in die Schule, aber im zweiten Halbjahr hätten sie komplett frei.
Morgen endet das erste Halbjahr für ihn, somit war es in Ordnung, dass er den Auftrag mit mir zwei Tage früher begonnen hat.

"Hey, warte mal!"
Ariu packt mich plötzlich grob am Handgelenk und zieht mich mit sich in den nächsten Busch.

Dann legt er den Finger an die Lippen und zischt mir, als er meinen fragenden Gesichtsausdruck sieht, zu:
"Da kommt wer!"

Und tatsächlich kann ich leise Schritte hören und zwei Stimmen, die mit der Zeit lauter werden.

"...wenn wir doch nur das bescheuerte Dorf finden würden!"
Das Fluchen eines Mannes lässt mich aufhorchen.

Ich spähe aus dem Busch hervor und versuche die beiden Gesprächspartner zu erkennen.
Der eine Mann hat die Stirn in Falten gelegt und scheint nach einer Antwort zu überlegen, er ist dünn und muskulös, aber klein.
Der andere, der vermutlich eben von Kay gesprochen hat, ist viel größer und kräftig gebaut

Ob das wohl Nachkommen sind?

Anscheinend hat der kleine Mann endlich eine Antwort gefunden, er gestikuliert in Richtung des anderen wild mit den Händen und beginnt:
"Wir brauchen irgendwelche Informationen, wir müssen die Anführer einfach umstimmen! Ich habe keine Lust darauf, mir Tag für Tag die Füße wund zu laufen. Wir dürfen erst zurückkommen, wenn wir das Dorf gefunden oder irgendwelche anderen wichtigen Informationen für die anderen haben. Bist du dir eigentlich sicher, dass es ein Dorf ist, nachdem wir suchen? Diese Menschen, die wir bekämpfen sollen, könnten doch genauso gut auch durch das Land ziehen wie wir, und, wenn sie sich an einem Ort sicher fühlen würden, Zelte aufschlagen. Wenn sie Späher ausschickten, würden diese sehen, ob wir uns ihnen näherten, sobald wir das tun sollten, würden sie schnell ihre Zelte abbauen und die Beine in die Hand nehmen.
Das könnte doch der Grund dafür sein, warum wir sie nach so langer Suche immer noch nicht gefunden haben! Schließlich haben schon unsere Großväter sie vergeblich gesucht."

"Pah. Das wird sich ändern! Wir sind jetzt besser ausgebildet und haben viel mehr Leute auf unserer Seite! Ob gezwungen, überredet oder freiwillig, alle werden für uns kämpfen!",
schaltet sich wieder der Große ein.

Ich erschauere. Nach dem, was die Männer da eben gesagt haben, sieht es nicht so aus, als hätte Kay gute Chancen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte. Das einzige Gute ist, dass die Nachkommen anscheinend nicht wissen, wo Kay liegt. Noch nicht.

Wenn sie wüssten, wie verdammt nah sie daran sind...

Die beiden Männer laufen langsam. Mittlerweile sind sie einige Meter vor Ariu und mir stehen geblieben und im Begriff, sich auf einem großen Felsen, der mit Moos bewachsen ist und mitten im Weg liegt, zu setzen, als ich neben mir eine Bewegung wahrnehme und zusammen zucke.

Doch es ist nur Ariu, der sein Gewicht auf das linke Bein verlagert und sich näher zu mir beugt
"Hey! Die sollen Kay finden! Bevor sie unser Dorf oder etwas anderes Wichtiges entdeckt haben, dürfen sie nicht zurück, das hast du doch gehört, oder? Wir aber sollen deren Unterkunft finden.
Sie müssen irgendeinen Grund bekommen, uns zu ihrem Lager zu führen!"

Ich starre ihn verwirrt an, während Ariu überlegt. Ich wünschte, ich könnte seine Gedanken lesen, ich habe gerade nämlich überhaupt keine Ahnung, was er vorhat.

"Sie müssen einen Grund bekommen, uns zu ihrem Lager zu führen", grübelt Ariu erneut.

Klar. Das werden sie bestimmt freudestrahlend freiwillig tun.

Plötzlich geht ein Leuchten über Arius Gesicht. Er grinst leicht, zum Teil erwartungsvoll, den anderen Teil kann ich nicht interpretieren.
"Ich glaube, wir müssen es versuchen", wispert er mir zu, "wir lassen uns als Geiseln gefangen nehmen."

