▫️Pläne▫️
Mein Abend in Veron vergeht wie im Flug.
Aus Rick sprudelt nur Sekunden nach meiner Ankunft alles heraus, was er heute erlebt hat.
Während seinen Erzählungen bin ich angespannt wie ein Flitzebogen.
Rick versteht es wirklich, einen so richtig auf die Folter zu spannen - er erzählt alles der Reihe nach, ohne mir zwischendurch auch nur einen klitzekleinen Hinweis darauf zu geben, ob seine Mission nun geglückt ist oder nicht. Sprich, ob Ariu meine Nachricht erhalten hat.
Als er dann schlussendlich an der entscheidenden Stelle angelangt ist und mit seinem Bärenbrummen herausrückt, kann ich einfach nicht an mir halten und pruste los, und Rick fällt sofort in mein Lachen mit ein.
Das ist das erste Mal, dass ich ein solches Anzeichen der Freude, des Loslassens von ihm höre.
Es klingt rau und ein wenig eingerostet, als würde er es nicht oft benutzen - zumindest in letzter Zeit nicht. Verständlich, für ihn gab es die letzten Jahre wenig zu lachen. Aber ich nehme es als ein ungeheuer schönes Geräusch wahr.
Es tut gut, zwischenzeitlich einfach alles mal etwas lockerer zu sehen, und die Gedanken an den bevorstehenden Kampf beiseitezuschieben, wenn auch nur für kurze Zeit.
Ich bin froh, dass es mir gelingt - und Rick allem Anschein nach auch, zumindest im Moment.
Irgendwie macht die Sache mit dem Bärenlaut Ricks Geschichte über seine Erlebnisse der letzten Stunden noch ein ganzes Stück weit unglaublicher - aber ich bin auch wahnsinnig erleichtert darüber, Rick dieses Detail von Arius Besuch bei mir erzählt zu haben, da er vielleicht genau durch diesen Insider verstanden haben könnte, dass Rick ihm etwas mitteilen wollte.
Dass ich ihn als Sprachrohr, beziehungsweise als Boten verwendet habe.
Aber alles Spekulieren in diese Richtung hilft nichts.
Ich bin eigentlich fest davon überzeugt, dass Ariu klug genug ist, über Ricks Brummen ins Nachdenken zu kommen, und anschließend auch den Zettel zu finden.
Eigentlich... weil es einfach nicht hundertprozentig sicher ist.
Denn genauso gut könnte es sein, dass Ricks Imitation wirklich grottig war, und Ariu sich nur kurz darüber Gedanken gemacht hat, dass dieser Gefangene gerade halb am Krepieren ist.
Rick und ich unterhalten uns anschließend über alles Mögliche - gewissermaßen ist es auch ein Versuch, uns gegenseitig abzulenken.
Von dem Warten darauf, dass Ariu meine Nachricht gelesen hat und zu uns kommt. Dass er uns hier herausholt, irgendwie.
Ich erzähle Rick mehr von meinem früheren Leben auf der Erde, bei Oma und Opa, von meiner Familie. Im Gegenzug informiert er mich über weitere Einzelheiten aus dem Lager der Nachkommen.
Mit der Zeit habe ich das Gefühl, Rick immer besser kennenzulernen.
Sein Leben scheint fast nur aus Einsamkeit und Verbitterung zu bestehen und ich wundere mich darüber, wie er trotz allem immer noch vergleichsweise optimistisch sein kann. Ich an seiner Stelle hätte den Lebensmut sicher schon längst verloren. Aber wahrscheinlich steckt diese Verzweiflung einfach nur tiefer in ihm, hinter dem Optimismus versteckt - oder bewusst vergraben. Ein Mensch, der so viel durchgemacht hat, kann das nicht einfach so locker hinnehmen.
Das glaube ich nicht.
Es beschäftigt mich ziemlich, auch wenn ich versuche, es mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen.
Ich will nicht, dass Rick aufhört zu erzählen.
Er braucht das, und im Grunde genommen höre ich ihm gerne zu, will alles von seiner Geschichte erfahren.
Immer mehr wird mir bewusst, dass Menschen wie Rick wirklich selten sind. Vielleicht gab es sie hier in Veron öfter - bevor ihnen die Invasion der Wissenschaftler passierte.
Bei uns auf der Erde findet man solch eine ehrliche, reine Seele aber meiner Ansicht nach so gut wie gar nicht mehr.
Es mag gewagt sein, so etwas über ihn zu behaupten, kenne ich ihn doch erst seit kurzem.
Aber irgendetwas sagt mir, dass sein Herz so gut ist, wie es selten bei jemandem der Fall ist.
Rick hätte viel mehr verdient als das hier.
Glück. Heimat.
