▪️Ein Traum▪️

Rick findet Jenny sympathisch.
Ihre Geschichte hätte er niemals erraten können. So unwirklich das alles auch klingt... Das Verschwinden und Wiederauftauchen kann er nicht leugnen. Und zumindest teilweise wusste er ja bereits vorher Bescheid über diese Sache mit der anderen Welt.

Es freut ihn, dass sie allem Anschein nach ein Stück weit Vertrauen zu ihm gefasst hat.
Er hatte schon Angst, dass er sie mit dem Bericht über sein Leben noch mehr abgeschreckt hatte, aber es scheint eher so, als fühle sie mit ihm.

Es tut ihm unglaublich gut, endlich mal wieder jemanden gefunden zu haben, mit dem man richtig reden kann.
Obwohl er sie eben erst kennengelernt hat, bedeutet Jenny ihm dadurch schon ziemlich viel.
Sie wirkt offen, verständnisvoll, sehr erwachsen. Vielleicht hat diese ganze Sache rund um Veron sie auch erst so selbstständig werden lassen. Möglich wäre es - viel abverlangen muss ihr das auf jeden Fall.
Im Laufe ihrer Erzählungen ist etwas in ihm geweckt worden, dass er schon so lange nicht mehr kannte, dass er es erst jetzt, nachdem Jenny schon wieder zurück nach Hause gesprungen ist, betiteln kann.

Ein warmes Gefühl.
Es beinhaltet einen Vorschuss an Vertrauen, weckt seinen Beschützerinstinkt und lässt Rick sich darauf freuen, wenn sie wieder zurück nach Veron springt, hierher, zu ihm.
Zuneigung.

Sie teilen das gleiche Schicksal, und die Gründe dessen sind gar nicht einmal so verschieden.
Als Folge dessen fühlt Rick sich nach so kurzer Zeit schon irgendwo mit für sie verantwortlich.

In Gedanken versunken über diese eigentümlichen Gefühlsanwandlungen, fällt Rick erst gar nicht auf, wie müde er eigentlich ist.

Wenn er so überlegt, weiß er gar nicht, wann er das letzte Mal geschlafen hat.
Vermutlich war es noch draußen, vor Kay, neben seinem Baum.

Seitdem er sich auf den Weg in das Dorf gemacht hat, stand er wie unter Strom.
Zuerst die Wachen, das Hin und Her, das Vorsprechen beim Richter, das sich über mehrere Stunden hinweg gezogen hat.
Dann haben sie ihn eingesperrt, und seine Gedanken wollten einfach keine Ruhe geben. So unruhig hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Abgeschnitten von der Natur, durch die er seit Jahren gewandert ist...
Es ist noch immer seltsam, fast, als würde ein Teil von ihm fehlen.

Er schließt die Augen und gibt der Erschöpfung nach, die ihn nun vollständig übermannt.
Seine Gedanken drehen sich und kreisen genauso in seinem Kopf, wie sämtliche Gefühle, die er heute wieder so vollkommen neu erleben konnte.
Er merkt kaum, wie er letztendlich in den Schlaf hinüberdriftet.

Aus Stunden der traumlosen Leere, die sich trotz der Ruhe, die sie mit sich bringt, nicht wirklich erholsam anfühlt, manifestiert sich schließlich eine kurze Treppe, auf der Rick steht.
Die Umgebung ist hart, kalt, ebenso wie der Beton der Zelle, in der sich sein Körper eigentlich befindet.

Rick sieht sich um, weiß nicht, was Sache ist, als sich auf einmal ein Mann aus der Schwärze herausschält.
Nur wenige Augenblicke später zieht er eine Frau hinter sich her. So fremd ist Rick die Jahre über sein eigenes Gesicht geworden, dass er einen Moment lang braucht, bis er ahnt, wer da vor ihm steht.

Als er ein leises "Mein Sohn" hört, das trotz fehlender Lippenbewegungen von dem Mann vor ihm zu kommen scheint, bestätigt sich seine Vermutung.
Sein Vater spricht zu ihm.

"Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Das Dorf braucht dich. Wir -"

Seine Mutter unterbricht ihren Mann. "Kind, du bist ein guter Mensch. Ohne dich schafft es das Mädchen nicht. Hilf ihr."
Sie schenkt Rick ein wunderschönes, liebevolles Lächeln.

"Mutter", fragt Ricks Traum-ich mit fragender Stimme, "Was meinst du?"
In ihm wächst eine kaum fassbare Verzweiflung, zusammen mit unendlicher Sehnsucht.

"Du wirst es schon wissen Rick, wenn die Zeit gekommen ist. Steh zu dem Mädchen, bleib bei ihr."

Das Bild seiner Eltern beginnt zu verschwimmen, als die Schatten sie wieder in ihre Fänge ziehen.
"Mutter", fleht Rick, und er spürt, wie sich Tränen in seinen Augen bilden. Wie automatisiert sprudeln die Worte aus ihm heraus, und durch den Schleier vor seinen Augen erkennt er die Frau und den Mann vor sich noch schlechter.

"Verlasst mich nicht wieder! Bitte, bleibt bei mir! Ich schaffe das nicht mehr, ich -"

Es ist die wohlwollende Stimme seines Vaters, die ihm antwortet, schon viel zu leise, verblassend. "Rick. Sieh nach vorne, und erfülle deine Aufgabe. Du hast sie selbst gewählt, und du wirst zu ihr stehen. Du wirst uns bald wiedersehen. Wenn die Zeit gekommen ist."

Dann sind sie verschwunden, von der Dunkelheit verschluckt, und er bleibt zurück, alleine, mal wieder.
Die Tränen laufen ihm mittlerweile in kleinen Bächen über die Wangen, aber er ist unfähig, sich zu rühren.
Hoffnung und Verzweiflung ringen in seinem Herzen miteinander.

Als ihn ein plötzlicher Aufschrei aus dem Schlaf reißt ist er fast froh, dass auch das Traumbild seiner selbst wie Wasser mit davon schwappt.
Er schreckt hoch, als er durch die letzten Lachen erkennt, dass der Schrei von Jenny kommen muss, die wohl wieder nach Veron zurückgekehrt ist.

Sofort hat er wieder die Stimmen seiner Eltern im Ohr. "Bleib bei ihr. Sie braucht dich." Voller Angst springt Rick auf, sein Herz pocht wild in seiner Brust, und sein Blick flirrt durch den dunklen Raum, auf der Suche nach dem Mädchen.
"Was ist los?"

"Die Punkte!", kommt postwendend ihre Antwort zurück, und ihre Stimme klingt erstaunlicherweise nicht panisch, sondern eher euphorisch.

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