WAAS??????

Blitzschnell bildet sich in meinem Magen ein Klumpen, der sich vor Angst zusammenkrampft. Mir wird übel.

Anscheinend erwartet Ariu keine Antwort, denn ehe ich etwas erwidern kann, bricht er in einen Hustenanfall aus, darauf folgt ein Fluch.

Starr vor Schreck beobachte ich, wie sich die Männer umsehen und langsam ihre Umgebung absuchen.
Der große, muskulöse Mann kommt direkt auf uns zu, er ruft etwas, woraufhin sich sein Begleiter ebenfalls nähert. Aus der Nähe wirken die beiden noch kräftiger.

Ich sehe, dass ihre Kleidung zerrissen ist. Das Hemd des kleinen Mannes war vermutlich einmal rot, jetzt ist davon nichts als ein schlammiges braun mit leichtem Rotstich übrig geblieben.
Auch ansonsten sehen die Gefährten dreckig aus und die Bräunung kommt wohl nicht nur von der Sonne.
Ich will schon angeekelt die Nase rümpfen als einer der Männer die Stimme hebt.

"Na, wen haben wir denn da?"

Der kleine Mann packt mich mit triumphierendem Lächeln am Kragen und zerrt mich zu sich. Er schaut seinen Begleiter mit amüsiert hochgezogenen Augenbrauen an.
"Ich habe dir doch gesagt, die Leute schicken Spione!"

"Grmpf."
Der große Mann greift nach Ariu, der mir mit den Augen Zeichen zu geben versucht.
Ich denke mal, das soll wohl heißen "Wehr dich nicht! Die sind eh stärker als du!"

Was glaubt der denn? Wenn wir beide brav wie Lämmchen mit zwei Leuten der Nachkommen mitgehen, wird das bestimmt ganz natürlich aussehen. Es wird überhaupt niemand Verdacht schöpfen, dass das ein ziemlich bescheuerter Plan von einem ziemlich doofen Typen sein könnte.
Sicher nicht.

Wütend trete ich dem Mann, der fast so groß ist wie ich, auf den Fuß, woraufhin der seinen Griff lockert.
Ich will wegrennen, aber bevor ich auch nur irgendetwas tun kann, reißt der Typ seinen Mund auf und schreit vor Schmerzen.
Dass er mir dabei seinen üblen Mundgeruch direkt in mein Gesicht bläst, scheint dem Kerl wohl egal zu sein. Von dem Gestank erbreche ich mich fast, auf jeden Fall ist mir jetzt schlecht und der Mann verdreht mir meine Arme auf dem Rücken in komische Winkel, woraufhin ich ganz sicher nicht mehr weglaufen kann und mich beherrschen muss, nun nicht selbst vor Schmerzen loszuheulen.

Ariu bedenkt mich wieder mit einem Blick, diesmal bin ich mir sicher, dass er "Ich hab's dir doch gesagt!" bedeutet.
Zornig wende ich mich ab.

"Hey Manys! Vielleicht dürfen wir ja als Belohnung im Lager bleiben, wenn wir die da", der kleine Mann tritt mir die Beine weg, "und den da", da er Ariu die Beine nicht wegtreten kann, muss er sich mit einem Kopfnicken in seine Richtung begnügen, "zu den Anführern bringen, was meinst du?"

Der große Mann, der sich Ariu über die Schulter geworfen hat und anscheinend Manys heißt, nickt dem kleinen Mann zu.
Dieser stößt mich auf meine Füße zurück, vom staubigen Boden, auf dem ich unbewusst liegen geblieben bin. Dann ziehen und schieben sie Ariu und mich los, was bei Ariu eigentlich gar nicht nötig ist, er läuft von alleine mit.

Der kleine Mann, der nach Anrede von Manys Berno heißt, flucht wie ein Rohrspatz und ich werde noch mindestens fünfzehn Mal auf die sandige, an manchen Stellen auch schlammige Erde gestoßen, bis wir eine kurze Pause machen.
Aber das ist es mir Wert. Wenn ich schon unfreiwillig als Geisel genommen werde, dann wehre ich mich auch, und lasse es nicht deswegen sein, weil der, der sich diesen "Plan" ausgedacht hat, es so von mir will.