Stattdessen wird er, wohin er auch geht, abgewiesen. Ich hoffe, dass er wenigstens merkt, dass ich ihn mag.
Dass ich ihn willkommen heiße, so wie er ist, und ihn als Freund annehme.
~ 🗝️ ~
Als ich am nächsten Tag um 18:30 Uhr erneut in Veron eintreffe, setzen wir genau da an, wo wir aufgehört haben. Ich lerne Ricks Stärke im Erzählen immer mehr zu schätzen, und lausche seinen Worten gebannt.
Bei mir Zuhause, auf der Erde, hätte er vielleicht das Zeug dazu gehabt, Autor zu werden. Oder zumindest Sprecher von Hörbüchern. Es ist angenehm, seiner Stimme zuzuhören.
Tief in Gedanken versunken, nehme ich die Geräusche erst wahr, als Rick mir zuraunt:
"Da kommt doch jemand!"
Tatsächlich ist ein Pochen zu hören, dass immer lauter wird und schließlich aufhört.
Ich brauche einen Moment, bis ich mich selbst aus dem ruhigen, gebannten, beinahe hypnoseartigen Zustand herausreißen kann. Dann jedoch ist die Anspannung sofort da.
Mein Herzschlag beschleunigt sich.
"Es klingt irgendwie seltsam. So ungleichmäßig."
Rick macht meine Hoffnungen auf Ariu, der gekommen ist, um uns nun endlich hier herauszuholen, wieder zunichte.
Angespannt warten wir in unserer stillen, dunklen Zelle, ob irgendwas passiert.
Es dauert nicht lange, dann kündigen Knarren und Quietschen an, dass die Tür zu unserem Gefängnis geöffnet wird.
Doch anstatt dem Poltern, dass bisher mit dem Aufreißen der Tür einhergegangen ist - als man uns einsperrte und zwischenzeitlich Essen und Trinken brachte - ist diesmal nur ein leises Knarzen zu hören. Dann knallt es, die Zellentür ist wieder ins Schloss gefallen.
Ich wage es nicht, nach Rick zu rufen.
Ist nun jemand zu uns hereingekommen oder nicht? Was... Wer war das?
Mein Atem geht flach und ich versuche, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen.
Nach einigen Sekunden Schweigen, es fühlt sich an, als würden Stunden vergehen, höre ich eine bekannte Stimme.
"Jenny?"
Mein Herz schlägt einen dreifachen Salto. Das ist eindeutig Ariu.
Aber Rick hatte doch gesagt, dass er nicht die gleichmäßigen Schritte einer Person gehört hat.
Ist noch jemand außer Ariu hier?
Jemand, dem es missfallen würde, wenn ich mich jetzt auf Ariu stürzen würde?
Aus Vorsicht bleibe ich, wo ich bin.
"Ja?"
Diesmal antwortet eine andere Stimme. Ich habe richtig vermutet.
"Sie ist hier", sagt Lukka.
"Ach nee", gibt Rick sarkastisch von sich, und ich kann ein verstohlenes Grinsen nicht unterdrücken.
Abgesehen dieses Kommentars, der ihm wohl einfach herausgerutscht ist, hüllt mein Zellengenosse sich jedoch in Schweigen.
"Jenny? Wo bist du?"
Während Ariu spricht, frage ich mich, warum ich hier noch wie angewurzelt herumstehe, und nicht schon längst auf dem Weg zu seiner Stimme bin.
Dann nehme ich auch einen Umriss wahr, der sich in der Dunkelheit langsam durch den Raum bewegt, und bringe Ariu beinahe zu Fall, als ich auf ihn zu springe.
Letztendlich gelingt es ihm aber, das Gleichgewicht zu halten, und er schließt mich in seine Arme.
Lachend hebe ich meinen Kopf ein bisschen und drehe ihm mein Gesicht zu, woraufhin Ariu mit seinen Lippen suchend über mein Gesicht fährt, bis er meinen Mund gefunden hat.
Die Erinnerung an unseren ersten Kuss wird von diesem hier erneut übertroffen. Es fühlt sich an, als würde mein Herz explodieren und das übrig gebliebene Konfetti wie Pingpongbälle in mir herumspringen.
Ariu zieht mich noch enger an sich und ich beginne, mich in unserem Kuss zu verlieren... Bis wir durch leises Hüsteln und dezentes Räuspern unterbrochen werden.
Rick und Lukka machen sich bemerkbar.
Ehrlich gesagt habe ich die beiden gerade etwas aus meinen Gedanken verdrängt...
Und das hätte gut und gerne auch noch ein paar Sekunden... Minuten... so sein dürfen.
Aber die Realität holt mich wieder ein, mitsamt ihren größeren und kleineren Problemen, und seufzend löse ich mich von Ariu, dessen Grinsen ich deutlich auf meinen Lippen gespürt habe.
