▫️Ein gemeinsamer Auftrag▫️

Punkt 18.30 Uhr schießt wieder ein Gefühl wie ein Elektroschock durch meinen gesamten Körper hindurch und mir wird auch diesmal schlecht.

Aber bei meinem heutigen Sprung verliere ich nicht mein Gleichgewicht, da ich mich in weiser Voraussicht auf meine Matratze gelegt habe. Vielleicht falle ich ja beim Ankommen hier um 23.30 Uhr wirklich aus dem Bett.
Ich muss grinsen.

Außerdem habe ich mir heute eine Jacke angezogen. Ich bin fast ein bisschen stolz auf mich, dass ich daran gedacht habe. Mein Bauch rumort und stöhnend warte ich darauf, dass mein Zimmer vor meinen Augen verschwindet.

Zumindest hat es den Vorteil, dass sich auch niemand über meine Abwesenheit und später dann über meine plötzliche Ankunft zu Hause wundern kann, da mich ja niemand bemerkt.
Das denke ich noch, dann verschwimmt auch schon alles um mich herum und ich schließe die Augen.

~ 🗝️ ~

Die Tür taucht so plötzlich vor mir auf, dass ich vor Schreck ein paar Schritte zurück taumele um nicht zu fallen.
Ich atme tief durch und rieche den ganz eigenen Geruch von Lydas Haus, in dem es nach den Kräutern duftet, die sie verkauft. Kurz bleibe ich stehen, lasse meinen Blick noch mal durch den Gang gleiten und versuche mich zu sammeln und ein möglichst echtes Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern.
Dann gehe ich zur Treppe.
Am Treppenabsatz laufe ich fast in Lyda hinein, die aus der Küche kommt.

"Na, da ist auch mal wieder jemand wach!", begrüßt sie mich.
"Du hast ja geschlafen, wie ein Murmeltier! Ich hab schon überlegt, ob ich mal nachsehen soll, ob du noch lebst! Dachte aber dann doch, dass ich dir lieber deine Privatsphäre lasse."

Ich hoffe, dass Lyda mir meine Erleichterung darüber nicht ansieht. Wenn sie gemerkt hätte, dass ich weg war...

"Ja, ich war sehr müde", antworte ich deshalb, "tut mir leid, dass ich so lang geschlafen habe. Hab ich was verpasst?"

"Nein nein, alles in Ordnung", beschwichtigt sie mich.
Plötzlich runzelt Lyda die Stirn.
"Gestern hattest du doch keine Jacke an, oder?"

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu fluchen. An Lyda habe ich gar nicht gedacht, als ich die Jacke angezogen habe. Im Versuch, möglichst überzeugend zu wirken, hebe ich leicht die Arme und sehe an meiner schwarzen Jacke herunter.

"Was? Doch, natürlich hatte ich da schon die Jacke an. Wo hätte ich die denn sonst auf die Schnelle herkriegen sollen?"

Lyda zieht die Augenbrauen zusammen und sieht etwas verwirrt aus. Dann lächelt sie entschuldigend.
"Ach, keine Ahnung, wie ich darauf komme. Ich werde eben langsam alt. Mein Gedächtnis scheint auch nicht mehr so zu funktionieren wie früher."
Lyda seufzt und in mir keimen leichte Schuldgefühle auf.

"Na, egal." Sie dreht sich auf dem Absatz um und führt mich in die Küche, wo schon das Essen auf dem Tisch steht.
Ich muss an meine Familie daheim denken, die nur zu dritt zu Abend gegessen hat und dabei so glücklich aussah... Der Gedanke versetzt mir einen Stich.
Mom, Dad und Lucy haben keine Ahnung, wo ich bin und was ich mache.

Mia hat mir geraten, mich hier in Veron erst einmal als "Flüchtling" aus dem Gebiet der Nachkommen auszugeben. Sie meinte, dass ich so vielleicht Chancen hätte, von ihnen angehört zu werden. Wenn ich ihr Interesse wecken würde.

