▫️Ein gemeinsamer Tag▫️

Mein erster Gedanke, als mein Körper erstaunlich heftig auf die Kante meines Bettes knallt und auf mir ein erdrückendes Gewicht lastet ist:
Wir haben es geschafft, Ariu ist bei mir!

Sekunden später werden meine Gedanken jedoch schon von dem anhaltenden Gewicht auf mir zusammen mit sämtlicher Luft aus meinen Lungen förmlich aus meinem Kopf heraus gedrückt.

"Ariu!" Meine Stimme klingt anhand meiner eingequetschten Lage gepresst. "Beweg dich bitte von mir runter!"

Die Tatsache, dass er auf mir liegt, wird mir schlagartig bewusst und ich hoffe, er bemerkt nicht, wie ich rot anlaufe.

Irgendwie gelingt es uns, uns wieder zu entwirren und ich tapse vorsichtig im Dunkeln zum Lichtschalter hinüber.

Im Schein der Deckenleuchte funkeln mich Arius Augen voller Begeisterung an.
"Wir haben es geschafft! Ich bin mit zu dir nach Hause gesprungen und..." er wird von einem langen Gähnen unterbrochen und ich verstehe nicht mehr, was er danach noch sagt. Auf jeden Fall ziert ein breites Grinsen sein Gesicht.

"Jap", schmunzle ich und mich überkommt ebenfalls ein Gefühl von Vorfreude auf den gemeinsamen Tag.

Endlich mal wieder Gesellschaft auf der Erde, abgesehen von Mia! Und dann auch noch Ariu...

Mein Grinsen wird breiter und ich schlage vor, erst einmal schlafen zu gehen.

"Morgen kann ich dir meine Schule zeigen, dann kannst du mal schauen, wie der Unterricht hier so abläuft.
Und nachmittags zeige ich dir die Stadt!", ereifere ich mich.

Ariu kommt mir derweil vor wie ein kleines Kind, dass sich auf Weihnachten freut. Dann begeben wir uns gemeinsam auf die Suche nach einer Matratze, auf der er die Nacht in meinem Zimmer verbringen kann.

Währenddessen frage ich mich zum ersten Mal, ob man Ariu morgen eigentlich sieht, wenn er mit mir unterwegs ist.
Irgendwie habe ich vorher überhaupt noch nicht in diese Richtung überlegt.

Auf der Suche nach einer Schlafunterlage für Ariu läuft uns Lucys Katze über den Weg, und obwohl Ariu und ich nach einem gehörigen Schrecken vor ihr in die Hocke gehen, stolziert sie einfach knapp an uns vorbei.
Okay - somit hat sich die Frage wohl erledigt.

Nachdem wir weder unten im Abstellraum, noch auf dem kleinen Dachboden fündig geworden sind, wende ich mich etwas ratlos an Ariu.

"Ich glaube... Es wäre wohl das einfachste, wenn du einfach bei mir im Bett schlafen würdest", murmele ich verlegen.

Die Situation zwischen uns beginnt bereits, wieder in einer peinlichen Stille auszuarten, und Arius Wangen werden mittlerweile von derselben Röte überzogen wie meine sicherlich auch.

Dann jedoch nickt er.
"Okay. Wenn es dir nichts ausmacht."

Glücklicherweise hat mein neues Bett größere Maße und wir sollten dort ohne Probleme beide hineinpassen.
Und ohne uns dabei berühren zu müssen.
Auch wenn der Gedanke daran bei mir ein wohliges Kribbeln auslöst.

Wieder in meinem Zimmer angekommen, beziehen wir schnell ein weiteres Bettlaken samt Kissen für Ariu.
Anschließend husche ich kurz zum Zähneputzen ins Bad, suche Ariu ebenfalls eine neue Zahnbürste heraus und ziehe mich etwas gemütlicher an.
Dann klettern wir ins Bett, beide ziemlich ruhig und irgendwie verlegen.

Als ich mich in die Bettdecke hineingekuschelt habe, merke ich, wie müde ich mittlerweile bin. Und scheinbar trägt das zu meiner Entspannung bei - ansonsten hätte ich mit Ariu in meinem Bett wohl kein Auge zu machen können.
So jedoch fallen mir beinahe sofort die Augen zu.

Als ich jedoch ein leises Rascheln neben mir höre und Sekunden später eine zögerliche Berührung an meiner Hand spüre, bin ich mit einem Schlag wieder wach.

