▫️Punkte▫️
Als dann der Abend näher rückt, habe ich beinahe 250 Seiten gelesen. Ein wenig erstaunt lege ich mein Buch beiseite - ich hätte gar nicht gedacht, dass es so fesselnd ist.
Ich springe die Treppe nach unten, um mir mein Abendessen zu richten.
Diesmal sind Dad, Lucy und Mom nicht in der Küche oder im Wohnzimmer vorzufinden, weswegen ich meinen Plan von heute früh in die Tat umsetzten kann. Zwar esse ich eine Dose Ravioli anstatt Müsli, aber diesmal kann ich mich wenigstens vor einen angeschalteten Fernseher setzen.
Ich zappe mich durch die Programme und finde einen Kanal, bei dem gerade eine Folge von "Harry Potter" ausgestrahlt wird. Der Film ist zwar schon zur Hälfte vorbei, aber ich beschließe trotzdem, ihn mir anzusehen, auch wenn ich diesen Teil schon einmal geschaut habe.
Zum Einen, weil ich nichts besseres auf anderen Kanälen gefunden habe, außer irgendwelchen Dokumentationen über Nashörner oder Verkaufskanäle, die die neusten Zahn- und Klobürsten anbieten. Zum Anderen, weil ich die Hälfte von der Handlung des Films ohnehin schon wieder vergessen habe.
Während dem Film frage ich mich, ob Harry Potter, Ron Weasley, Hermine Granger oder Albus Dumbledore mich wohl Dank ihrer Zauberkraft hätten sehen können... und mich, noch besser, auch für alle anderen wieder sichtbar machen könnten.
Aber leider ist das alles ja nur erfunden.
Ich seufze leise, und meine Gedanken schweifen mal wieder zu Ariu ab. Diesmal dazu, dass er keine Fernseher kennt.
Nach "Harry Potter" kommen die Nachrichten und ich bemerke beiläufig, dass das ein komischer Kanal ist, denn die Nachrichten kommen um 18.25 Uhr.
"Argh! 18.25 Uhr!"
Nur noch fünf Minuten, bis ich zurück nach Kay in irgendeine Straße springe!
Ich springe wie von der Tarantel gestochen auf und renne in mein Zimmer, wobei ich die Treppenstufen fast hochgefallen wäre.
Gleich darauf haste ich wieder nach unten, um den Fernseher auszuschalten - und verschwinde, als ich gerade erst ein Viertel der Treppe oben bin.
~ 🗝️ ~
"Aaah!"
Ich rudere ziellos mit den Armen in der Luft herum. Als ich schon befürchte, dass mir gleich die Ehre zuteil wird, die Pflastersteine Kays von Nahem zu betrachten, packen mich zwei starke Arme und halten mich fest.
Ohne hochzusehen weiß ich, wer mich da festhält. Mir steigt der bekannte Duft in die Nase, und außerdem spüre ich schon wieder so ein aufgeregtes Ziehen in meinem Bauch.
"Hab dich", sagt er und ich höre schon an seiner Stimme, dass er grinst.
"Äh.... Hi!", erwidere ich wenig intelligent.
Ich höre Ariu leise lachen und während mir ein Schauer über den Rücken läuft, merke ich, dass er mich immer noch festhält. Ich hingegen weiß nicht, wohin mit meinen Armen.
Unbeholfen baumeln sie links und rechts an meiner Seite und ich komme mir vor wie der letzte Idiot.
Nach einigen weiteren Sekunden lässt Ariu mich schließlich doch los. Einerseits bin ich echt froh darüber, da ich mir nun nicht mehr den Kopf über meine Arme zu zerbrechen brauche, andererseits habe ich die "Umarmung" genossen.
Du weißt echt auch nicht, was du willst, ärgere ich mich über mich selbst.
Ich vertreibe die Gedanken mit einem gekonnten "Husch, husch!" als Erwiderung und wende mich grinsend an Ariu.
"Damit hab ich jetzt nicht gerechnet, dass du hier auf mich wartest! Ich dachte schon, ich muss mich heute zu dir durchfragen. Wie lange wartest du schon?"
Erst jetzt drehe ich meinen Kopf und halte Ausschau nach Leuten, die meine plötzliche Ankunft in Kay eventuell beobachtet haben könnten. Doch die Straßen, die mein Blick erfasst, sind zu meiner Erleichterung wie leer gefegt.
