▫️Alleine▫️
Als mich die Wachsoldaten festnehmen, sind sie umsichtiger und nicht so rücksichtslos wie Manys und Berno, die Ariu und mich zum Lager der Nachkommen mitgeschleppt haben.
Dennoch fühle ich mich noch schlechter, vor allem, als ich Lydas Gesicht sehe, die mich so anblickt, als ob sie wahnsinnig enttäuscht von mir wäre.
Der einzige, der mich verteidigt hat, ist Ariu, und den haben sie von mir weggezerrt.
Was habe ich denn getan, dass mir keiner glaubt?
Meine Gedankengänge werden von Verzweiflung überflutet.
Alle denken, ich würde für die Nachkommen spionieren, dabei kann ich noch nicht mal was dazu, dass ich überhaupt in Veron bin. Lyda fühlt sich verraten. Sie hat mir von Anfang an geholfen, ihr Misstrauen stand nie an erster Stelle.
Sie fühlt sich hintergangen, das sehe ich in ihren Augen, in ihrem verletzten, kühlen Blick.
Mir wird bewusst, wie viel sie mit meiner Oma gemeinsam hat, und Tränen steigen in meine Augen.
Ich wollte nie jemandem Schaden oder sonst was zufügen. Aber mein Armband weist mich als Verräterin, als Verrückte aus, auch wenn ich das nicht bin.
Die Erinnerungen an die Wissenschaftler auf der Erde sind nicht verblasst, ich verstehe, warum sich alle so abwertend mir gegenüber verhalten.
Trotzdem kommt mir das alles wie ein Albtraum vor.
Erst stirbt meine Oma, die zu jedem Zeitpunkt meines Lebens viel mehr als eine Großmutter für mich war, dann werde ich schon zum zweiten Mal in diesem Monat gefangen genommen.
Alle kehren mir den Rücken zu und Ariu, der Einzige, der noch zu mir hält, wird von mir ferngehalten, als ob ich der Feind wäre.
Das bin ich in den Augen der Menschen aus Kay nun wohl auch.
Ein Bild meines Armbands schiebt sich in meinen Gedanken nach vorne, und mir fällt wieder ein, was passiert ist, als ich mit Ariu zurück nach Veron gesprungen bin. Auf einmal hat es sich angefühlt, als würde mein Handgelenk brennen, so heiß wurde das Armband. Bevor ich Lyda, Manuela und die Soldaten bemerkte, habe ich einen Blick darauf geworfen und festgestellt, dass zu dem kleinen Riss, den ich heute Morgen bemerkt habe, noch zwei weitere dazugekommen sind.
Doch ich kam gar nicht erst dazu, mir darüber Gedanken zu machen, und auch jetzt werde ich jäh wieder in die Realität zurückgerissen.
Die Soldaten führen mich zu den Gefängniszellen in Kay, die zumindest freundlicher wirken und sauberer sind als die im Lager der Nachkommen. Was nichts daran ändert, dass sie für Menschen bestimmt sind, die Schlechtes getan haben.
Ich bin in ihren Augen nicht besser als ein Nachkomme. Eher noch schlechter - schließlich werden die Nachkommen nur so genannt, weil sie von den Wissenschaftlern, die nach Veron gesprungen waren, abstammen. Ich aber tue dies selbst jeden Tag.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Um mich wenigstens etwas abzulenken, sehe ich mich in dem Gang um, in den die einzelnen Zellen eingelassen sind, immer diagonal verschoben, sodass man die anderen Gefangenen von seiner Zelle aus nicht sehen kann.
Durch Gitter hindurch entdecke ich die drei Nachkommen, die vor Kay geschnappt worden sind, in unterschiedlichen Zellen. Als wir an ihnen vorbeimarschieren, heben sie die Köpfe und sehen erstaunt zu uns hoch.
Mürrisch gehe ich weiter zwischen den Wachsoldaten, bis sie vor einer Tür stehenbleiben, die etwas abgelegen von denen der drei Männer liegt.
Abgesehen von deren Zellen scheint es auch eine der wenigen, aktuell funktionstüchtigen zu sein. Bei anderen Zellen hängt die Tür schief in den Angeln oder fehlt ab und an gänzlich.
Grundsätzlich gibt es hier auch um einiges weniger Zellen als bei den Nachkommen, was mich in dem Gedanken an ein eigentlich friedliches Veron bestätigt. Hier in Kay ist man einfach nicht vorbereitet auf eine Flut an Straftätern.