"Schlaf gut, Jenny", flüstert Ariu leise, mit seiner leicht rauen Stimme.
Innerlich seufze ich. Ja, ich liebe es, wie Ariu meinen Namen ausspricht.

Seine Hand lässt er, auf meiner ruhend, liegen.
Ich räuspere mich, ehe ich ein "Du auch" herausbringe.

Dann schlafe ich zum zweiten Mal unter Arius gleichmäßigen Atemzügen ein, während das kribbelige Gefühl in meiner Magengegend mich einfach nicht loslassen will.

~ 🗝️ ~

Ich taste blind nach meinem Wecker und wünschte ich könnte noch weiterschlafen. Nachdem ich den Ausschaltknopf gefunden habe, ziehe ich mir meine Bettdecke wieder über den Kopf.
In der Schule ist man doch auch mal krank, oder? Dann mache ich heute eben einen kranken Tag und schlafe jetzt weiter.

Doch gerade als ich mich wieder in meine Bettdecke geschlungen habe und gedanklich abdrifte, wird es plötzlich hell im Zimmer - jemand hat das Licht angeschaltet.
Ruckartig setze ich mich auf.

Meine Mutter! Sie muss das Licht angeschaltet haben - sie bemerkt mich wieder!
Meine müden Gedanken überschlagen sich vor Freude.

Doch dann fällt mein Blick auf Ariu, der neben meiner Zimmertüre am Lichtschalter steht.
Ihn hatte ich ja ganz vergessen.

Seufzend ziehe ich die Knie an den Körper und lasse meinen Kopf darauf sinken.
Von wegen, sie bemerken mich wieder...

Dann stuze ich jedoch. Irgendwas an meinem Armband ist anders.
Ich hebe meinen Arm um es genauer zu betrachten, und stelle fest, dass es an einer Seite fast so aussieht, als wäre es ganz leicht eingerissen.
Komisch.
Ich runzle die Stirn und schließe kurz die Augen.

"Hey, Jenny! Aufgewacht! Komm schon, steh auf!", ruft Ariu euphorisch durch den Raum.

Ich öffne die Augen einen Spalt weit.
Er scheint hellwach zu sein und freut sich richtig auf den Tag, den er mit mir auf der Erde verbringen darf.

"Jenny!" Er kommt durch das Zimmer auf mich zu. "Bitte! Komm mit, lass uns was frühstücken!" Er rüttelt mich sanft an der Schulter. Ich gebe ein paar unbestimmte Laute von mir und hebe nun doch den Kopf. Seine erwartungsvoll leuchtenden Augen blicken mich an.

"Also, dann wollen wir mal!", rufe ich so euphorisch, wie es mit Schlafmangel eben geht und springe aus dem Bett.
Nur weil ich schlecht drauf bin, sollte ich Ariu nicht den Tag vermiesen.
Sein glückliches Grinsen lässt mich an vergangene Nacht und seine Hand auf meiner denken, und augenblicklich bekomme ich ein bisschen bessere Laune.

Vielleicht wird der Tag ja doch ganz schön.

~ 🗝️ ~

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück. Der Geschichtslehrer hat zum Stundenwechsel eine fünfminütige Pause erlaubt. Ariu ist vollauf begeistert und saugt jede Information in sich auf.

Ich habe ihm bereits den größten Teil des Schulhauses gezeigt, ihn durch die Aula und verschiedene Gänge geführt und einen Zwischenstopp in der Mensa eingelegt.
Nach Geschichte ist der Schultag vorbei.

Heute bei der Hinfahrt zur Schule war Arius Faszination über den Schulbus und die Autos auf der Straße großartig anzusehen.
Er hat mich mittlerweile bestimmt schon 1000 Mal gefragt, was das jetzt nochmal genau für Teile waren, warum alle anders aussehen, seit wann es die gibt, wie sie funktionieren und so weiter.

Ich habe dabei gemerkt, dass ich meine Kenntnisse in Sachen der Automobile mal auffrischen sollte, denn ich konnte Ariu nicht einmal die Hälfte seiner Fragen beantworten.
Da er jetzt schon so begeistert von allem Möglichen ist, bin ich schon richtig gespannt auf unseren Stadtbummel später.
Wir müssen nur auf die Zeit achten, um vor dem Sprung nach Veron wieder zu Hause bei mir zu sein.

