▫️Unzufrieden▫️

Wir hören die Türglocke durch die Mauern des Hauses hindurch läuten.
Die Eingangstür öffnet sich einen Spalt und Lydas Kopf erscheint, sie lächelt uns zu und zieht die Haustür dann ganz auf, um Ariu und mich herein zu lassen.
Den Weg hin zu Lydas Haus haben wir in einvernehmlichen Schweigen bestritten.

Wir streifen uns die Schuhe auf der Fußmatte ab und vernehmen bereits Manuelas Stimme, die aus der Richtung des Wohnzimmers kommt. Ich laufe Lyda nach, die gerade im Türrahmen des Wohnzimmers verschwindet und nehme Arius Schritte hinter mir wahr.

Der Esstisch ist gedeckt, ein dampfender Topf steht auf einem Korkdeckel, damit der Holztisch nicht gebrandmarkt wird.
An der Wand hinter dem Tisch hängt eine Wanduhr und ich sehe, dass wir bereits 21.45 Uhr haben.
Also noch eindreiviertel Stunden Zeit, bevor ich wieder zurück nach Hause in mein Bett springe.

Manuela und Lyda sitzen auf der einen Seite des quadratischen Esstisches, also nehme ich neben Ariu und gegenüber von Lyda auf dem einzigen freien Stuhl Platz. Irgendetwas drängt mich dazu, ständig den Kopf nach links zu drehen und Ariu anzusehen.
Langsam regt mich das auf, vor allem, da es Ariu scheinbar aufgefallen ist. Seine Mundwinkel umspielt ein leichtes Lächeln, doch er sieht mich nicht an.

Ich zwinge mich dazu, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken und konzentriere mich auf den dampfenden Topf vor mir.
Es stellt sich heraus, dass er Nudeln mit Tomatensoße enthält, die sehr lecker schmecken.
Während wir alle die Essensportionen auf unseren Tellern verspeisen, sagt keiner ein Wort. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

Schließlich bin ich so abgedriftet, dass ich mich dabei ertappe, wie ich meine Gabel voller Nudeln rechts an meinem Mund vorbeischiebe. Ariu und Lyda, die mich in diesem Moment angesehen haben, prusten los, woraufhin ihnen fast die Nudeln aus dem Mund fliegen.
Leicht verlegen blicke ich auf, um dann mit gesenkten Kopf den Rest meiner Nudeln in mich hineinzuschaufeln.
Kaum habe ich den letzten Bissen hinuntergeschluckt, zerreißt das Klingeln der Türglocke die Stille.

Auf meinen fragenden Blick hin zuckt Lyda die Schultern. Sie hat anscheinend auch keine Ahnung wer sie um diese Zeit, mittlerweile 22.23 Uhr, noch besuchen könnte.
Sie begibt sich in den Hausflur, während
Ariu, Manuela und ich gemeinsam den Tisch abräumen.

Nach kurzem erscheint Lyda mit einem Mann wieder, den ich als den Richter erkenne, allerdings trägt er diesmal keine Robe, sondern einen Pullover und Jeans.
Er schreitet zum Tisch und reicht Manuela zur Begrüßung die Hand, Ariu und mir nickt er zu.
Als Lyda Anstalten macht, ihm ihren Sitzplatz zu überlassen, hebt er nur abwehrend die Hände.

"Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.
Ich wollte euch", er heftet seinen durchdringenden Blick auf Ariu und mich, "nur Bescheid geben, dass ihr morgen um 19.00 Uhr zu mir ins Rathaus kommen sollt, damit ihr mir über euren Auftrag Bericht erstatten könnt. Länger möchte ich nun wirklich nicht mehr warten.
Ich hoffe, ihr habt einiges herausgefunden, was die Tatsache vielleicht wieder irgendwie abwiegeln kann, dass ihr die drei Nachkommen nach Kay geführt habt."

Der Richter hebt die Hand, als Ariu ihn unterbrechen will und mustert uns streng.

"Ich weiß, dass ihr Lukka schnell nach Kay bringen wolltet, damit seine Wunde versorgt werden kann, aber ihr hättet doch besser aufpassen müssen. Wenn unsere Wachen die Männer nicht so schnell entdeckt hätten, würde Kay in ein paar Tagen in Schutt und Asche liegen."

Ich beiße mir auf die Lippe und komme mir vor wie ein begossener Pudel.
"Es tut mir leid", murmele ich leise, als mir klar wird, dass der Richter auf eine Antwort wartet.

"Mir auch", gibt Ariu kleinlaut seine Zustimmung.
"Wir hätten uns öfter nach Verfolgern umschauen müssen, auch wenn wir Lukka schnellstmöglich nach Kay bringen mussten."