"Natürlich. Ich weiß doch, dass du dich hier in Kay noch nicht besonders gut auskennst. Ich bin erst seit circa fünf Minuten hier, wusste ja, wann du kommst, und - Applaus, Applaus - die Uhr ist hier bei uns auch schon erfunden!"
Ich grinse über Arius Humor und freue mich, als er mir zuzwinkert.
"Komm, beeilen wir uns, sonst kommen wir zu spät zu unserem Verhör."
Auf dem Weg zum Rathaus fällt mir ein, dass ich mein Handy schon wieder Zuhause liegen gelassen habe, und ich verspreche Ariu, es morgen mitzubringen - oder zumindest zu versuchen, daran zu denken.
Das Rathaus sticht mir, schon Gassen bevor wir es erreicht haben, ins Auge, da es weit über die anderen Gebäude hinausragt. Im Laufschritt erreichen wir die Eingangstür und treten ein.
Unsere Schritte hallen an den Wänden wider, an denen höchstens ein paar Urkunden und Wegbeschreibungen aufgehängt sind. Ansonsten sind sie kahl.
Ariu und ich folgen einem Wegweiser in den zweiten Stock, wir laufen die Treppen nach oben. Schließlich stehen wir vor einer Holztür an, auf der "RICHTER" geschrieben steht. Ich persönlich finde, dass das ein bisschen wenig einfallsreich ist, aber gut, es ist ja nicht meine Zimmertür.
Auf unser Anklopfen hin vernehmen wir ein gedämpftes "Herein!" und Ariu öffnet leise die Tür.
Das Zimmer ist eher klein, rechts hängt eine Pinnwand an der allerlei Zettel angeheftet sind neben einer Hand voll Familienfotos. Außerdem befindet sich noch ein Schreibtisch aus massivem Holz im Raum, an dem insgesamt drei Stühle stehen. Auf einem davon, einer Art Bürosessel, sitzt der Richter und schenkt uns ein leichtes Lächeln, ehe er sich wieder den Papieren vor ihm zuwendet.
Auf dem Schreibtisch liegen haufenweise Blätter auf kleinen und großen Stapeln. Als ich kurz auf eines der Blätter schiele, erkenne ich, dass es sich wohl um irgendeine Verurteilung vor mehreren Jahren handelt, bei der er als Richter anwesend war.
Selbst einen Laptop oder einen Computer scheint es hier in Veron noch nicht zu geben. Ich staune darüber, wie der Richter sich bei so viel Zettelkram noch zurechtfindet.
Endlich legt der Richter das Blatt, dass er gerade studiert hat, beiseite und begrüßt uns richtig.
Dann bedeutet er uns, auf den zwei Stühlen, neben dem Schreibtisch und gegenüber von ihm, Platz zu nehmen.
Im Sitzen kann ich kaum noch den Kopf des Richters zwischen den ganzen Papierstapeln ausmachen.
Um mir eine bessere Sicht zu verschaffen, rutsche ich auf meinem Stuhl herum, bis mir Ariu schließlich ein Kissen reicht, auf dem ich wenigstens etwas größer bin.
Leise flüstere ich ihm ein "Danke" zu.
"Also", beginnt der Richter, und ich widme ihm meine Aufmerksamkeit.
"Ihr habt euren Auftrag, den ihr von mir erteilt bekommen habt, ausgeführt.
Ihr seid zurückgekommen, obwohl viele Bewohner von Kay das nicht für möglich gehalten haben - wegen der Tatsache, dass vor Jahren schon mal Leute von uns auf die Suche nach dem Lager der Nachkommen geschickt wurden und nicht wieder nach Hause gekommen sind.
Ihr habt sogar noch jemanden mitgebracht. Lukka, der Sohn von Bent und Charly und damit einer von uns. Ich bin froh darüber, ihn nun hier in Kay zu haben.
Aber ihr habt auch einen großen Fehler gemacht. Drei Männer der Nachkommen der Wissenschaftler sind euch bis hierher nach Kay gefolgt, was ihnen anscheinend anhand der Spuren, die ihr hinterlassen habt, gelungen ist."
