▫️Erkenntnisse▫️
Der Geistesblitz kam mir im Schlaf.
Ich kann mich nicht erinnern, etwas Bestimmtes geträumt zu haben, aber plötzlich haben sich die einzelnen Puzzleteile in meinem Unterbewusstsein zusammengefügt. Die Barriere wurde umgerissen und ich denke, dass ich nun den entscheidenden Punkt herausgefunden habe, um den ich so lange herumgeschifft bin.
Ich bemerke die Unruhe von Rick, dessen Umrisse ich vor mir stehen sehe.
In seiner Stimme habe ich sofort die Mischung aus Sorge und Anspannung vernommen.
Die Zelle ist noch so dunkel wie eh und je, aber ich wünsche mir, ich könnte Rick einmal richtig anschauen. Ich möchte ein richtiges Bild von ihm in meinem Kopf haben. Wenn ich aktuell an ihn denke, schiebt sich ein ziemlich heruntergekommener, junger Mann in meine Gedanken.
Und trotz dass die lange Zeit außerhalb jeglicher Zivilisation bestimmt ihre Spuren an ihm hinterlassen hat, schäme ich mich etwas für meine Vorstellungen.
Er verdient mehr.
Und ich habe ihn wohl, ähnlich wie Lukka, innerhalb kürzester Zeit ins Herz geschlossen. Es ist unerklärlich, aber ich spüre einfach, dass er mein Vertrauen verdient hat.
Um seine Aufregung zu beruhigen, beeile ich mich, ihm meinen Ausruf zu erklären.
"Rick! Ich glaube, ich weiß jetzt, was Ariu so besonders macht!"
Gespannt warte ich seine Antwort ab.
"Was? Im Ernst?"
Ich höre, wie Rick seine beschützende Haltung aufgibt und sich wieder neben mich an die harte Betonwand lehnt. Dann wartet er gespannt, dass ich weiterrede.
"Nachdem wir aus dem Lager der Nachkommen zurückgekehrt waren, wurden wir vom Richter über unsere ... Reise befragt.
Dabei hat Ariu erwähnt, dass er weiße und schwarze Punkte über den Köpfen anderer Leute sieht. Sein Vater, der wohl die gleiche Fähigkeit hatte, wies ihn an, das für sich zu behalten. Mittlerweile ist er gestorben.
Aber dieses „Punkte sehen" – das ist doch eindeutig etwas besonderes."
Meine Worte hängen eine Weile bedeutungsschwer in der Luft, ehe Rick darauf eingeht.
"Ja... Wenn das wirklich stimmt, was er da sagt – ich habe noch von niemandem mit ähnlichen Fähigkeiten gehört. Auch wenn es sehr absurd ist, einzigartig scheint es allemal zu sein."
"Ich vertraue ihm, genauso wie er mir vertraut. Ich glaube nicht, dass er gelogen hat. Aber in puncto Absurdität kann dir wohl niemand widersprechen", erwidere ich nachdenklich.
"Dass er gelogen hat, wollte ich eigentlich auch gar nicht behaupten. Hm.
Ich frage mich nur, wie diese Fähigkeit als "Schlüssel" zu etwas dienen könnte. Hat er im Zusammenhang mit den Punkten noch etwas erwähnt?
Bei welchen Personen er weiße und bei welchen schwarze Punkte sieht oder so? Haben manche Menschen mehrere Punkte?"
So seltsam es sich für ihn auch anhören muss – ich spreche aus Erfahrung, vor wenigen Tagen fiel es mir ebenso schwer wie ihm, diese Fähigkeiten als real anzusehen – Rick gibt sich alle Mühe, trotzdem pragmatisch weiter zu überlegen, wofür ich ihn offen bewundere.
"Warte... Ich glaube er hat gesagt, dass über allen Einwohnern von Kay weiße Punkte schweben...
Jeder hat immer nur einen inne.
Aber dass er im Lager der Nachkommen auch Leute gesehen hat, die schwarze Punkte über ihren Köpfen hatten, hauptsächlich in den Reihen der Anführer. Das war wohl ein ziemlicher Schock für ihn – an die weißen Punkte hatte er sich ja schon seit der Kindheit gewöhnt, aber dass sie auch schwarz sein können, wusste er nicht."
Fieberhaft überlege ich weiter um schließlich das Schweigen nochmal mit einem kurzen „Wofür die Punkte jedoch stehen sollen... das erschließt sich mir nicht." zu unterbrechen.
"Vielleicht", überlegt Rick laut, "hat es ja irgendwie mit der Bedeutung der Farben zu tun...
Weiß ist doch eher eine reine Farbe. Wenn sich früher jemand ergeben hat, wurde die weiße Fahne geschwenkt oder gehisst. Also steht Weiß womöglich für Frieden. Für etwas Gutes.
Schwarz hingegen verbinden die meisten Menschen mit etwas Schlechtem. Von wegen, schwarze Katzen bringen Unglück, schwarze Magie ist die böse Magie.