Ich weiß nicht, wie wir das hätten schaffen sollen. Ich habe mich schon so oft wie möglich umgeblickt und Ariu musste ja den Wagen lenken. Außerdem... Die Wagenspuren, die wir bei unserer Flucht hinterlassen haben, wären so oder so geblieben.

Aber als er mir einen warnenden Blick zuwirft, spiele ich lieber auch das arme Lämmchen, schlucke meinen Protest herunter und nicke stattdessen beständig zu Arius Worten.

Der Richter seufzt. "Na, zum Glück ist ja noch mal alles gut gegangen und die Männer wurden geschnappt. Außerdem lässt es sich jetzt ohnehin nicht mehr ändern."
Der Richter räuspert sich und wendet sich wieder an uns alle.

"Dann will ich euch mal nicht länger aufhalten. Gute Nacht allerseits. Ariu, Jenny - bis morgen. Tschüss, Lyda!"

Daraufhin verlässt der Richter das Haus.
Manuela, Ariu und ich helfen Lyda noch beim Abwasch, während ich mich hüte, zu fragen, ob denn hier in Veron schon der Geschirrspüler erfunden sei.

Nachdem Geschirr und Besteck wieder sauber gewaschen und abgetrocknet im Schrank liegen, mache ich Ariu leise darauf aufmerksam, dass wir schon 23.11 Uhr haben und wir schleunigst zu ihm nach Hause müssen, wenn ich nicht hier an Ort und Stelle zurückspringen und dann morgen um 18.30 Uhr wieder hier landen will.

Arius Kopf schießt ruckartig nach oben und er stößt einen erschrockenen Laut aus, als er merkt, dass ich Recht damit habe, dass es schon ziemlich spät ist.

"Mom?"
Er wendet sich an seine Mutter.
"Macht es dir was aus, wenn Jenny und ich schon mal vor gehen? Du kannst ja gerne noch ein bisschen bei Lyda bleiben, wir finden den Weg nach Hause schon", behauptet er und zwinkert ihr zu.

"Wenn du meinst. Gute Nacht ihr zwei!"
Arius Mutter umarmt erst ihren Sohn, dann mich mit einem stillen Lächeln auf den Lippen.
Danach verlassen Ariu und ich fluchtartig das Haus.

"Danke ", keuche ich, während ich neben Ariu die Straßen entlang spurte.

"Nicht der Rede wert", antwortet er, wobei er, dank seines komischen Langstreckenlaufunterrichts, ganz locker mit mir mithalten kann.

"Doch, das ist es!"

Ich weiß nicht, warum ausgerechnet jetzt, aber mit einem Mal kochen so viele Gefühle in mir über, dass die Worte nur so aus mir heraussprudeln.

Unser Auftrag, unsere Flucht...
Es beschäftigt mich, immer noch, brodelt in meinem Unterbewusstsein vor sich hin und hat nur darauf gewartet, jetzt wieder an die Oberfläche zu treten.

"Es ist meine Schuld, dass die Männer uns verfolgt haben. Alles ist meine Schuld! Dass wir diesen Auftrag überhaupt angetreten sind, dass du mit mir da raus musstest... Wir hätten sterben können! Wäre ich doch nur nicht so einfältig gewesen, denen allen zu erzählen, dass ich aus dem Lager der Nachkommen komme! Außerdem haben wir dort ja fast gar nichts Neues herausgefunden!"

"Hey, ganz langsam. Beruhig' dich, Jenny.
Erstens musste ich nicht mit dir den Auftrag erledigen, ich bin freiwillig mitgegangen.
Zweitens haben wir sehr wohl etwas Neues in Erfahrung gebracht... Wenn auch nicht viel.
Drittens haben wir Lukka gefunden und befreit.
Und viertens, wozu uns die drei Männer noch nützlich sein können, habe ich dir doch schon mal erzählt.
Ohne dich hätte man hier in Kay noch nicht einmal versucht, etwas gegen die Nachkommen dieser bescheuerten Wissenschaftler zu unternehmen!"

Ich starre ihn kurz an, dann konzentriere ich mich wieder auf den Weg, bevor ich noch hinfalle.
So hat sich Ariu noch nie über sein Heimatdorf und dessen Führung geäußert.

"Ja, okay... In gewisser Weise stimmt es vielleicht schon, was du sagst, aber ich trage trotzdem teilweise die Schuld an allem. Du hast den Richter doch selbst gehört, als er gesagt hat, dass Kay genauso gut schon in wenigen Tagen vernichtet sein könnte, wenn die Wachsoldaten die drei Männer, nicht erspäht hätten!"