Ruhig fährt er fort, während ich mir zunehmend wie ein Lamm auf der Schlachtbank vorkomme.
"Die Männer hätten die Anführer oder Mitglieder der Nachkommen über die Lage von Kay informiert, wenn unsere geistesgegenwärtigen Soldaten und Wachposten sie nicht festgenommen hätten. Kay wäre wahrscheinlich innerhalb weniger Tage zerstört worden."
Ariu und ich schauen betreten zu Boden. So etwas ähnliches hatte der Richter gestern Abend schon gesagt, als er uns mitteilte, dass er uns heute bei sich im Rathaus erwarten würde.
Jetzt atmet er tief durch, dann überlässt er uns das Wort.
"Nun gut. Dann berichtet mal. Was habt ihr erlebt, nachdem ihr Kay verlassen habt?"
Ich schiebe eine Hand in meine Hosentasche, ziehe den Zettel mit den Notizen hervor und reiche ihn dem Richter, der ihn sich durchliest.
Er murmelt leise vor sich hin und runzelt die Stirn. "Woher wisst ihr die Sache mit dem Gefängnis?"
"Ähm..." Ich tausche einen Blick mit Ariu.
"Ich dachte, das wüssten Sie schon... Naja, um ehrlich zu sein, wir wurden von den Nachkommen entdeckt, gefangen genommen und eingesperrt."
Der Richter starrt erst Ariu, dann mich an, alle beide versuchen wir, seinem Blick auszuweichen.
"Und wie habt ihr es bitte geschafft, euch zu befreien?"
"Ähm, also, Jenny hat ein Br..."
"Ich hatte ein Stück Holz einstecken", beeile ich mich, Ariu zu unterbrechen.
Wie sollen wir denn dem Richter erklären, dass ich ein Brecheisen dabei hatte und dass das den Nachkommen der Wissenschaftler nicht aufgefallen war, als sie uns durchsucht hatten?
Ganz so blöd sind die nun auch wieder nicht.
Der Richter zieht eine Augenbraue nach oben. "Ein Stück Holz... Aha."
Ich höre sofort aus seiner Stimme heraus, dass es ihm schwer fällt, das zu glauben. Aber mangels Alternativen belässt er es wohl dabei.
"Und mit diesem Stück Holz habt ihr anschließend auch Lukka aus seiner Zelle befreit?", hakt der Richter nach und wir bejahen.
"Aha." Er senkt seinen Blick wieder auf das Blatt Papier und liest weiter.
Als er fertig ist, legt er den Zettel auf einen seiner Papierstapel.
Ich bin froh, daran gedacht zu haben, ihn Zuhause einmal zu kopieren.
Man weiß ja nie.
"Gibt es sonst noch etwas, über das ihr mich privat informieren wollt?", wendet er sich danach wieder an uns.
Ich möchte gerade erwidern, dass das eigentlich alles gewesen ist, da meldet sich Ariu noch einmal zu Wort.
"Naja... Eins vielleicht noch.
Mir ist aufgefallen, dass die meisten Leute eher einfache Kleidung tragen, also haben die Nachkommen wahrscheinlich nicht so viel Geld und Versorgungsmittel.
Aber was mich am meisten überrascht hat, war, dass ich im Lager zum ersten Mal in meinem Leben schwarze Punkte gesehen habe."
Ich versuche, zu kapieren, worauf Ariu hinauswill, aber ich verstehe nur Bahnhof.
Als er sich dann mit einem "Ging dir das auch so, Jenny?" an mich wendet, zucke ich nur hilflos die Schultern und warte auf nähere Ausführungen seinerseits.
"Nun ja... Bisher habe ich noch nie einen schwarzen Punkt bei jemandem gesehen. Auch im Lager hatten die Menschen überwiegend einen weißen Punkt bei sich, aber zum Beispiel einige von den Anführern hatten einen schwarzen. Die mit dem weißen Punkt sahen auch irgendwie mitgenommener aus als manche von denen, die einen schwarzen Punkt hatten."
Leider habe ich immer noch kein Wort von dem verstanden, was Ariu da von sich gibt. Ein vorsichtiger Blick zum Richter hinüber zeigt mir, dass es ihm wohl genauso zu gehen scheint.
Langsam sehe ich wieder zurück zu Ariu.