Die letzte Geschichtsstunde vergeht wie im Flug. Schon packt Herr Fels seine Sachen zusammen und ruft der Klasse, die bereits dabei ist, das Zimmer zu verlassen, noch ein "Bis nächste Woche" zu. Ariu und ich beeilen uns, mein Geschichtszeug zusammenzupacken, dann mischen wir uns unter die Schülerinnen und Schüler.

"Und jetzt geht es in die Stadt?"
Ariu sieht mich erwartungsvoll an.

"Genau, wenn du Lust hast", erwidere ich ihm und kann nur immer wieder über seine Begeisterung schmunzeln.

"Ja! Lass uns losgehen!"
Er springt vor mir die Treppenstufen runter und ich muss mich anstrengen, um ihn in der Aula zwischen den ganzen Schülern nicht zu verlieren.

"Warte doch", versuche ich Ariu über den Lärm von hunderten sprechenden und lachenden Jugendlichen zuzurufen. Er taucht einfach in der Menge unter, bevor ich ihn schließlich vor dem Schulgebäude stehen sehe, wo er sich suchend umsieht.

Seufzend bahne ich mir einen Weg durch die Menschen.
Als ich bei Ariu angelangt bin, sehe ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Hab ich nicht gesagt, dass du bei mir bleiben sollst?"

Vermutlich höre ich mich an wie eine Mutter, die mit ihrem Kleinkind spricht, wenn es in einem riesigen Einkaufszentrum heulend aus irgendeiner Richtung angelaufen kommt und sich an das Bein der Mutter klammert.
"Ja schon, sorry. Ab jetzt bin ich brav, ja?" Er blickt mich verschmitzt an und ich verdrehe die Augen.

Na, da hab ich mir ja was vorgenommen, mit ihm jetzt auch noch in die Stadt zu fahren.

Ich habe beschlossen, mit Ariu dorthin mit dem Zug zu fahren, damit ich ihm auch diese Technologie vorführen kann.

Auf dem Weg dorthin bleibt Ariu anfangs jedes Mal mit offenem Mund und vor Staunen weit aufgerissenen Augen stehen, wenn er irgendein neues Automodell, ein Motorrad oder schlichtweg eine Fußgängerampel sieht.

Endlich erreichen wir den Bahnhof, der, wenn man zügig läuft, eine gute Viertelstunde von der Schule entfernt ist. Ariu und ich haben mit unserem Schneckentempo fast fünfzig Minuten gebraucht.

Als dann der Zug mit quietschenden Bremsen einfährt, wirkt Ariu abermals ziemlich erschrocken. Vorhin konnte ich ihn gerade noch davon abhalten, auf die Schienen zu laufen, jetzt merkt er wohl, warum ich das getan habe.

"Guck nicht so. Das Teil ist nicht lebendig. Steig schon ein", versuche ich ihn gutmütig aus seiner Starre zu lösen.

Ich drücke den Türöffner und lasse Ariu vor mir einsteigen. Wir setzen uns nebeneinander und fahren kurz darauf auch schon los.
Einige Minuten später schallt die altbekannte, monotone Stimme aus den Lautsprechern, die verkündet, dass wir unser Ziel beinahe erreicht haben und Ariu springt erschrocken auf, wobei er jedoch das Gleichgewicht verliert.
"Wuaaah!"

Ich kann mir das Lachen nicht länger verkneifen, als ich seinen verdutzten Blick sehe, mit dem er auf dem Hosenboden gelandet ist.
Als ich spüre, wie der Zug beginnt zu bremsen, erhebe ich mich aber und strecke ihm versöhnlich meine Hand entgegen, die er etwas grumelig nimmt.

Wieder im Freien blinzle ich der Sonne entgegen, die es, obwohl sie so hell strahlt, nicht mehr schafft, die Erde und die Luft zu erwärmen.

Ariu läuft neben mir her, als ich in Richtung Stadtzentrum gehe.
Irgendwie ist seine Begeisterung über die Dinge, die mir ganz alltäglich erscheinen, schon amüsant.
Aber sie erinnert mich auch daran, dass das, was es hier bei uns in Deutschland alles gibt, nicht überall vorhanden ist.
Dass es auch Menschen gibt, denen es nicht so gut geht wie uns hier, oder, in Arius Fall, die diese ganzen technischen Erneuerungen nicht kennen und eigentlich trotzdem glücklich sind.