Ich warte darauf, dass entweder Ariu oder Lukka uns erklärt, wie genau sie hier hereingekommen sind, und, das wichtigste, Rick und mich ungesehen jetzt mit hinaus befördern möchten. Aber Ariu ergreift vorerst nur meine Hand und ist anscheinend nicht gewillt, sie wieder loszulassen, worauf mein Herz - es scheint doch weiter zu existieren - einen Hüpfer macht.
Dann schaltet sich Rick ein.
"Da ist ja unser Bär", meint er und beginnt leise zu lachen. Diese Sache wird er uns vermutlich noch den Rest unseres Lebens vorhalten. Leider kann ich in der Dunkelheit nur wenig erkennen, ansonsten hätte ich meinem lieben Zellengenossen, der zwischenzeitlich zu meinem Freund geworden ist, ordentlich gegen sein Schienbein getreten.
Ich will mir die Hände vors Gesicht schlagen, um meinen Kopf darin zu vergraben, reiße dabei allerdings auch Arius Hand mit hoch. Ergeben senke ich meine Arme wieder.
Als Lukka anfängt zu sprechen, möchte ich ihm vor Erleichterung ebenfalls in die Arme fallen.
"Hey, Leute... Wiedersehensfreude schön und gut, aber ich hab nicht geholfen, die Schlüssel zu eurem Gefängnis zu klauen, um dann erwischt zu werden und selbst in eine Zelle gesteckt zu werden! Lasst uns machen, dass wir hier rauskommen!"
Seine Stimme klingt drängend, aber auch ein Stück weit amüsiert, und mir wird klar, dass ich auch Arius Cousin vermisst habe.
~ 🗝️ ~
Erst als wir uns ein gutes Stück weit entfernt von unserem Gefängnis befinden, wagen wir es, uns eine Verschnaufpause zu gönnen und uns gegenseitig über den Stand der Dinge zu informieren.
Wir haben in einer verlassenen Gasse halt gemacht, die wenigen Häuser, die hier nicht halb am Verfallen sind, passen sich ebenfalls bereits dem Dunkel der Nacht an - in keinem der Fenster brennt noch Licht.
Ich schenke der Umgebung nur einen kurzen Blick und mir kommt in den Sinn, dass ich in diesem Teil von Veron noch nicht gewesen bin. Er wirkt schon innerhalb der wenigen Sekunden, die wir hier stehen, eigentümlich trostlos auf mich.
Dann wende ich mich meinen Begleitern zu und kann im Schein des Mondes über uns auch endlich Rick einer genaueren Musterung unterziehen.
Er ist ein großgewachsener Mann, mit schlanker, aber dennoch kräftiger Statur. Im Allgemeinen recht unscheinbar, aber als er sich mir zuwendet und mich angrinst, scheint er ein inneres Strahlen zu verbreiten.
In ihm ist all das zu erkennen, was Rick in seinem Leben schon ertragen und auf sich nehmen musste, und genau aus diesem Grund scheint seine Ausstrahlung noch echter, noch reiner und beeindruckender zu wirken.
Er konnte sie sich trotz seiner Geschichte in seinem Innersten bewahren, und scheint in Momenten wie diesem, als er mich nach Tagen der gemeinsamen Gefangenschaft und des miteinander Vertrautwerdens ebenfalls erstmals richtig zu Gesicht bekommt, das Bedürfnis haben, sein Strahlen auch wieder nach außen zu tragen.
Ariu unterbricht meine Überlegungen, indem er meine Hand loslässt und mir stattdessen den Arm um die Taille legt. Fast automatisch wende ich mich von Rick ab, und dem Jungen neben mir zu, der mich mit leicht gerunzelter Stirn ansieht.
Er sieht ein wenig sauer aus... Eifersüchtig?
Ricks Frage lässt mich diese Gefühlsregung von Ariu jedoch mit einem Schlag wieder vergessen.
"Bevor wir uns gegenseitig mehr erzählen... Ariu, du siehst bei mir doch mit Sicherheit auch einen Punkt, oder? Welche Farbe hat er?"
Ich zucke leicht zusammen, und im Moment könnten weder Ariu, noch Lukka die Angst verstehen, die mit einem Mal zu mir überschwappt.
Wenn die Antwort "weiß" lautet, ist alles gut. Wir können uns in unserer Theorie wahrscheinlich sogar noch mehr bestätigt sehen - weil Rick einfach einer der Guten ist.
Sein muss.
Sagt Ariu jedoch "schwarz"...
Dann wäre es mir lieber, Rick und ich lägen mit unseren Überlegungen völlig daneben.