Ariu schnaubt, was aber wahrscheinlich eher daran liegt, dass er genervt ist, als daran, dass er durch unsere schnelle Geschwindigkeit außer Atem gekommen ist.

"Und du weißt genau, dass du dem Richter am liebsten selbst eine bissige Bemerkung darüber, wie oft wir uns doch umgesehen haben, an den Kopf geworfen hättest! Und die Wagenspuren wären geblieben! Wir mussten fliehen, Jenny! Es gab keinen anderen Weg.
Und es bringt doch auch nichts, dass du dir jetzt die Schuld an allem gibst.

Wir haben bei dem Auftrag unser Bestes gegeben, auch wenn meine Einfälle manchmal etwas blödsinnig waren", gibt er zu.
"Wir haben mehr geschafft, als Bent und seine neun Begleiter! Und du warst es doch, die die Eisenstange zum Aufbrechen der Tür besorgt hat, ohne die wir niemals hier wären! Also hör bitte auf, dich selbst damit fertigzumachen."

Nach Arius Worten kehrt Schweigen zwischen uns ein.
Ich denke über seine Worte nach und füge nach einiger Zeit ein leises "Danke" hinzu, bei dem ich meine, dass sich Arius Mundwinkel ein Stückchen nach oben ziehen.

"Schon gut. Hör bitte nur auf, dir immer Vorwürfe zu machen, okay?"

"Okay... wenn du meinst", erwidere ich ihm, wobei ich mir denke, dass das jetzt aber auch leichter gesagt, als getan ist.

Und außerdem bin ich Schuld.

"Jenny?!", plötzlich hebt er die Stimme.
Ich überlege, ob ich etwas falsch gemacht habe und bemerke, dass wir unser Tempo erheblich gedrosselt haben und nebeneinander durch die Straßen schlendern. Erschrocken sehe ich ihn an und weiß schon, was er fragen will.

"Wie spät ist es?", kommt es Sekunden später von ihm.

Ich hebe meinen Arm und ziehe den linken Ärmel meines Pullovers zurück, um meine Armbanduhr darunter freizulegen, aber ich kann das Ziffernblatt nicht mehr erkennen, da bereits alles vor meinen Augen verschwimmt.
Das Letzte, was ich einigermaßen deutlich wahrnehmen kann, sind Arius weit aufgerissene, erschrockene Augen, dann verschwinde ich vor seinen Augen, mitten auf irgendeiner Straße von Kay.

~ 🗝️ ~

Ich schlage mir die Hände vor mein Gesicht und murmele leise "Oh mein Gott" vor mich hin.

Warum haben wir denn nicht bemerkt, dass wir immer langsamer geworden sind?

Jetzt tauche ich morgen mitten auf der Straße wie aus dem Nichts heraus auf und habe keine Ahnung, wohin ich gehen muss, um zu Ariu, Lyda oder zum Rathaus zu kommen.
Ich könnte mich mal wieder ohrfeigen dafür, dass ich mir die Wege, die ich laufe, immer noch nicht merke, obwohl ich mir das doch schon so oft vorgenommen habe.

Dann höre ich wieder Arius Stimme. "Hör auf, dir immer Vorwürfe zu machen."

"Ja... Sorry Ariu. Geht halt schlecht, dass ich mir keine Vorwürfe mach', wenn ich immer an allem Schuld bin", flüstere ich, mit dem Wunsch, dass er mich hört, oder dass mich überhaupt mal irgendwer hier wahrnimmt.

Dann fällt mir ein, dass ich nicht einmal hätte flüstern brauchen. Mich hört ja doch kein Mensch hier auf der Erde, außer Mia. Also kann ich gut und gerne auch herumbrüllen wie ich will, denke ich zufrieden und fange an zu schreien.

"Ich weiß, dass ich vielleicht nicht an allem Schuld trage! Aber wem soll ich die Schuld denn sonst geben, außer mir? Dir auf jeden Fall nicht, Ariu, auch wenn du das wahrscheinlich lieber hättest als dass ich die Schuld auf mich nehme. Verdammt, warum muss ich denn auch die Bewohner von Kay warnen, vor einer Gefahr, von der sie eh schon wissen? Warum hätten Mom, Dad, Lucy und meinetwegen auch diese blöde Katze die weiß-Gott-wie heißt, nicht einfach bei Oma und Opa wohnen bleiben können? Wär zwar ein bisschen schade gewesen, dass ich Ariu, Lyda, Lukka und Manuela nicht kennengelernt hätte... Aber wie soll ich denen in Kay denn helfen können?
Wie? Verdammt noch mal, was soll ich da?"