Entgegen Arius Aussage muss ich natürlich trotzdem aufpassen, dass er mir nicht verloren geht.
Er lässt sich von jeder Kleinigkeit hinreißen - und schwupps, dann ist er schon wieder weg.
Für mich wird der Nachmittag somit eher zu einem konzentrierten Suchspiel, aber, zugegeben, für diese Freude in seinen Augen nehme ich das gerne in Kauf.

~ 🗝️ ~

Nachdem wir uns in verschiedenen Läden umgesehen haben, ich Ariu einen kleinen Schlüsselanhänger und ein paar Süßigkeiten "gekauft" habe, wird es langsam dunkel und ich beschließe, dass es Zeit ist, sich auf den Heimweg zu machen.

Als ich es Ariu mitteile, sieht er mich enttäuscht an.
"Komm schon! Das ist alles so faszinierend hier! Es gibt bestimmt noch so viel, was ich nicht kenne! Lass uns noch ein bisschen bleiben!"

So leid es mir auch tut, schüttle ich den Kopf.
"Nein, wir müssen jetzt wirklich nach Hause zu mir. Wenn wir die Zeit vergessen und ich alleine nach Veron springe, wie soll ich das dann bitte deiner Mutter erklären? Soll ich sagen, dass dich in der Nacht ein Löwe gefressen hat? Nein, gehen wir heim.
Ich mach uns dort noch was zum Essen."

Ariu schaut mich mit Dackelblick an und bleibt stur.

"Ariu... Na gut, machen wir einen Kompromiss."

Warum kann ich diesen grauen Augen nur nichts ausschlagen?

"Wir gehen hier noch irgendwo etwas essen, aber dann fahren wir mit dem Bus zurück zu mir nach Hause."

"Okay", stimmt er mir sofort zu und ich sehe, dass er sich freut, die Zeit in der Innenstadt noch ein wenig ausschöpfen zu können.
Seine gute Laune steckt mich an - auch wenn ich mir das nicht so stark anmerken lasse wie er.

Ich sehe mich nach einem Restaurant um und bemerke, dass vor uns Mias Laden liegt. Komischerweise ist es dunkel darin und ich werfe einen kurzen Blick durch das Schaufenster, kann sie aber nicht erkennen.
Ich habe heute noch gar nicht an sie gedacht. Ehrlich gesagt hätte ich aber auch dann nicht mit Ariu bei ihr vorbeigeschaut.

Erstens wüsste ich nicht, was sie zu dieser Aktion zu sagen hätte, zweitens... wollte ich ihn für mich haben.

Wir schlendern ein wenig die Straßen entlang und stehen schließlich vor einer Pizzeria, in der die Preise deutlich erschwinglicher erscheinen, als in den anderen Restaurants, bei denen ich mir die Karte angeschaut habe, die vor der Eingangstür hängt.

"Wie wollen wir überhaupt was zum Essen bestellen, wenn die Leute uns nicht bemerken?" Ariu sieht mich fragend an, als wir die Pizzeria betreten.

Ein Schwall warme Luft kommt uns entgegen, ich habe gar nicht gemerkt, wie kalt es mittlerweile draußen geworden ist. Gleichzeitig dringt zu mir hindurch, dass Arius Frage durchaus berechtigt ist.

"Och nee! Daran hab ich ja gar nicht gedacht!"

Ich sehe mich im Raum um. An der Wand neben uns sind Haken zum Jackenaufhängen angebracht. Die Inneneinrichtung sieht hübsch aus, die Tische sind dekoriert und es stehen Möbel aus altem, gepflegtem Holz herum. Die Atmosphäre wirkt gemütlich auf mich. An einigen Tischen sitzen Gäste, entweder mit Tellern auf denen Pizza liegt oder mit den Speisekarten vor der Nase.

"Ähm... hast du nun irgendeine Idee, wie wir an Essen kommen?"

"Nein. Sorry."
Ich verziehe die Lippen zu einem halbherzigen Grinsen, woraufhin Ariu versucht, mich wieder etwas aufzumuntern.

"Hey. Ist nicht so schlimm. Meinetwegen gehen wir doch heim zu dir und essen da."

Ich gebe ein unentschlossenes Grunzen von mir. Eigentlich hätte ich den Tag jetzt, nachdem ich darüber nachgedacht habe, schon gern mit einem gebührend leckerem Essen abgeschlossen und nicht dem, was ich selbst so in der Lage bin, zu zaubern.
Dann fällt mein Blick auf einen Lieferwagen, der durch die alten Fenster zu sehen ist, und mir kommt ein Gedanke.