Ich ziehe den rechten Ärmel meines Pullis weiter nach vorne, sodass er den Metallreif vollends verdeckt.
Mia hat mich angewiesen, dass ich versuchen soll, die Einwohner von Kay dazu zu überreden, mich zu dem Lager der Nachkommen zu schicken und deren Pläne und genauere Vorhaben herauszufinden.
Da ich ja daher komme und mich dort zurechtfinde, sollten die Leute aus Kay mich für eine recht geeignete Spionin befinden.

Sie meinte auch, dass Kays Einwohnern damit vielleicht geholfen werden könne, wenn sie wüssten, was im Lager der Nachkommen so vor sich geht.

Ich habe beschlossen, mich mit dem, was ich tue, an Mia zu orientieren und dem, was sie mir rät, nachzugehen.
Auch wenn ich mir sicher bin, dass ihr "Plan" alles andere als ein Spaziergang werden wird.

Aber um mich überhaupt irgendetwas machen zu lassen, müssen die Leute aus Kay mir erst einmal glauben, dass ich von den Nachkommen zu ihnen gekommen bin.

~ 🗝️ ~

Lyda hat mich am Eingang des größten Gebäudes im Ort, das vermutlich das Rathaus des Dorfes darstellt, an zwei Soldaten übergeben, die wohl heute den Job als Polizisten und Wachen über mich übernehmen.
Jetzt bin ich, die Hände mit Handschellen aneinandergefesselt, auf dem Weg zum Gerichtssaal, in dem ich befragt werden soll. Die Handschellen sind wohl dafür da, dass ich ihnen auch ja nichts antun kann.

Meiner Meinung nach sehe ich nun auch wieder nicht sooo gefährlich aus. Als wir aus Lydas Haus gegangen sind, habe ich vier bewaffnete Männer gesehen, die vor ihrer Haustür Wache gestanden haben, gestern Abend habe ich sie gar nicht bemerkt. Wahrscheinlich war ich einfach zu verwirrt. Wenn die alle so gut aufpassen, dass ich niemanden verletze, frage ich mich, warum ich überhaupt alleine mit Lyda in ihrem Haus sein durfte. Mir erscheint das alles ein wenig unlogisch, aber nach meiner Meinung dazu fragt ja keiner.

Als ich im Raum ankomme, führen mich die Soldaten zu einem Stuhl, der neben einem anderem steht, auf dem ein Mann sitzt. Ich schätze ihn auf ungefähr 55 Jahre. Das ist anscheinend der Richter. Er ist kräftig gebaut und sieht für sein fortgeschrittenes Alter noch ganz gut aus.

Ich komme mir vor, als hätte ich etwas verbrochen. Als ich mich umsehe, fühle ich mich plötzlich viel kleiner, denn es sieht aus, als wäre das halbe Dorf gekommen.

Nach dem, was man mir bisher erzählt hat, habe ich angenommen, dass das hier nur ein Verhör sein soll, ich hatte nicht erwartet, dass so viele Leute dabei zusehen werden. Vielleicht darf ja einfach jeder kommen, der will.

Ich lasse meinen Blick über die Leute hinweg schweifen. Der Raum ist wuchtig und nur mit dem Nötigsten ausgestattet, es sieht schlicht aus, aber auf eine ganz eigene Weise auch majestätisch.
Ich setze mich brav auf den freien Stuhl und warte darauf, dass der Richter anfängt zu sprechen.
Im hinteren Teil des Raumes entdecke ich Lyda, die mich anlächelt, als sich unsere Blicke treffen.

Ein Junge, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, mit blonden, etwas wirr aussehenden Haaren und eisgrauen Augen sitzt neben ihr und mustert mich. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt und bin unfähig, wegzusehen. Als er merkt, dass ich ihn beobachte, wendet er den Blick ab.
Ich merke, dass ich ihn immer noch anstarre. Er ist hübsch, seine Gesichtszüge sind markant, soweit ich das von meinem Platz aus sehen kann.

Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, ihm mit den Fingern durch die Haare zu fahren, nur um zu wissen, wie sie sich anfühlen. Der Junge schaut wieder zu mir, sein bohrender Blick trifft auf meinen. Aber diesmal sehe ich weg, denn ich spüre, wie ich rot werde.