Ariu und ich werden an einen Baum gebunden, Manys hat aus einem Rucksack, der mir bisher noch gar nicht aufgefallen ist, ein langes festes Seil hervorgeholt. Er und Berno fesseln uns zusammen, so fest, dass wir auch wirklich nicht mehr los kommen.
Dann verschwinden sie und lassen uns allein.

Es ist schon dunkel geworden, ich habe es gar nicht bemerkt, so sehr haben mich die letzten Stunden aufgewühlt. Ich merke erst jetzt, wie müde und fertig ich bin. Die kühle Luft kündigt die Nacht an und ich frage mich, wann ich wohl wieder aus Veron zurück nach Hause springen werde. Allzu lange wird es wohl nicht mehr dauern.
Hoffentlich haben wir dann schon die Unterkunft der Nachkommen erreicht. Daran, morgen Abend allein in Veron herumzuirren, will ich gar nicht denken, da bin ich ja schon lieber mit Ariu zusammen, auch wenn er mir mit bestimmten Ideen gehörig auf den Keks geht.
Ich verfluche mich in Gedanken dafür, als mir auffällt, dass ich meine Armbanduhr daheim vergessen habe und so die Uhrzeit nicht überprüfen kann.

Ariu beobachtet amüsiert, wie ich vergeblich versuche, das Tau zu lockern. Als ich seinen Blick dann erschöpft, aber wütend erwidere, sieht er mich beruhigend an.

"Hey, Jenny. Das klappt schon. Wir müssen doch nur herausfinden, wo das Lager der Nachkommen ist, wie viele sie ungefähr sind, und uns alles, was uns sonst noch irgendwie wichtig erscheint, merken. Wir schaffen das."

Pfft. Tolle aufmunternde Worte. Hat Ariu etwa vergessen, dass ich nur für ein paar Stunden am Tag hier bin?

"Ich weiß einfach nicht was du dir dabei gedacht hast. Hast du auch mal an mich gedacht?"

Ariu will mich unterbrechen, aber ich fahre fort, ehe er etwas sagen kann.
"In ein paar Stunden, oder einer Stunde, vielleicht dauert es sogar nur noch Minuten, springe ich wieder zu mir nach Hause! Schön, wenn du unbedingt allein mit Manys, Berno und Weiß-Gott-wem-noch sein willst, dann bitteschön, aber ich will das nicht! Mal angenommen, ich verschwinde, kaum dass wir wieder weitergezogen sind.
Was willst du den Männern überhaupt sagen? Was wird deine Ausrede sein, wenn ich plötzlich aus den Armen von Berno verschwinde?
"Huch, Jenny kann sich in Luft auflösen! Das hatte ich ja völlig vergessen zu erwähnen! Tut mir leid, dass ich es ihnen nicht früher gesagt habe!"
Oder wie? Wir sollen zusammen das Lager der Nachkommen ausspionieren, das ist unsere Aufgabe, oder? Was werden die Leute aus Kay sagen, wenn ich alleine dort aufkreuze, weil ich dich nicht mehr finde? Weil du alleine im Lager verschollen bist? Ich müsste erzählen wer ich bin! Und wenn ich von meiner wahren Herkunft erzählen würde, denkst du, sie würden das einfach so hinnehmen? Dann sähen sie mich als eine Komplizin von den verstörten Wissenschaftlern an, die ihr ehemaliges Dorf und ihre Vorfahren niedergemetzelt haben! Sie würden mir nicht glauben, wenn ich erzählen würde, dass mein Metallband nicht beschädigt ist, sie würden nicht glauben, dass es verbessert worden ist, sie würden das alles für eine Falle halten!
Und dann. Wenn sich dann alle aus Kay gegen mich wenden. Glaubst du, sie würden mir dann noch abnehmen, dass ich meine Warnung vor der Gefahr der Nachkommen ernst meine? Du hast selbst mitbekommen, wie nahe Manys und Berno Kay schon waren!"

Ich würde mir am liebsten die Hände vor die Augen schlagen, aber das geht ja wegen diesem bescheuertem Tau nicht. So lasse ich nur den Kopf hängen, um Ariu nicht ansehen zu müssen.