"Von was redest du da? Was für Punkte? Ich hab da keine Punkte gesehen!"
Er kneift die Augen zusammen, langsam dann doch etwas verunsichert.
"Doch, natürlich! Jeder hat so einen Punkt... Die Leute in Kay haben alle einen weißen Punkt. Und ihr auch!"
Der Richter und ich glotzen ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
"Ach ja? Und wo soll unser Punkt bitteschön sein?" Der Richter blickt Ariu zweifelnd an.
"Äh, sehen Sie denn nicht, dass alle einen Punkt über sich schweben haben? Er ist ungefähr so groß." Ariu deutet mit der Hand einen Kreis von circa zehn Zentimetern Durchmesser an.
"Direkt über euren Köpfen."
Der verwirrte Richter wendet sich mir zu, aber ich sehe ebenso wenig einen Punkt über seinem Kopf, wie er einen über meinem. Und wenn dieser wirklich einen Durchmesser von zehn Zentimetern haben sollte, dürfte er ja kaum zu übersehen sein.
"Sorry Ariu, aber ich sehe da keinen Punkt!"
Arius Verwirrung scheint echt zu sein. Ich bezweifle, dass er uns einfach nur auf den Arm nehmen will.
"Aber ich kann da ganz klar Punkte erkennen! Ich..."
Der Richter unterbricht ihn. "Schon gut. Sag mal, ist der Punkt jetzt weg?"
Er fuchtelt mich den Armen in der Luft herum und versucht etwas zu fangen, was er gar nicht wahrnimmt. Das sieht ziemlich komisch aus und ich schaffe es nicht, mir ein Lachen zu verkneifen.
Auch Ariu grinst schief. "Nein, Sir."
"Und jetzt?"
Der Richter nimmt ein Blatt Papier von seinem überfüllten Schreibtisch und hält es sich über den Kopf.
"Nein, ich sehe diese Punkte auch durch Sachen hindurch - es sei denn durch Mauern oder dickere Materialien."
Der Richter zieht beide Augenbrauen nach oben. Das Blatt Papier wandert sorgfältig wieder zurück in das Durcheinander.
"Ooooookay. Wie lange siehst du diese Punkte schon?"
"Seit meiner Geburt, vermute ich. Also, seit ich mich entsinnen kann, habe ich schon immer Punkte über den Köpfen anderer Leute bemerkt. Nur eigentlich habe ich nie mit jemandem darüber gesprochen. Für mich war das ganz normal.
Ich fand es nur ein wenig seltsam, dass die anderen Leute eigentlich nie über den Kopf ihres Gesprächspartners geschaut haben, wenn sie sich unterhielten. Deshalb hab ich es gegenüber von meinem Vater einmal erwähnt."
Als er "Vater" sagt, schluckt er und schaut zu Boden.
"Er hat irgendetwas gemurmelt von wegen "Oh mein Gott! Er sieht sie auch!" und mir dann befohlen, nie wieder jemandem davon zu erzählen. Was ich auch nicht habe. Bis jetzt. Mir schien es angebracht, es zu erwähnen, und, wenn ich ehrlich sein soll, ich hatte die Warnung meines Vaters nach all der Zeit schon fast vergessen."
Ariu schweigt kurz, dann fügt er hinzu: "Es gibt ... gab also noch jemanden, der diese Punkte sieht ... sah. Ihr könnt mich nicht für verrückt halten. Ich sage die Wahrheit!"
Der Richter blickt ihn ein wenig seltsam an "Wir halten dich nicht für verrückt", sagt er, entgegen dem Ausdruck in seinem Blick. Irgendwie bezweifle ich, dass er das ernst meint.
Er sieht ihn an, als wären ihm gerade Hörner gewachsen.
Ich finde das Ganze zwar auch sehr seltsam - aber aus irgendeinem Grund glaube ich Ariu.
Vielleicht wundert mich nach meiner Erfahrung mit einer Parallelwelt, meiner Unsichtbarkeit auf der Erde und der kürzlichen Gefangenschaft aber auch schlicht und einfach gar nichts mehr.
"Belassen wir es vorerst einfach dabei.", holt mich der Richter wieder aus meinen Gedanken zurück.