Mittlerweile schreie ich verschiedene Wände meines Zimmers, meinen Schreibtisch und verschiedene andere Möbel an, von denen ich weiß, dass sie weder etwas dafür können, dass ich nach Veron springe oder mich die anderen Menschen hier auf der Erde nicht sehen oder wahrnehmen können, noch etwas an diesen Tatsachen ändern können.

Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen. Ich muss schlafen, vorschlafen, für die Schule, die übermorgen wieder anfängt. Der Gedanke an die Schule erscheint mir gerade völlig absurd, abwegig und ganz weit weg.
Ich muss doch erst einmal schauen, wie ich zu Ariu finde, um dann mit ihm zum Rathaus und somit auch zum Richter zu gelangen. Das ist doch so viel wichtiger.
Ich will wieder nach Veron.
Dorthin, wo ich ich bin, und kein niemand.

Gähnend reibe ich mir die Augen, die vor Feuchtigkeit schwimmen.

Lass' gut sein, sage ich mir.
Verkriech' dich einfach in deinem Bett.

~ 🗝️ ~

Ein Rest Schläfrigkeit überkommt mich, als ich mich ins Badezimmer schleppe. Heute bin ich eindeutig früher aufgewacht als gestern. Scheinbar ist mein Schlafmangel wieder einigermaßen ausgeglichen, da ich mich bereits jetzt ziemlich wach fühle, um kurz nach 10 Uhr.

Der Tag verläuft ereignislos.
Man hätte ihn fast als entspannt bezeichnen können, wäre da nicht die Tatsache, dass mir heute das Fehlen in der Erinnerung meiner Familie wieder einmal so richtig bewusst wird.

Es fängt schon früh an.
Damit, dass ich nach einer erfrischenden Dusche nach unten gehe, um mich mit einer Schale Müsli vor den Fernseher zu setzen.

Als ich allerdings ins Wohnzimmer komme, werden meine Pläne sofort wieder zunichte gemacht.
Ich finde meine komplette Familie vor, die schon am gedeckten Frühstückstisch Platz genommen hat.

Lucy motzt Mom an, dass schon wieder kein Müsli mehr da ist, woraufhin ihr genervt erwidert wird, man könne auch noch so etwas wie Brot zum Frühstück essen. Also kann ich mir das Müsli schon mal aus dem Kopf schlagen.
Fernseh zu schauen scheidet auch aus, es sei denn, ich möchte mich aufs Sofa setzen und den schwarzen Bildschirm anstarren, weil es definitiv auffiele, wenn sich der Fernseher auf einmal von alleine anschalten würde.

Mir bleibt nichts anderes übrig als mich an Mom und Dad vorbei in die Küche zu schleichen und mir eine zum Glück schon geschnittene Scheibe Brot aus dem Brotkorb zu stibitzen.
Ich hole mir drei Scheiben Salami aus dem Kühlschrank, um damit mein Brot zu belegen. Leider stehen die Marmeladen, das Nutellaglas und die Butter auf dem Frühstückstisch.

Somit besteht keine Möglichkeit, ohne verschwindende Marmeladen-, beziehungsweise Nutellagläser und Butterdosen mir einen weniger herzhaften Brotbelag zu nehmen, wie ich es eigentlich bevorzuge.
Mit dem Brot in der einen Hand und einem Glas voller Leitungswasser sitze ich schließlich wieder in meinem Zimmer.
Eigentlich mag ich kein stilles Wasser und bevorzuge spritziges, aber die Flasche mit dem sprudeligen Wasser steht ebenfalls auf dem Esstisch.

Allein diese Situation reicht mir schon für den restlichen Tag.
Sonntag war bei uns immer Familientag.
Wir haben zusammen Spiele gespielt und abends ab und an einen gemeinsam ausgewählten Film angesehen.

Ich habe keine Lust dazu, meiner Familie jetzt dabei zu zusehen, wie sie ohne mich Spaß haben.

Also bleibe ich in meinem Zimmer sitzen und beginne mit den Hausaufgaben, die ich bis Montag aufhabe. Immerhin besser, als im Selbstmitleid zu versinken, finde ich.

Als ich genug von dem Schulzeug habe, lege ich mich aufs Bett und beginne ein Buch zu lesen, das schon länger darauf wartet, endlich mal von mir gelesen zu werden.

Dann wird das heute eben ein richtig schöner Lesenachmittag.

Zeit dafür habe ich ja jetzt ausnahmsweise mal, deswegen kann ich genauso gut lesen als unbeachtet durch die Straßen zu laufen, mich von Mia über gestern Abend bis Nacht in Veron ausquetschen zu lassen oder darüber zu grübeln, was Ariu wohl gerade so macht.

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