Endlich beginnt der Richter zu sprechen.
"Wie heißt du?", fragt er gebieterisch.

"Jenny", sage ich und versuche meiner Stimme einen festen Klang zu geben, was mir aber nicht wirklich gelingen mag.

Dann fällt mir ein, dass es vielleicht höflicher gewesen wäre, mit einem ganzen Satz zu antworten und ich schicke schnell noch ein "Ich heiße Jenny, Sir" hinterher, ehe der Richter die Möglichkeit hat, weiterzusprechen.
Diesmal klingen meine Worte sogar ein bisschen deutlicher.

Er mustert mich mit undefinierbarem Gesichtsausdruck.
"Wo kommst du her?"

Jetzt muss ich glaubhaft wirken.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, damit sie aufhört zu zittern und antworte:
"Ich komme von den Nachkommen. Sie wissen schon, den Nachkommen der Wissenschaftler, die von der Erde hierher kamen. Sie sind ebenso verstört und wollen euer Dorf unbedingt vernichten. Wenn sie es finden.... Ich... ich will euch warnen."

Der Richter schnappt nach Luft und seine Augenbrauen schießen in die Höhe.
"Dann bist du eine von ihnen?"

Noch während er das sagt, packen mich die zwei Wachen von vorhin an den Armen.

Abwehrend schüttele ich den Kopf.
"Warum sollte ich euch das sonst erzählen? Ich bin, wie schon gesagt, hier um euch zu warnen! Euer Dorf wird nicht ewig versteckt bleiben können, sie werden euch früher oder später finden. Wenn ihr überleben wollt, müsst ihr vorbereitet sein, sonst habt ihr keine Chance! Ob ihr mir glaubt oder nicht, bleibt ja euch überlassen. Aber ich hab doch selbst gesehen, was dort los ist!"
Kurze Pause meinerseits.
"Leider habe ich als einfache Schülerin dort so gut wie nichts Näheres erfahren. Warum schickt ihr nicht Spione oder so aus, die die genaue Lage bei den Nachkommen auskundschaften?"

Zwar haben Mia und ich, bevor ich gegangen bin, noch ungefähr durchgesprochen, was ich bei dem Verhör sagen soll, aber ich finde, dass ich meine Sache eigentlich sehr gut gemacht habe.
Der Richter jedoch sieht mich prüfend an. Mir kommt der Gedanke, dass er vielleicht eine Art inneren Lügendetektor besitzt. Ich hab mal davon gehört, dass manche Leute merken, wenn jemand lügt.

Hoffentlich ist der Richter nicht so ein Mensch.

"Warum bist du hierher gekommen? Und wie hast du Kay, also unser Dorf, gefunden?"
Er schüttelt den Kopf und denkt über seine vorherigen Fragen nach.
"Woher sollen wir wissen, dass du die Wahrheit sagst?"

Ich versuche möglichst lässig zu klingen. "Ich kann es nicht beweisen. Aber bitte, Ihr müsst mir Glauben schenken - und wenn es nur der Vorsicht halber ist."

Hoffentlich ist es nicht zu verdächtig, wenn ich auf die ersten beiden Fragen nicht antworte. Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer, was ich darauf sagen könnte.

"Denn wenn die Nachkommen angreifen, ist es zu spät."

Ich überlege kurz, ob nun ein günstiger Zeitpunkt dafür ist, mich anzubieten. Schließlich entscheide ich, dass es relativ egal ist, wann ich das sage.

"Schickt von mir aus mich los. Sie haben mir eh nichts von Ihrem Dorf verraten, also kann es euch ja so gut wie egal sein, wenn die Nachkommen mich erwischen. Und falls ich unbemerkt bleiben würde, könnte ich Euch die Informationen geben, die Ihr haben wollt, wenn Ihr mir vorher sagt, was genau ihr wissen wollt."

