▪️Ricks Geschichte▪️
Rick erkennt die Stimme des Mädchens von der Lichtung im Wald wieder.
Jenny, die dort mit Ariu gezeltet hat, und nachdem die beiden über mehrere Stunden hinweg fort gewesen waren, festgenommen worden ist.
Und nun sitzt sie wohl gemeinsam mit ihm hier fest.
Er fragt sich nur, wieso er sie erst jetzt bemerkt. Rick ist schon seit einigen Stunden in diesem Gefängnis, aber es kommt ihm so vor, als wäre Jenny gerade eben erst aufgetaucht.
Als er sie bemerkte, war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. Aber ihr erging es wohl nicht anders, er hört es in ihrer Stimme. Dieser verschreckte Unterton verrät sie.
Schon wieder im Nichts verschwunden gewesen... Könnte das sein?
Ihm kommt etwas in den Sinn, das er nicht genauer definieren kann, dann gibt er sich einen Ruck.
"Ich bin Rick. Bin auch hier eingesperrt worden... aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht."
Oje, was rede ich da nur für einen Schwachsinn.
Rick fühlt sich fast, als hätte er es verlernt, ein normales Gespräch zu führen. Seine Gedanken verhaspeln sich und bilden gemeinsam mit den daraus entstehenden Lauten einen wirren Knoten.
Okay. Ganz ruhig, du schaffst das.
"Entschuldige bitte. Ich war einfach zu lange alleine und bin das Sprechen nicht mehr gewohnt. Zu lange...
Ich will ehrlich zu dir sein.
Ich komme aus dem Lager der... wie nennt ihr sie? Nachkommen?"
Jenny gibt einen bejahenden Ton von sich, wirkt, soweit er das beurteilen kann, aber immer noch misstrauisch. Vielleicht aber auch erst recht.
Rick flucht still auf, er hätte anders beginnen sollen.
"Hey... Ich tu dir nichts. Ich habe dich vorgestern gesehen. Mit dem Jungen und eurem Zelt, als sie dich mitgenommen haben. Kannst du mir vielleicht davon erzählen?", wagt er einen erneuten Versuch und gleichzeitig einen kleinen Vorstoß in Jennys Richtung.
"Ich weiß nicht... normalerweise sind die Nachkommen nicht besonders vertrauenswürdig, weißt du?"
Ihre Stimme klingt gefasst, aber das könnte ebenso gut trügen.
Rick überlegt. Dann beschließt er kurzentschlossen, einfach reinen Tisch zu machen.
Er möchte Jennys Vertrauen gewinnen, dieses Bedürfnis keimt zunehmend in ihm auf. Und etwas in ihm schreit geradezu danach, endlich mal wieder jemandem von sich zu erzählen.
All das loszuwerden, was sich aufgestaut hat, über Jahre und Gedanken hinweg.
"Okay. Dann werde ich dir zuerst einmal von mir erzählen. Danach kannst du ja immer noch überlegen, ob du mir vertrauen möchtest."
Rick wartet kurz, ob sie etwas erwidern möchte, nachdem er jedoch nur auf die Stille der Zelle lauscht, fängt er einfach an, zu erzählen.
"Als ich noch ein Baby war, begannen die... Nachkommen sich richtig auszubreiten. Das heißt, sie zogen durch das Land und fielen in alle Siedlungen und Dörfer ein, die sie fanden. Die Menschen dort haben sich ihnen entweder freiwillig unterworfen, oder wurden unter harten Strafen "zwangseingegliedert", teilweise auch einfach gleich umgebracht.
Meine Eltern haben sich ihrem Willen gebeugt, wohl auch mir zuliebe, und sind ihrem Lager beigetreten. Letztendlich sind wir zwar nicht ermordet worden, aber trotzdem auseinander gerissen.
Sie haben mich von meinen Eltern getrennt, und in eine ihrer speziellen Kliniken gebracht. Dort wird ein jedes Kind des Lagers erzogen und beobachtet.
Meine Eltern durften mich nur noch an speziell ausgewählten Tagen besuchen, damit meine Bindung zu meinen Erziehern letztendlich enger wurde, als die zu meiner eigenen Familie.
Schon ab da wurde nur an eine Sache gedacht: Der Kampf.
Der Kampf gegen euer Dorf hier, um den sich alles im Lager dreht.