Wenn man die Sache so betrachtet, würden die weißen Punkte also für etwas Gutes stehen und die schwarzen für etwas Schlechtes. Schwarz-weiß-Denken, quasi.
Klänge logisch, oder?"
Ein neuer Schwall Begeisterung überkommt mich, und ich springe auf, um durch die dunkle Zelle zu tigern.
"Ja total! Aber für was GENAU stehen sie?"
Rick seufzt. "Oh Mann."
Ich nehme das einfach mal als "Keine Ahnung" hin und seufze ebenfalls.
"Wenn nur diese blöden Wissenschaftler von der Erde nicht hier aufgetaucht wären. Dann könnten wir es uns sparen, uns so das Hirn zu zermartern", flucht Rick.
Und auf einmal ist es so, als würde das Geröll der zerstörten Mauer nun endlich komplett von kleinen Bauarbeitern aus meinem Kopf geräumt werden. Ich bleibe abrupt stehen und schließe die Augen, während sich hinter den Lidern Bilder manifestieren.
Endlich habe ich freie Sicht auf die einzelnen Bruchteile des Puzzles in meinem Gehirn, das nun von meinem Unterbewusstsein endlich zum Sitz des Bewusstseins transportiert werden kann.
Doch Rick deutet mein Schweigen falsch.
"Hey, Jenny.... So hab ich das doch gar nicht gemeint. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich dich dann auch nicht kennengelernt hätte, wenn es die Wissenschaftler mit ihren Metallbändern nicht gegeben hätte. Mein Hirn kann dich einfach nicht mit ihnen in Verbindung bringen. Sorry, echt, ich find dich voll in Ordnung..."
"Rick", unterbreche ich seinen fast schon putzigen Redeschwall.
"Das hab ich auch gar nicht gedacht. Nur – als du das mit den Wissenschaftlern gesagt hast, ist mir auf einmal klar geworden, wofür die Punkte stehen. Kennst du dieses Gefühl, wenn du dir einfach SICHER bist, dass etwas stimmt?"
Ich warte seine Antwort nicht ab, sondern rede weiter, hastig, überrumpelt von den Gedanken, die sich mit einem Mal nur so in meinem Kopf überschlagen.
„Wenn ich Recht habe, lagst du vollkommen richtig, als du vermutet hast, dass die weißen Punkte wirklich für gut und die schwarzen für schlecht stehen.
Ich denke, die schwarzen Punkte könnten für die Nachkommen der Wissenschaftler stehen. Also nur für die, die biologisch von ihnen abstammen, nicht die, die sich ihnen angeschlossen haben.
Vielleicht steht das Schwarz dann dafür, dass sie verrückt sind. Dass sie alles tun würden, um Kay zu vernichten, die mit den weißen Punkten sich jedoch eventuell mit – bei manchen mehr, bei manchen weniger – Überredungskunst, davon überzeugen ließen, dass sie Kay nicht zerstören müssen. Dass die Einwohner ihnen doch gar nichts getan haben.
Vielleicht steht weiß für die, die sich, wie du und deine Eltern, den Nachkommen unterworfen haben, um nicht getötet zu werden, die deren Tun aber gar nicht für richtig halten!"
Ich ereifere mich immer weiter, begierig darauf, Rick an den ganzen Gedankensträngen teilhaben zu lassen, die sich wie Achterbahnen ineinander winden.
„Und deswegen könnten sie aus der Sicht eines Bürgers aus Kay, wie Ariu, einen weißen Punkt bekommen, weil sie im Inneren gut sind, weil man sie noch vom Frieden überzeugen kann.
Wohingegen die mit dem schwarzen Punkt durch nichts von ihrer Meinung abzubringen sind, weil sie geistig völlig verstört sind."
Rick fällt mir beinahe ins letzte Wort.
„Natürlich! Und das ist auch der Grund, warum wi- warum die Nachkommen Ariu umbringen wollen! Weil er sonst differenzieren kann, wer das eigentliche Problem darstellt, so dass sich die Bewohner von Kay nicht auf die Überzahl der Nachkommen konzentrieren müssen, sondern nur diejenigen töten müssen, von denen wirklich Gefahr ausgeht!"
Ich kann mich nicht erinnern, jemals so enthusiastisch gewesen zu sein.
Rick greift meine Überlegungen auf und führt sie weiter, während auch meine Gedanken in diese Richtung unterwegs sind. Als ich den letzten, alles entscheidenden Gedankengang ausspreche, spüre ich zum ersten Mal wirklich das Gewicht der Wichtigkeit dessen, was er mit sich bringt.
Für Kay... und für das, was von Anfang an meine Aufgabe in dieser anderen Welt bildete.
"Dann könnten sich die Nachkommen ihre Überlegenheit in der Anzahl an Leuten nicht mehr so zu Nutzen machen. Wenn wir alle Nachkommen mit schwarzem Punkt, folgendermaßen die, die wirklich irre sind, umgebracht haben, dann könnten wir es schaffen, die restlichen Angreifer davon zu überzeugen, Kay nicht zu vernichten!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top