Über das Gesicht des Richters huscht ein zurückhaltendes Lächeln.
"Du bist mutig, wenn du wirklich weißt, was dort draußen auf dich zu kommt. Vielleicht ist dein Vorschlag nicht einmal verkehrt. Aber es sollte dich jemand von hier begleiten, der auf dich Acht gibt. Falls du also vorhast, die Lage unseres Dorfes den Nachkommen zu erzählen, wirst du nicht mehr viel Zeit haben, deine Entscheidung zu bereuen."
Der Richter zieht die Augenbrauen zusammen und sieht mich grimmig entschlossen an.

Ich erschauere, obwohl ich diesen Nachkommen sowieso nichts verraten werde.

"Gibt es jemanden, der sie freiwillig begleiten würde? Mindestens eine Person wäre gut."

Erst bleibt alles still und unverändert im Raum.

War ja eigentlich klar, dass keiner freiwillig mit mir da hin will. Immerhin wurde ihr altes Dorf von den Leuten ausgelöscht, zu denen der Ausflug gehen soll, denke ich und frage mich, warum der Richter überhaupt nach Freiwilligen gefragt hat.
Doch dann schießt doch eine Hand nach oben. Sie gehört dem Typen mit den grauen Augen.

Er hat einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht und blickt mich finster an. Dann zieht er eine Augenbraue hoch, was fast schon herausfordernd wirkt.
Schon wieder schießt mir die Röte ins Gesicht und ich beiße mir auf die Lippe.

Na super.

Der Richter ruft ihn natürlich sofort freudig überrascht nach vorne und beginnt aufzuzählen, auf was wir alles achten müssen.
Ich höre nur mit halbem Ohr zu, mein Gehirn hat beschlossen, dass die Augen gerade mehr gebraucht werden als die Ohren.
Das bedeutet, dass ich meinen zukünftigen Begleiter von oben bis unten mustere, aber dem Richter kaum zuhöre.

Das Einzige, was ich wirklich mitbekomme, ist, dass der Richter sagt, wir dürften auf keinen Fall die Lage von Kay verraten. Und er ordnet an, erst zurückzukommen, wenn wir uns sicher seien, dass uns niemand folgen würde. Diese Punkte würde ich aber sowieso beachten.
Dann bemerke ich noch, wie der Richter meinem Begleiter etwas kleines, silbernes zusteckt, das mir verdächtig nach Pistole aussieht. Mein Magen rebelliert.

Zum Schluss sagt er zu dem jungen Mann noch so etwas wie "Mir ist nicht ganz wohl dabei, wieder Leute loszuschicken, diesmal auch noch nur zwei, nachdem es schon die Zehn nicht geschafft haben. Aber wir müssen langsam mal etwas tun, damit hat sie schon Recht."

Vielleicht frage ich meinen zukünftigen Begleiter später mal, was der Richter gemeint hat, aber jetzt, vor all den Leuten, bietet sich jedenfalls keine Gelegenheit dazu. Ich versuche, mir in Gedanken einen kleinen Merkzettel zu schreiben, aber ich bin mir nicht sicher, ob der nicht bald wieder in Vergessenheit geraten wird.

Während ich noch so darüber nachdenke, ruft der Richter die "Versammlung" auch schon als beendet aus.

~ 🗝️ ~

Lyda berührt im Vorbeigehen meinen Arm. Ich lächle ihr zaghaft zu, sie soll noch einmal zum Richter, der unter vier Augen mit ihr sprechen möchte. Ich schätze, dass es dabei um die Zeit geht, die ich, wenn auch nur teilweise, bei ihr verbracht habe.

"Meine Haustür habe ich offengelassen. Pack dir, bevor du gehst, noch einen Rucksack. Du solltest genügend Essen und Trinken mitnehmen, für den Fall, dass ihr länger weg sein werdet."

Lyda scheint mir von allen hier bisher am meisten zu vertrauen, ich glaube, sie hat einfach ein großes Herz.
Ich nicke ihr dankbar zu und schlendere zu ihrem Haus zurück, diesmal alleine.
Aber ich weiß, dass an jeder Straßenecke neue Augenpaare auf mir ruhen.

~ 🗝️ ~

Kurz vor Lydas Haus stößt mich plötzlich jemand hart gegen eine Hauswand.
Erschrocken schnappe ich nach Luft.