Mias Plan ist schon beim dritten Mal in Veron gescheitert, wenn das so weiter geht.
Aber mehr noch, mein ganzes Leben würde zerstört sein, wenn es so passiert, wie ich es Ariu gerade vorgeworfen habe.

Ich würde jeden Abend nach Veron springen, mein ganzes Leben lang.
Und wenn die Bewohner von Kay in meinem Dasein eine Falle der Nachkommen sehen würden, würden sie wohl nicht lang fackeln und meinem Leben ein Ende setzen.

Und für Ariu würde es dann auch keine Hilfe mehr geben, wenn ich einmal nicht mehr da wäre. Denn wenn mir die Einwohner Kays nicht glauben würden, dass ich ihnen helfen möchte, würden sie mir wohl kaum glauben, dass Ariu von den Nachkommen, die sie dann für meine "Komplizen" hielten, gefangen gehalten wird. Sie würden denken, dass ich ihn getötet hätte.

Die einzige Möglichkeit, dass die Einwohner von Kay mir dann glauben würden, dass ich auf ihrer Seite bin, bestünde darin, dass ich ihnen wirklich beim Vernichten der Nachkommen helfen würde.
Aber daraus ergibt sich schon das nächste Problem: Woher sollen wir denn wissen, ob die Leute, die vor uns stehen, jetzt Nachkommen der verstörten Wissenschaftler sind oder nur Menschen, die von den Nachkommen davon überzeugt wurden, dass Kay vernichtet gehört? Denn diesen Menschen dürfte ja theoretisch nach dem Tod der "echten" Nachkommen egal sein, ob Kay nun vernichtet wird oder nicht, da sie nicht mehr zum Kämpfen gezwungen werden.
Woher sollen wir wissen, ob Manys und Berno Nachkommen sind?
Keine Ahnung.
Eben.

Meine Gedanken überschlagen sich nur so in meinem Kopf. Ich spüre Arius Blick auf mir, aber er kann mich gerade mal kreuzweise.

Wir laufen bald darauf weiter, ich lasse mich wieder von Berno ziehen und schieben.
Ariu scheint ein schlechtes Gewissen zu haben, er wirft mir immer wieder entschuldigende Blicke zu. Mir doch egal.

Manys, Berno, Ariu und ich gehen immer weiter, mir tun die Füße weh und ich stolpere immer öfter, doch plötzlich sehe ich ein paar Lichter. Zwar noch ganz klein und in der Ferne, aber immerhin Lichter. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als wir näher kommen und ich sehe, dass wir tatsächlich bei dem Lager der Nachkommen angekommen sind.

Hoffentlich, bete ich stumm, hoffentlich bringen sie uns gleich in eine Zelle oder worin sie uns auch immer einsperren werden. Ich will nur noch in mein Bett und schlafen, aber davor müssen Ariu und ich einfach noch in eine Zelle gebracht werden. Ich will nicht morgen allein hier herumlaufen, bitte nicht.

Gleichzeitig fällt mir auf, wie nahe Kay doch wirklich am Lager der Nachkommen liegt. Es ist wirklich ein Wunder, dass sie das Dorf noch nicht gefunden haben...

Berno und Manys grüßen ein paar Männer, die bewaffnet in Gruppen herumstehen, und Ariu und mich gehässig anstarren. Ansonsten scheint es still im Lager zu sein, kein Wunder, bei der nächtlichen Stunde. Ich überlege, ob Manys und Berno sich wohl auch bald ein ruhiges Örtchen für die Nacht gesucht hätten, wenn sie uns nicht gefunden hätten.

Die beiden zerren Ariu und mich noch eine gute Strecke im Lager herum.
Es ist riesig. Von einem Aussichtspunkt aus hätte man vielleicht noch nicht einmal die ganze Unterkunft der Nachkommen im Blick.

Wir hätten es sicher auch ohne Berno und Manys gefunden.

Dann werden wir eine Marmortreppe hochgeschleift.

Höchstwahrscheinlich war hier schon vorher ein Dorf oder eine Stadt, die die Nachkommen nur vergrößern mussten, grüble ich.
Sie hätten wohl kaum Zeit gehabt, sich um spezielle Ausstattungen und Verschönerungen wie Marmor zu kümmern.