"Kommt jetzt bitte mit in den Gerichtssaal. Die drei Spione sollten, wenn die Soldaten ihre Arbeit erledigt und sie abgeholt haben, dort sein."
Mein Blick schießt zu Ariu und ich versuche, ihn ohne Worte zu fragen, ob das auch vorgesehen war, also, ob er schon wusste, dass wir zusammen mit den drei Männern befragt werden.
Er zuckt erst mit den Schultern und schüttelt dann den Kopf.
Na toll.
Wir laufen zu dritt durch mehrere Gänge und ich versuche gar nicht erst, mir zu merken, wo wir uns genau befinden. Schließlich machen wir vor einer Tür halt, die genauso aussieht wie die, die in das Büro des Richters führt, nur, dass an der Tür kein Schild mit der Aufschrift "RICHTER" hängt, sondern eines, auf dem "GERICHTSSAAL" steht.
Zwei Soldaten, die vor der Tür stehen, lassen uns kommentarlos passieren.
Als wir durch den Türrahmen treten, finde ich mich dort wieder, wo ich den Richter zum ersten Mal getroffen habe. Damals, als ich mit Ariu ausgeschickt worden bin, um das Lager der Nachkommen zu suchen.
Mir stechen die drei Männer sofort ins Auge. Sie sind durchschnittlich groß, soweit ich das beurteilen kann, da sie auf Stühlen sitzen, haben ziemlich struppiges, halblanges und mehr oder weniger verfilztes Haar und tragen zerrissene und schmutzige Kleider.
Das müssen die drei Nachkommen sein.
Hinter ihnen stehen ebenfalls Wachmänner, vier an der Zahl.
Die ganzen Stühle, die bei meinem letzten "Besuch" hier gestanden haben, sind verschwunden.
Ich bemerke nur noch drei leere Stühle im Raum. Einer davon ist der Stuhl, auf dem der Richter bei meiner Befragung auch schon gesessen hat.
Auch jetzt nimmt er dort Platz und ergreift das Wort, das sich diesmal an die drei Männer und nicht an Ariu und mich richtet.
"Ihr seid schon einzeln befragt worden. Trotzdem würde ich gerne nochmal zusammen mit diesen zweien hier mit euch sprechen. Das sind die beiden, denen ihr bis in unser Dorf gefolgt seid."
Der eine Mann hebt eine Augenbraue. "Das waren nur die beiden da?"
"Sie und noch ein weiterer Mann, der jedoch auf dem Weg hierher angeschossen wurde."
Insgeheim bin ich froh, dass der Richter nicht erwähnt, dass Lukka zuvor bei den Nachkommen in Gefangenschaft war.
"Ihr seid den Wagenspuren bis hierher gefolgt, richtig?"
Der Mann, der zuvor auch schon gesprochen hat, erhebt auch nun wieder die Stimme.
"Ja. Allerdings hat es begonnen zu regnen, als wir ungefähr drei Viertel der Strecke zu eurem Dorf gelaufen waren. Dann mussten wir auf eigene Faust suchen."
Der Richter nickt.
"Gut. Ihr seid also den Reifenspuren bis zu unserem Dorf gefolgt und..."
Ariu beugt sich leicht zu mir herüber und murmelt "Weiß. Alle weiß".
Mir ist klar, dass er die Punkte über den Köpfen der Männer meint, die außer ihm niemand sehen kann.
Okay, mal abgesehen von seinem Vater.
Da ich nicht so recht weiß, was ich darauf erwidern soll, schweige ich lieber und nicke ihm nur zu.
"Könnt ihr mir sagen, was ihr eigentlich genau machen wollt, wenn ihr Kay, also unser Dorf, zerstört habt?", wirft der Richter eine weitere Frage in die Runde.
Die drei Männer sehen sich an.
Schließlich sagt einer, der bisher still gewesen ist: "Wir wissen es nicht."
"Seid ihr sicher?"
Er glaubt ihnen genauso wenig wie ich.
"Ja, Herr."
Der Richter seufzt.
"Okay. Machen wir weiter. Warum seid nur ihr drei ausgeschickt worden? Warum sind dem Wagen nicht mehr von euch gefolgt?"
Diesmal ist es der letzte der drei Männer, der dem Richter antwortet.