"Es kann sein, dass da draußen unser Abendessen wartet", sage ich zu Ariu und deute aus dem Fenster, bevor ich ihn zu Tür hinaus schiebe.

~ 🗝️ ~

Ariu und ich sitzen im Bus auf der Rückfahrt zu mir nach Hause. Wir haben jeder eine Pizzaschachtel auf dem Schoß, schauen aus dem Fenster und mampfen genüsslich unsere Pizzen.

Der Lieferwagen hat tatsächlich mehrere Pizzaschachteln im Kofferraum stehen gehabt, und während der Lieferant scheinbar die letzten paar Pizzen aus der Pizzeria in Empfang nahm, haben wir uns zwei Stück im Austausch gegen einen zwanzig Euro Schein genommen.

Für diejenigen Kunden, die jetzt hungrig bleiben, tut es mir zwar leid - aber immerhin isst Ariu jetzt die erste Pizza seines Lebens, und das ist es meiner Meinung nach wert.

Als ich fertig bin, wische ich mir die Hände an einer Serviette ab, die auch in der Pizzaschachtel gelegen hat.
Dann werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr.
"Wir haben noch eine Stunde Zeit, es ist erst 17.30 Uhr."

"Cool. Was machen wir dann noch bei dir?"

"Keine Ahnung, uns wird dann schon was einfallen."
Der Gute ist immernoch voller Tatendrang und Wissensdurst, während ich vom Ariusitten eigentlich ziemlich platt bin.

Mit einem Ruck hält der Bus an, quietschend öffnen sich die Türen.
"Die gehören mal wieder geölt", hätte Dad jetzt gesagt.

Ariu zieht mich hinter sich aus dem Bus heraus und wir sehen zu, wie er abfährt, bevor wir uns auf den Weg zu mir nach Hause machen.
Unterwegs erzählt mir Ariu, wie schön er den heutigen Tag fand und fragt mich, ob ich ihn mal wieder mitnehmen könne.

"Ja, gerne", lächle ich. Tatsächlich hatte auch ich mit ihm zusammen seit längerem mal wieder einen sorgenfreien Tag auf der Erde.

Dies ändert sich jedoch, als wir nach Hause kommen.

Das untere Stockwerk ist hell erleuchtet, was bedeutet, dass meine Familie Zuhause ist.
Erst freue ich mich noch, dass ich Ariu jetzt auch mal meine Familie zeigen kann.
Wir ziehen unsere Jacken aus und legen sie erst einmal auf die Treppe, um uns gleich ins Wohnzimmer zu begeben.
Doch als wir uns nähern, bemerke ich, das etwas nicht stimmt.

Es sind keine freudigen Laute, die zu mir herausdringen.
Ich höre Lucy, doch sie lacht nicht, wie sonst meistens. Ich meine, sogar Mom schluchzen zu hören.

"Was ist denn los?"
Auf Arius geflüsterte Frage weiß ich selbst keine Antwort, weshalb ich nur hilflos mit den Schultern zucke.

Ich gehe die paar Schritte zur Wohnzimmertür, die sperrangelweit offen steht und schaue durch den Türrahmen, kann aber immer noch nicht den Grund der allgemeinen Trauer erkennen.
Vielleicht ist irgendetwas passiert und sie können sich an mich erinnern, und weil sie mich nirgendwo mehr finden können, denken sie ich wäre tot, überlege ich erschrocken, schüttle aber gleich darauf wieder den Kopf über meinen Egoismus.

Trotzdem renne ich zu meinen Eltern, die, Lucy in ihrer Mitte, zusammengesunken auf dem Sofa sitzen, und hoffe, dass sie mich bemerken.
Fehlanzeige.

Die Katze liegt eingerollt zu Lucys Füßen und scheint zu schlafen. Dad streicht Mom über Lucy hinweg beruhigend über den Rücken und versucht gleichzeitig, seine weinende kleine Tochter zu trösten. Er sieht noch am gefasstesten aus von den dreien. Mom hält auf ihrem Schoß etwas mit beiden Händen fest umklammert und streicht immer wieder über dessen Oberfläche.

Ich schaue kurz über die Schulter zurück zu Ariu, der im Türrahmen stehen geblieben ist und sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen scheint.
Dann stelle ich mich hinter meine Mutter, darauf bedacht, keinen aus meiner Familie zu berühren, und blicke ihr über die Schulter.
Das Ding, das sie in den Händen hält ist ein Bilderrahmen, der ein Foto von ihren Eltern umfasst. Ich frage mich nur, wieso Mom weint.