Falls wir später kämpfen müssten, sollten wir keine geliebte Familie haben, um die wir Angst hätten, die uns gar zu dummen Entscheidungen verleiten würde.
Nein. Das Lager zählt. Das, und nicht mehr. Das Lager und allem voran dessen Anführer, der Innere Kreis.
Die Zeit in der Klinik war für mich mit einem Alter von sieben Jahren zu Ende, als meine Erzieher entschieden haben, dass ich nun bereit sei für die Gruppeneinteilung.
Die Nachkommen sind zwar sehr fokussiert und verblendet, aber nicht dumm. Sie wollen aus jedem den größtmöglichen Vorteil für sich ziehen.
Somit findet nach ausreichender Erkenntnisgewinnung in einer Klinik, in der man grundlegende Erziehung und Lehre in verschiedensten Aufgabengebieten erhält und immer wieder einigen Tests unterzogen wird, die speziellere Ausbildung statt.
Das ist dann auch der Zeitpunkt, ab dem der Kontakt zu den Eltern endgültig untersagt wird. Ich erinnere mich so gut wie gar nicht mehr an sie.
Die größte Gruppe, der auch ich zugeteilt wurde, ist die der Kämpfer. Weiterhin gibt es die Versorger, die Bauer, die Erzieher und die Ausbilder. Ab der Einteilung erhält man hauptsächlich die Ausbildung in dem jeweiligen Bereich, sie ist so gut wie ausschließlich auf die Hauptaufgabe dessen fokussiert.
Die Grundlagen aller anderen lernte man schon vorher, in der Klinik.
Meiner Kämpferklasse wurde somit die Aufgabe zuteil, mich zu einem Schlächter zu formen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da zuging. Sind die Kliniken für viele an einigen Tagen schon eine Tortur, so reichen sie doch bei weitem nicht an den Drill der Spezialgruppen, besonders dem der Kämpfer, heran.
Und du weißt, wozu das alles dient?"
Seine rhetorische Frage spuckt er beinahe aus und verbittert fährt er fort, ehe Jenny zu Wort kommen kann.
Er beginnt, sich immer mehr in Rage zu reden.
"Dazu, dieses mini Dorf hier zu vernichten.
Ich habe von dem ganzen Vorgehen mehr durch Zufall erfahren, habe einen älteren Soldaten davon sprechen hören.
Wobei, sprechen...
Flüstern, munkeln, trifft es eher.
Dann, wenn man glaubt, dass es keinem von oben auffällt.
Klar, auch vorher hatte ich über manches schon meine eigenen Gedanken, aber die harte, detaillierte Wahrheit toppte alles.
Ich habe mich abgelenkt, danach.
Die Arbeit war das einzige, was ich hatte, in das ich mich flüchten und in dem ich mich vor der Wahrheit verstecken konnte.
Über wenige Jahre hinweg habe ich mich derart hochgearbeitet, dass ich es geschafft habe, in den Inneren Kreis aufgenommen zu werden.
Damals erzählten sie mir von meiner wahren Herkunft. Wer unter den Anführern ist, weiß Bescheid.
Sie machten sich auf einen Ausbruch der Wut gefasst, eine natürliche Reaktion darauf, doch er blieb aus.
Diesen Ausbruch hatte ich schon Jahre vorher...
Als ich genau dasselbe zum ersten Mal gehört habe.
Sie nannten mich tapfer, stark, ihrer würdig und ab diesem Zeitpunkt begann wieder die Wut in mir zu brodeln."
Seine Stimme klingt bereits rau, merkt er.
Verständlich.
Rick kann sich gar nicht erinnern, je so viel gesprochen zu haben, außer bei seiner Bekanntgabe. Ihn wundert es, dass sie überhaupt so lange durchhält.
"Und vor drei Jahren bin ich dann wieder aus dem Inneren Kreis geflogen. Oder geschmissen worden, das trifft es eher. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, untätig zu sein und den Lügen und dem Schweigen der Anführer zu folgen.
Ich bin frühs aufgewacht - und es ging einfach nicht mehr. Das war der Tag, an dem ich die Wahrheit erzählt habe.
Jedem, der es hören wollte, jedem, der gerade da war, mitten auf dem Marktplatz, lautstark.