Die Marmortreppe gehört zu einem Haus, das ungefähr so groß ist wie das Rathaus in Kay.
Manys und Berno schieben Ariu und mich einen von vielen Gängen entlang, dann geht es noch mal mehrere Treppen nach oben bis wir vor einer wuchtigen Holztür halt machen, an der Manys sachte anklopft.

Man hört Gemurmel von drinnen.
Mehrere Stimmen rufen "Herein", woraufhin wir unsanft durch den Türrahmen gezerrt und in eine Ecke gestoßen werden.
Davor sehe ich noch, wie sich ein paar Leute von einem Tisch erheben, insgesamt sitzen an dem Tisch vielleicht fünfzehn bis zwanzig Leute.
Die Anführer.
Genau kann ich nicht zählen, da ich neben Ariu mit dem Gesicht gegen die Wand geschubst werde.

Mittlerweile bin ich total erschöpft und meine Beine tun weh vom vielen Laufen, Hinfallen und Gestoßenwerden, meine Handgelenke brennen, ich fürchte, sie sind von den Handfesseln schon ganz wund gerieben.

Berno und Manys reden auf die Leute am Tisch ein. Ich schätze, sie erzählen, für wen sie uns halten und wo und wie sie uns gefunden haben. Leider verstehe ich nur einzelne Wörter. Um genaueres zu hören, sind wir zu weit entfernt und Manys und Berno reden zu leise mit den anderen.

Müde gehe ich in Gedanken durch, was ich vom Lager bisher gesehen habe und versuche, mir alles einzuprägen, um es später widergeben oder mir wenigstens zu Hause aufschreiben zu können.
Mit einiger Mühe gelingt es mir, mich umzudrehen, wenigstens sehe ich jetzt mehr als nur die Wand und kann die Leute am Tisch betrachten. Sofort fällt mir auf, dass es nur Männer sind. Von Gleichberechtigung von Männern und Frauen haben die hier wohl noch nichts gehört. Aber das ist mir gerade, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal.

Nach dem Gespräch mit den Männern, das ziemlich kurz war, verlassen Manys und Berno den Raum und überlassen uns denen, die noch immer um den Tisch sitzen.
Einer von ihnen, er ist noch kräftiger als Manys, kommt auf uns zu und packt Ariu und mich ohne viele Worte.
Er schleift uns noch grober als unsere alten Begleiter wieder aus dem Zimmer und dem Gebäude heraus, die Marmortreppe herunter und wieder die Straßen des Lagers entlang.
Ich bin zu müde, um mir den genauen Weg zu merken.

Auf einmal bleibt der Mann abrupt stehen und schließt eine vergitterte Tür rechts von uns auf, die in einen schmalen Gang führt. Mir fällt auf, dass wir uns in einem etwas abgelegenen Teil des Lagers befinden, die dicht bebauten Gebiete haben wir hinter uns gelassen. Der Mann stößt uns in den Gang hinein. Die Wände sind gemauert und es ist ziemlich dunkel, nur durch vereinzelte Lücken in der Mauer dringt Licht herein.

An beiden Seiten des Ganges sind dicke Metalltüren eingelassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier so eine Art Gefängnis ist. Meine Vermutung wird bestätigt, als der kräftige Mann eine der Türen weiter hinten im Gang mit einem eisernen Schlüssel aufschließt und Ariu und mich in die Zelle schubst, die sich hinter der Metalltür befindet.

Mir entfährt ein leiser Schrei, als ich etwa einen Meter weiter hinten auf dem Boden auftreffe. Ariu zieht durch die Zähne scharf Luft ein und flucht, der Boden der Zelle ist steinhart.
Die Metalltür fällt krachend ins Schloss.

"Es tut mir so leid, Jenny!"
Er meint es ernst.

"Du hattest Recht, ich habe echt nicht daran gedacht, dass du nur fünf Stunden am Tag in Veron bist. Ich hab vorschnell gehandelt, ich weiß. Manchmal neige ich einfach dazu, zu handeln und dann erst über das Getane nachzudenken. Ich - keine Ahnung, es tut mir so leid..."

"Hey", unterbreche ich ihn schnell, bevor er sich noch mehr Vorwürfe machen kann. Das Gejammer bringt uns jetzt auch nicht mehr weiter.