"Wir waren schon vorher unterwegs, auf der Suche nach eurem Dorf. Als wir dann den Wagen entdeckt haben, sind wir ohne lange zu zögern hinterher."
Auf einmal nimmt das Gesicht des Mannes einen flehenden Ausdruck an.
"Ich bitte Sie...
Wir und unsere Familien haben früher einmal friedlich in einem Dorf gelebt, bis wir überfallen wurden. Diese haben uns gezwungen, mit ihnen zu ziehen und euer Dorf ausfindig zu machen. Keiner von uns weiß, wieso euer Dorf eigentlich zerstört werden soll.
Außerdem ist uns gesagt worden, dass wir "den Schlüssel, der euch die Augen öffnet" finden sollen. Wir haben allerdings auch hier wieder keine Ahnung, was damit gemeint sein soll."
Irgendwie habe ich langsam Mitleid mit dem Mann. Wenn das, was er sagt, stimmt... Ist er einfach nur ein armes Schwein.
Andererseits könnte es genauso gut sein, dass uns diese Typen einfach nur verunsichern wollen.
Sie klingen insgesamt eher so, als könnten sie unsere Handlungsschritte verstehen und nicht so, als würden sie, wenn man sie frei ließe, sofort zu ihren Anführern eilen und später alle zusammen Kay abfackeln.
Auch Ariu schaut skeptisch.
Kurz darauf erklärt der Richter das Verhör für beendet.
"Ihr seid jetzt entlassen. Geht, wenn ihr wollt", meint er zu Ariu und mir.
Die drei Männer werden wieder von den Soldaten in Empfang genommen und weggeführt.
~ 🗝️ ~
"Boah, nicht schon wieder!" Ariu lässt sich stöhnend ins Sofa zurückfallen, während ich grinsend seinen Spielstein an den Anfang zurückstelle und mit meiner Figur seinen Platz einnehme.
Nachdem wir vom Richter entlassen worden waren, sind Ariu und ich zu ihm nach Hause gegangen.
Dort habe ich auf meinen Notizzettel dazu geschrieben:
Die drei Nachkommen sind ausgeschickt worden, um
- Kay
- 'den Schlüssel, der die Augen öffnen soll'
zu suchen.
Wir haben Manuela und Lyda angetroffen, die sich unterhalten haben. Anscheinend sind die beiden trotz ihres Altersunterschiedes gut befreundet.
Gemeinsam haben wir begonnen, ein Brettspiel zu spielen, dass ähnlich wie "Mensch ärgere dich nicht" funktioniert.
Zumindest kann man auch die Spielfiguren der anderen Mitspieler "schmeißen".
Nach einer Weile musste Lyda dann nach Hause, um für sich und Lukka zu kochen. Er kann wohl morgen Abend schon zu Ariu und Manuela umziehen, dann werde ich wieder bei Lyda wohnen, bei der es um einiges schwieriger zu erklären sein wird, wenn ich den ganzen Tag nicht da bin.
Und noch aus anderen Gründen würde ich viel lieber hier bleiben...
Jetzt spielen Ariu, Manuela und ich dieses Spiel zu dritt und wir amüsieren uns prächtig - zumindest Manuela und ich, weil Ariu dabei ist, haushoch zu verlieren. Ich werde die beiden wieder vermissen, wenn ich auf der Erde in meinem Zimmer bin.
~ 🗝️ ~
"Gute Nacht Jenny, bis morgen Abend", verabschiedet sich Ariu vor der Türe zum Gästezimmer von mir und zieht mich kurz in seine Arme.
"Gute Nacht", hauche ich zurück, ehe ich das Zimmer betrete und mich auf's Bett werfe.
Der Abend war sehr schön.
Er hat mich zwar wieder schmerzhaft an den Familienspieleabend erinnert, der heute eigentlich anstünde, aber gleichzeitig auch wieder davon abgelenkt.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Der Minutenzeiger scheint sich kein Stück zu bewegen.
Bis ich nach Hause springe habe ich noch fast eine Stunde Zeit.
Mit geschlossenen Augen atme ich den Duft der Bettwäsche ein und ziehe mir die Decke bis zur Nase.
Nach einigem Herumwerfen habe ich endlich eine Position gefunden, in der es sich aushalten lässt und bald bin ich eingeschlafen.
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