Ich schaffe es mühevoll, mich aus den Armen, die mich festhalten, zu winden und schaue in das Gesicht des Jungen, der mit mir zusammen die Nachkommen ausspionieren soll.

"Was soll das?", motze ich ihn an, habe allerdings den Verdacht, dass meine Stimme nicht annähernd so verärgert klingt, wie ich das eigentlich möchte.

Jetzt sehe ich ihn von nahem, und es trägt nicht gerade zu meiner geistigen Klarheit bei, dass er so noch besser aussieht als von weitem. Er hat einen leichten Bartschatten am Kinn und ein Stück die Wangen hinauf, der etwas dunkler ist als seine Haut und ihn älter aussehen lässt.

"Ich weiß, dass du lügst. Du kommst nicht von den Nachkommen."

"Ach ja? Und woher willst du das wissen?", schieße ich zurück, innerlich keimt jedoch Panik in mir auf. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

"Denkst du wirklich, das merkt man nicht? Leute wie du kommen nicht von denen. Du siehst nicht brutal aus. Du wirkst auch nicht so auf mich,als könntest du jemanden aus Kay verletzen.
Der Einzige, der von den Nachkommen bisher hierher kam, uns zufällig gefunden hat, und bereit war, sich hier in unsere Gemeinschaft zu integrieren, ist mindestens einmal im Monat ausgeflippt und hat irgendjemanden krankenhausreif geprügelt. Er musste schließlich... beseitigt werden."

Er sieht mich ernst an.
"Aber bis jetzt glaube ich nicht, dass du auch nur einer Fliege etwas zu Leide tun könntest. Ich will die Wahrheit wissen. So, wie du aussiehst, wirst du mir auf dem Weg zu den Nachkommen keine große Hilfe sein. Sag mir wenigstens die Wahrheit über dich, damit ich zumindest einen Grund habe, dich dann zu verteidigen."

Erschrocken starre ich ihn an.
Er erwidert meinen Blick.
Irgendwoher weiß ich, dass er nicht so einfach lockerlassen wird. Und er hat ja Recht damit, dass ich ohne ihn völlig aufgeschmissen wäre, wenn mich irgendwer angreifen würde.
Ich seufze und hole tief Luft.

"Wehe, du lachst, verrätst mich, oder tust sonst was. Du hörst zu, bis ich fertig mit Erzählen bin. Und wehe, du sagst es jemandem, dann, wette ich, wirst du nicht mehr behaupten, dass ich keiner Fliege etwas zu Leide tun könne."

Ich blicke mich um.
"Wir sollten woanders hingehen. Hier hört mich jeder, der vorbeiläuft."

Der Junge folgt mir zu einer Bank unter einem Baum. Warum ich bereit bin, ihm von meiner Herkunft zu erzählen, weiß ich selbst nicht so genau. Wahrscheinlich bin ich nun doch verrückt geworden.

Wir werden zwar auf unserer Reise zusammenarbeiten müssen... Aber trotzdem.

Ich lasse mich auf der Bank nieder, ziehe ein Bein an und male mit dem anderem Fuß Kreise in die lockere Erde.
"Wie heißt du eigentlich?"

Er setzt sich auf das andere Ende der Bank. Möglichst weit von mir entfernt.
"Wieso sollte ich dir das sagen?"

Eigentlich war es klar, dass er mir nicht einmal seinen Namen anvertrauen würde. Enttäuscht schließe ich kurz die Augen, dann höre ich, wie er leise seufzt.
"Ariu. Und jetzt fang an."

Ariu... Ein interessanter Name. Um ehrlich zu sein habe ich diesen Namen vorher noch nie gehört. Ich muss unbedingt daran denken, zu googlen, ob auf der Erde auch Leute diesen Namen tragen.

Ariu sieht mich abwartend an, er wartet immer noch darauf, dass ich anfange, zu erzählen. Also beginne ich.

"Du hast recht. Ich komme wirklich nicht von den Nachkommen. Ich bin von der Erde hierher gesprungen, genau wie einst diese verstörten Wissenschaftler."