Was ist nur passiert?
Haben sich Oma und Opa etwa getrennt? Nein, die zwei haben sich bisher immer gut verstanden.

Meine Frage klärt sich, als Lucy unter Tränen einige Worte hervorbringt.
"U-und... aber warum ist O-oma g-ge-... tot? Warum?"
Schniefend wischt sie sich einige Tränen von den Wangen, was nicht viel bringt, da aus ihren Augen immer wieder neue hervor strömen.

Dad bedenkt sie mit einem warnenden Blick, woraufhin sie noch mehr heult. Seine Augen sind auf seine Ehefrau gerichtet, die nach Lucys Kommentar noch heftiger schluchzt.

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Etwas, mit dem ich bei weitem noch nicht gerechnet hätte, ist passiert. Oma ist gestorben.

Meine Oma, die beste Großmutter der Welt, mit der man alles machen konnte.
Sie war doch noch so aktiv, so agil...
Erinnerungen strömen durch meinen Kopf.
Oma, wie sie mich tröstete, als ich als kleines Kind mit dem Dreirad gegen einen Baum gefahren bin.
Oma und ich, wie wir zusammen herumalberten.
Oma, wie sie mich nicht verriet, als ich mal wieder etwas ausgefressen hatte.
Oma, als sie sich bei unserem Fallschirmsprung neben mir aus dem Flugzeug stürzte.
Oma, der die Blicke der anderen egal waren, wenn sie mit mir shoppen ging und sich Klamotten kaufte, die eigentlich für viel jüngere Leute gedacht waren.
Oma und Opa an ihrer goldenen Hochzeit, wie sie sich küssten und ich mich so für sie freute, weil sie sich nach all den Jahren immer noch lieb hatten.
All die schönen Erinnerungen, die sich im Laufe der Jahre in meinem Gedächtnis angesammelt hatten, spielen sich nun in Kurzfassung vor meinen Augen ab.

Mir wird komisch und ich fühle mich, als müsste ich mich gleich erbrechen.
Ich stürme an Ariu vorbei, der seine Position im Türrahmen noch immer nicht verlassen hat, und falle fast über unsere Jacken, die wir zuvor achtlos auf die Treppe geworfen hatten.
Irgenwie fange ich mich wieder und haste die Stufen nach oben, obwohl ich durch den Tränenschleier vor meinen Augen fast nichts sehen kann.
Es fühlt sich an, als hätte mir jemand einen Pfeil durchs Herz geschossen, und als hätte der ein tiefes, klaffendes Loch darin hinterlassen.
Ich höre Arius Schritte hinter mir, er folgt mir in mein Zimmer, aber es ist mir egal, so egal. Ich werfe mich auf mein Bett und beginne haltlos in mein Kissen zu weinen.

Das Knarzen meines Bettes verrät mir, dass sich Ariu neben mir auf der Bettkante niedergelassen hat.
Ich spüre seine Hand, die mir zögerlich tröstend über den Rücken streicht.
Nach einer Weile wollen keine Tränen mehr kommen und ich bleibe kraftlos auf dem Bett liegen, während Ariu weiterhin versucht, mich zu trösten.

Ich höre Oma, wie sie mir sagt, dass ich stark sein soll, und dass alles gut wird. Mühsam setze ich mich nun doch auf. Ariu zieht seine Hand zurück.
Weil ich sehe, wie er mich hilflos ansieht, so, als trauere er mit mir und wolle mir einen Teil meiner Trauer abnehmen, obwohl er meine Großmutter noch nicht einmal gekannt hat, beginnen die Tränen nun doch wieder, sich einen Weg aus meinen Augen zu bahnen.

Ariu wirkt ein wenig unbeholfen, als er noch näher zu mir heranrückt und mich in die Arme nimmt. Ich klammere mich an seinen Schultern fest, es tut gut sich an irendwem festzuhalten, sich von jemandem trösten zu lassen.
Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Ariu nicht mit zu mir gesprungen wäre. Wieder streicht er mir beruhigend über den Rücken und ich spüre, wie ich mich ganz langsam beruhige.
Seine Nähe ist tröstend. Und Oma hätte nicht gewollt, dass ich in Tränen ausbreche.
Oma...
Ich schließe die Augen und lasse meine Gedanken wieder zu ihr driften.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top