Wie die Anführer schon mit den Säuglingen verfahren. Was mit den anderen Dörfern passiert. Und noch so viel anderes.
Alles, was ich wusste.
Einigen war das natürlich bekannt, und Bruchstücke davon wusste wohl jeder, trotzdem fanden die Anführer das natürlich ganz und gar nicht gut.
Deshalb haben sie mich nach der Entfernung aus dem Inneren Kreis weggeschickt. Auf die Suche nach nach diesem Dorf hier."
Erschöpft bricht Rick ab.
Ihm wird klar, wie erbärmlich sich das alles anhört. Die Dunkelheit der Zelle legt sich wie ein Schatten über seine Gedanken und er starrt betrübt auf den kalten Betonboden. Doch Jennys leise Stimme durchbricht seine Überlegungen. "Und dann?"
"Ich bin durch die Ödnis geirrt. Jahrelang, seit meinem Rauswurf eben. Die ganze Zeit war ich auf mich alleine gestellt, und auf die Gaben der Natur angewiesen. Ich hatte niemanden."
Es fühlt sich an, als würde sich etwas tief in seiner Brust lockern. Rick merkt, wie gut es ihm tut, sich das endlich einmal von der Seele zu reden.
"Vor ein paar Tagen habe ich euer Dorf dann gefunden. Endlich.
Aber anstatt mich sofort wieder auf den Rückweg zu machen, hat mich irgendetwas in mir drinnen dazu gebracht, zu bleiben. Ich blieb versteckt in den Büschen und habe überlegt, ob ich zurückgehen und den Anführern von meiner Entdeckung berichten soll.
Als erster.
Als jemand, den man dafür bewundern könnte, nach jahrzehntelangem Suchen als erster auf das Dorf gestoßen zu sein.
Trotz, dass ich mit den Machenschaften der Anführer so meine Probleme habe, sind sie doch diejenigen, bei denen ich mein ganzes Leben verbracht habe.
Ich hatte niemanden sonst.
Aber ich bin geblieben, vorerst, wusste nicht, was ich wollte. Also wartete ich erst einmal ab. Und dann, vielleicht ein, zwei Tage später, kamen plötzlich vier andere Männer aus dem Lage-"
"Vier Männer? Du meinst, drei?", unterbricht ihn Jennys Stimme, in die sich jedoch schon ein Hauch böser Vorahnung eingeschlichen hat, den Rick ihr leider bestätigen muss.
"Nein. Vier. Drei davon wurden von euren Wachen festgenommen. Aber einer machte sich sofort wieder auf, um den Nachkommen alles zu berichten, und war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg.
Ich hatte es geschafft, mich vor euren Soldaten zu verstecken, und hatte mich auch zuvor den Männern nicht gezeigt.
Danach habe ich wieder überlegt, was ich tun soll. Diesmal mit einer neuen Option: Euch zu warnen. Vor dem Mann, der die Nachkommen zu euch führen wird.
Aber ich hätte auch noch selbst zu den Nachkommen eilen können, vielleicht hätte ich es noch als Erster, vor dem anderen Mann, zu ihnen geschafft."
Rick holt noch einmal tief Luft und räuspert sich, um seine überanstrengten Stimmbänder auch noch den Rest seines Monologes überstehen zu lassen.
"Am Ende habe ich den Entschluss getroffen, euch zu warnen, und ihn heute Mittag in die Tat umgesetzt.
Ich wurde schon am Tor von den Wachen aufgehalten und gefangen genommen, habe sie aber dazu bringen können, mich zu eurem Richter zu bringen. Er hat mich angehört und ich hoffe nur, dass er mir glaubt und ihr dadurch noch etwas Vorbereitungszeit bekommt.
Nach der Anhörung hat er mich jedenfalls hierher bringen und einsperren lassen."
Um einiges entspannter lehnt sich Rick zurück, an die Zellenwand. Erschöpfung beginnt sich in ihm breit zu machen, aber auch ein warmes Gefühl der Befriedigung. Endlich ist er das alles los.
Endlich jemanden zum Reden. Wenn sie dazu bereit ist.
Also wagt er es erneut, Jenny die Frage von vorhin zu stellen.
Vielleicht schenkt sie ihm ja jetzt ein gewisses Maß an Glauben und Vertrauen.
"Und warum bist du hier?"
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