"Ich weiß echt nicht, was du dir dabei gedacht hast, aber jetzt kann man es ohnehin nicht mehr ändern."
Plötzlich kommt mir eine Idee.
"Ich werde versuchen, daheim ein Brecheisen zu besorgen!"
Stolz sehe ich in die Richtung, in der ich Ariu vermute.

"Ja." Er klingt immer noch kleinlaut. So kenne ich ihn ja gar nicht.
"Vielleicht können wir die Zellentür dann irgendwie damit aufbrechen. Das meinst du doch, oder?

Ich nicke. Dann wird mir bewusst, dass Ariu das aufgrund der Dunkelheit wohl eher nicht realisiert.
"Mhm. Wenn wir erstmal hier raus sind, finden wir schon einen Weg, wieder nach Kay zu kommen." Ich versuche, meiner Stimme einen möglichst optimistischen Klang zu verleihen.

Warum versuche ich eigentlich gerade, Ariu aufzumuntern? Sollte es nicht eher andersherum sein? Schließlich trägt er ja die Schuld an unserer jetzigen Situation! Ich schüttle den Kopf und vertreibe die argwöhnische Stimme.

Dann höre ich ein leises Seufzen. Auf einmal spüre ich, wie etwas meine Hand streift.

Eine Ratte?

Fast hätte ich schon wieder einen Schrei losgelassen, doch dann merke ich, dass es sich um Arius Hand handelt.
Er nimmt meine Hand in seine und drückt sie sanft, ehe er sie wieder loslässt.

"Danke", vernehme ich.
So leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.

Ich räuspere mich. Einerseits, weil mir gerade noch etwas eingefallen ist, aber größtenteils, um die peinliche Situation zu überbrücken.
"Wenn jemand von den Nachkommen vor morgen Abend nach uns schaut, musst du dir irgendwas einfallen lassen. Irgendetwas, damit ihnen meine Abwesenheit nicht auffällt."

Ariu brummt zustimmend.
"Ich leg mich jetzt hin. Der Tag war ziemlich anstrengend und ich könnte eine Mütze voll Schlaf gebrauchen."

Erst jetzt merke ich, dass auch mir fast schon die Augen zufallen. Die Müdigkeit holt mich mit großen Schritten ein.
Ich lege mich auf den harten Betonboden und versuche eine Pose zu finden, in der mir ausnahmsweise kein Körperteil weh tut.
Die Luft hier drinnen ist auch nicht die beste, es riecht modrig, schimmelig und der Gestank von Fäkalien hängt ebenfalls in der Luft. Ich habe zwar bisher kein "Klo" gesehen, aber das liegt - hoffentlich - am mangelnden Licht.

Das, was mich jedoch am meisten daran hindert, Schlaf zu finden, ist die Kälte. Ich schlinge die Arme um mich selbst und versuche krampfhaft, meine Zähne am Klappern zu hindern. Mein ganzer Körper zittert. Ich würde darauf wetten, dass man weiße Atemwölkchen vor meinem Mund sehen könnte, schiene hier unten Licht.

So langsam aber sicher müsste es doch 23.30 Uhr sein, denke ich genervt.

Angestrengt horche ich, ob Ariu schon eingeschlafen ist. Mein Zähneklappern stellt jedoch alle anderen Geräusche für mein Gehör in den Hintergrund.
Ich presse meinen Kiefer fest zusammen.

"Ariu?"
Auf mein Flüstern antwortet niemand. Ich will gerade zu dem Entschluss kommen, dass er eingeschlafen ist, aber dann höre ich doch irgendetwas.

Sekunden später liegt Ariu neben mir. Ich halte den Atem an. Ohne Worte rutscht er noch ein Stück näher an mich heran. Tatsächlich wird mir gleich darauf etwas wärmer und ich schaffe es aufgrund von Arius Körperwärme, das Zittern meines Körpers einzustellen.

Wir tun nichts anderes, als nebeneinander zu liegen und mit etwas Hilfe des jeweils anderen gegen die Kälte anzukämpfen. Trotzdem überläuft mich ein wohliger Schauder, als Arius Kopf im Schlaf zur Seite sinkt und ich seinen warmen Atem an meinem Hals spüre.
Ich ignoriere das Bedürfnis, noch näher zu ihm zu kriechen und versuche, mich stattdessen auf den gleichmäßigen Atem von Ariu zu konzentrieren und darüber selbst einzuschlafen.

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