Unwillkürlich springt er auf.
"Dann ist das eine Falle?"

Sein Blick schießt zu meinem Arm und seine Augen weiten sich.
"Mir fällt erst jetzt auf, dass du auch ein Band trägst!"

Ich schaue auf mein rechtes Handgelenk und tatsächlich sind die Ärmel meines Pullis und meiner Jacke wieder hochgerutscht. Ich habe ganz vergessen, darauf zu achten, dass mein Armband verdeckt ist.
Darauf muss ich dringend besser aufpassen, sonst komme ich hier noch in Teufelsküche. Falls ich das jetzt nicht ohnehin schon bin.

Ich muss mir dringend etwas überlegen, wie ich das Armband künftig verstecken kann, vielleicht ein Schweißband oder etwas ähnliches - falls Ariu nicht gleich die Pistole vom Richter irgendwo aus seinen Hosentaschen zieht und mir die Entscheidung, ob ich mir so etwas besorge, abnimmt.

Schnell ziehe ich den Ärmel wieder über das Band und schüttele heftig den Kopf, doch ehe ich etwas erwidern kann, fährt Ariu fort.

"Wie ist das überhaupt möglich? Ich dachte, die Metallbänder der Wissenschaftler, die hierher zu uns kamen, wären bei dem Sprung zerstört worden! Außerdem konnten sie hier aus Veron doch gar nicht weg, und soweit ich gehört habe, geht das Metallarmband nicht mehr ab..."

Ariu wird immer lauter. Ich muss irgendwas tun.

"Halt!"

Arius Augen funkeln ohnehin schon wütend, und dass ich ihn nun unterbrochen habe, scheint seine Stimmung auch nicht gerade zu heben.

Ich schlucke.
"Bitte warte. Du hast ja Recht... Irgendwo zumindest. Aber bitte hör dir erst an, was ich zu sagen habe, ehe du mich mit deiner Pistole abknallst. Falls du mir nicht glaubst... falls ich versuche, dich irgendwie anzugreifen oder so..."

Ich schlucke wieder. In meinem Hals hat sich ein Kloß gebildet, den ich nur mühevoll herunterschlucken kann.

"Dann tu es."

Es gibt nur eine Erklärung dafür, wieso ich das alles vor mich hin plappere:
Ich bin lebensmüde. Genauso verrückt wie die Wissenschaftler und ihre Nachkommen. Mindestens.

Dieser Ariu hat keinen Grund, wieso er mich nicht erschießen sollte, und ich ermutige ihn auch noch dazu.

Überraschenderweise lichtet sich der Sturm, der in Arius Augen tobt, ein wenig. Das Grau nimmt wieder eine hellere Schattierung an und Arius Blick wird etwas sanfter. Er nickt mir zu, bevor er sich wieder auf die Bank sinken lässt.

"Dann schieß los."

Erstaunt blinzele ich ihn an, fange dann jedoch schnell an zu sprechen, ehe er sich doch wieder eines besseren besinnt.

"Es gab, oder besser, gibt, noch ein Metallband."

Ich schieb den einen Ärmel meiner Jacke und auch den des Pullis hoch, damit Ariu erneut einen Blick auf mein Armband werfen kann.

"Einer der Wissenschaftler, die nach Veron springen sollten, ist am Abend vor dem Sprung gestorben. Es wurde euch anscheinend nicht berichtet. Nachdem der Sprung der Männer zu euch fehlgeschlagen war, wurden die übrigen Wissenschaftler auf der Erde verfolgt und nur einer von ihnen überlebte. Dieser vererbte das Band Generation für Generation weiter. Eine... Bekannte hat das Armband an meinem Handgelenk befestigt, und ich hatte keine Ahnung, was los war, als ich plötzlich hier landete. Sie hat mir schließlich alles erzählt und gemeint, ich solle euch warnen und helfen, allerdings nichts von meiner wahren Herkunft erwähnen. Sie befürchtete, es würden alle reagieren wie du eben."

So. Das war alles.