Auch wenn ich das für immer unwahrscheinlicher halte, je länger ich nun Zeit hatte, sie erneut zu durchdenken.
Ich vertraue Rick mittlerweile einfach.
Es kommt mir irrsinnig vor, dass er...
Rick versucht sich an einem beruhigenden Lächeln, das von Ariu erneut mit einem Stirnrunzeln bedacht wird, zusammen mit einem verwirrten Blick.
"Weiß... Warum?"
Mir entfährt ein erleichtertes Aufatmen, und Ricks Lächeln erweitert sich zu einem Strahlen.
Dann legt er Ariu und Lukka unsere Theorie dar.
In meiner Nachricht, die ich Rick mitgegeben habe, habe ich nur das Nötigste erwähnt.
Dass ich, gemeinsam mit Rick ("dem neusten Gefangenen"), dem ich mein Vertrauen schenke, wahrscheinlich die Lösung unserer Überlegungen um den Schlüssel gefunden habe.
Dass Ariu sich irgendetwas einfallen lassen soll, uns hier herauszuholen.
Und danach...
"... sollten wir versuchen, möglichst viele andere von unserer Theorie zu überzeugen. Sprich, Lukka, Manuela, Lyda. Lukka hast du gleich zu unserer Rettung mitgebracht",
ich wende mich an Ariu,
"perfekt. Die anderen beiden erschienen mir dann zusätzlich am naheliegensten. Sie haben mich bereits persönlich kennenlernen können, und du hast einen engen Draht zu ihnen. Wenn wir es nicht hinbekommen, Lyda und Manuela zu überzeugen, dann würden wir es bei anderen Dorfbewohnern erst Recht nicht schaffen."
Ich sehe fragend, nach Bestätigung suchend, in die Runde, und die drei Jungs nicken wie Wackeldackel.
"Für den nächsten Schritt meines Planes wäre es auf jeden Fall super, wenn wir dann zumindest zu sechst wären. Beziehungsweise ihr zu fünft, weil ich wahrscheinlich nicht dabei sein werde."
Während ich die letzten Worte sage, überprüfe ich nebenbei die aktuelle Uhrzeit.
22.55 Uhr. Wie erwartet gar nicht mal mehr so viel Zeit.
"Ich bin jetzt noch etwas mehr als eine halbe Stunde lang hier. Wahrscheinlich ist es am sinnvollsten, wenn ihr direkt im Anschluss zu Manuela und Lyda geht. Wir müssen besonders die anschließende... "Überzeugung" des Richters schnell über die Bühne bringen, bevor unser Verschwinden aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit dringt.
Er muss das irgendwie vertuschen.
Danach kommt der Rest."
Wieder kollektives Nicken, und ich fühle mich irgendwie echt gut.
Ich wusste gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin, solche Reden zu schwingen und Befehle... oder zumindest so was ähnliches zu erteilen.
"Super. Das war jetzt, denke ich, das Wichtigste."
So schön es auch war, mal Ansagen zu machen, so erleichtert bin ich doch auch, das Ruder wieder aus der Hand zu geben.
Das Ganze fühlt sich einfach so bedeutend an...
Die kleinste Unachtsamkeit könnte Kays Ende bedeuten.
Ariu und Lukka berichten nun, wie sie den Zettel gefunden, die gestrige Nacht ihrerseits Pläne geschmiedet, und es letztendlich geschafft haben, uns aus unserer Zelle zu befreien.
Sie haben, während sie die Gefängnisschlüssel im Zimmer des Richters geborgt haben, die Pläne der diensthabenden Soldaten, alias Gefängniswärter, eingesehen.
Alles in allem war es - okay, bei den beiden wundert mich das wirklich nicht - eine relativ spontane Rettungsaktion.
Förderlich für unser unbemerktes Entkommen war mit Sicherheit auch, dass einer der beiden heute Nacht Dienst habenden Wachmänner auch als "Schnarchnasen Schorschi" bekannt ist.
Nach dem Austausch der wichtigen Informationen untereinander geht das Gespräch ins gegenseitige Kennenlernen über. Den jeweils anderen, und vor allem Rick, besser einschätzen zu können.
Ich halte mich etwas außen vor und sehe immer mal wieder verstohlen zu Ariu herüber.
Ich bin froh, wieder bei ihm zu sein, auch wenn wir wohl erst einmal nicht wirklich Zeit für Zweisamkeit haben werden, bis der Kampf gegen die Nachkommen stattgefunden hat.
Und ich bin froh, dass ich wieder hier draußen unter freiem Himmel stehe.
Wieder aus meiner Zelle draußen bin.
Nachdem ich innerhalb weniger Tage gleich zweimal eingesperrt wurde, reicht das - meiner Meinung nach - eigentlich für mein restliches Leben aus.
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