Vorsichtig sehe ich ihn an.
In Arius Augen liegt ein erstaunter Ausdruck, der aber schnell wieder verschwindet. Jetzt sieht er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Du weißt schon, dass das recht schwer zu glauben ist, wenn du behauptest, du würdest uns helfen wollen. Wieso solltest du das tun?"

Langsam werde ich sauer. Ariu hat doch keine Ahnung, in welcher Lage ich mich im Moment befinde.

"Was soll ich denn sonst machen, hä?", keife ich ihn an.

Seine Augen ruhen auf mir und machen es mir schwer, ihn derart anzuschreien. Ob mich jemand anderes hört, der sich gerade in unserer Nähe befindet, ist mir gerade relativ egal.

"Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll! Vielleicht sehen mich dann die Leute auf der Erde wieder - seitdem ich hier bin, bemerkt mich dort keiner mehr! Kannst du dir vorstellen, wie beschissen das ist, wenn du siehst, wie deine Familie vor sich hin lebt und dich kein bisschen zu vermissen scheint?Nein, natürlich nicht. Schließlich bin ich die Einzige, der es so geht. Und dann versuche ich auch noch, wenigstens irgendetwas zu tun, euch zu helfen...und was ist der Dank?"

Mein Versuch, ihn trotzig anzusehen, scheitert kläglich. Vermutlich klinge ich mittlerweile eher verletzt. Oder wie ein trotziges Kind.

"Außerdem geht dieses bescheuerte Metallband doch sowieso nicht mehr von meinem Handgelenk ab", versuche ich, mich wieder in Rage zu reden
"Soll ich hier rumhocken und Däumchen drehen, oder was?"

Ich nehme den leicht hysterischen Unterton in meiner Stimme wahr, mache mir jedoch nicht die Mühe, ihn zu verbergen. Soll er doch merken, wie aufgelöst ich bin. Ich hab größere Probleme.

Plötzlich ist Ariu wieder auf den Beinen und tritt vor mich. Mir stockt der Atem, als er vor mir in die Hocke geht und mir anschließend seine Hände auf die Schultern legt. Seine wunderschönen eisgrauen Augen fangen meinen Blick auf, sehen mit einer Mischung aus Entschuldigung, Mitleid und Verständnis in meine.

Ich wette, ich bin inzwischen knallrot angelaufen. Als ich in Arius Augen sehe, weiß ich, dass er versteht, wie ich mich fühle. Ich frage mich, wieso.
Einen kurzen Moment lang glaube ich, dass ich gleich in Ohnmacht falle, während er mir weiterhin wortlos eine gewisse Art von Trost schenkt.

Dann erhebt er sich wieder, fährt sich mit einer Hand durchs Haar und streckt mir die die andere hin, um mich hochzuziehen.

"Ich glaube, ich lehne deinen Vorschlag ab", meint Ariu trocken.

Verwirrt und noch ziemlich durcheinander blicke ich ihn fragend an.

"Ich ziehe es vor, dich nicht zu erschießen. Jedenfalls vorerst. Und jetzt geh und pack dein Zeug zusammen, sonst stehen wir morgen früh noch hier."

Er grinst mich schief an. Dann dreht er sich von mir weg und macht sich auf den Weg zu einem Haus mit strahlend weißem Putz.

Kurz bevor er es betritt dreht er sich noch einmal um und ruft mir "Wir treffen uns in einer halben Stunde am Tor!" zu.

Danach betritt er das Haus und ist verschwunden.
Ich starre ihm noch eine Weile hinterher, bevor ich mich selbst auf den Weg zu Lydas Haus mache.

- - - - - - - - - - -

Hey!

An alle, die bis hierhin gelesen haben: Wow! Und danke☺️ - ich hoffe, ihr begleitet Jenny und Ariu auf ihrem Auftrag auch weiterhin;)

Und Rick... Wo immer es ihn noch hin verschlagen wird.

Was meint ihr denn bisher zu den unterschiedlichen Charakteren?

Was meint ihr dazu, wie Jenny mit der Situation umgeht?
Wie ist euer erster Eindruck von Ariu? Und werdet ihr mittlerweile ein wenig schlauer aus Rick?

Schönen Abend noch!💕

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