Die eine Wache zieht einen Schlüsselbund aus ihrer Jackentasche und schließt mit mehreren Schlüsseln einige Schlösser auf, die an der Außenseite der Tür befestigt sind. Dann schiebt mich der Mann in die Zelle und schließt knallend die Tür.
Rumms.
Gefangen.
Die Trostlosigkeit überkommt mich zusammen mit der Dunkelheit und ich sinke an Ort und Stelle in mich zusammen. Kann nicht verhindern, dass erneut die Tränen hochkommen, von denen ich dachte, ich hätte sie in Trauer über Oma alle aufgebraucht.
In meiner Verzweiflung blitzt ein neues Bild in meinem Kopf auf.
Ein Bild von einem Männergesicht.
Als ich von den Wachen weggebracht worden bin, kam es mir so vor, als hätte ich es in einem Busch gesehen.
Der Mann hat mich erschrocken und reuevoll gemustert.
Er sah noch jung aus, fünfundzwanzig vielleicht, aber irgendwie trotzdem gezeichnet.
Als unsere Blicke sich jedoch getroffen haben, ist er wieder im Gebüsch verschwunden.
Ich seufze leise.
Wahrscheinlich war der Mann nur Einbildung von mir - ein Retter in der Not, den ich mir in dem Moment so verzweifelt gewünscht habe.
Ich gebe mir einen Ruck und hieve mich irgendwie auf, bevor ich mich in meiner Zelle umsehe. In der Dunkelheit kann ich die Umrisse einer Toilette, eines Waschbeckens und eines Bettes ausmachen.
Ich begebe mich langsam zu letzterem, dann taste ich vorsichtig die Schlafgelegenheit ab.
Sie scheint aus massivem Holz zu bestehen, nicht mehr als eine dünne Decke liegt darauf.
Ein weiteres Seufzen entweicht mir, ehe ich mich niederlasse.
Die harten Holzbretter sind kalt, aber irgendwie tröstlich. Ein bitterer Geschmack, nach Tränen und Hoffnungslosigkeit, legt sich auf meine Zunge.
Die Stille der Zelle erfüllt mich mit einer ganz neuen Schwere, zusammen mit den Erinnerungen an den heutigen Tag, der so schön begonnen hat, nur um immer verkorkster zu werden.
Irgendwann schlafe ich dann aber doch ein, und begrüße das Vergessen der Traumwelt.
~ 🗝️ ~
In die Schule zu gehen, bringe ich heute einfach nicht über mich.
Wie in Trance fahre ich stattdessen nach meiner Morgenroutine in die Innenstadt.
Diesmal muss ich nicht darauf achten, dass ich Ariu in dem Gedränge der Menschen nicht verliere. Trotzdem hätte ich ihn gerne an meiner Seite.
Es war schön, sich nicht nur in den paar Stunden, in denen ich in Veron bin, mit jemandem unterhalten zu können.
Abgesehen von Mia.
Trotzdem will ich gerade einfach nur noch zu der alten Dame.
Nach dem Desaster in Veron.
Wenn Ariu schon nicht zu mir gelassen wird, will ich wenigstens mit ihr reden.
Als einzige Person, die meine Lage neben ihm nachvollziehen kann.
Vor Mias kleinem Laden angekommen greife ich schnell nach dem Türgriff, der mir jedoch keinen Zutritt gewähren will. Erneut rüttle ich daran.
Fehlanzeige.
Mit gerunzelter Stirn trete ich einen Schritt zurück, und bemerke erst jetzt ein Schild mit der Aufschrift "GESCHLOSSEN - ich mache Urlaub", das unschuldig direkt vor meiner Nase hängt.
Trotzdem kann ich mich nicht davon abhalten, erneut an der Türe zu ziehen.
Das kann doch jetzt nicht wahr sein.
Doch die Tür gibt lediglich einen Brief frei, der im Türspalt gesteckt hat und nun zu Boden segelt.
Als ich in die Hocke gehe, um ihn aufzuheben, sehe ich, dass auf dem Umschlag mein Name geschrieben steht.
Vorsichtig reiße ich ihn auf und falte das raschelnde Papier auseinander.
𝓗𝓪𝓵𝓵𝓸 𝓙𝓮𝓷𝓷𝔂,
𝓘𝓬𝓱 𝓱𝓸𝓯𝓯𝓮, 𝓭𝓪𝓼𝓼 𝓭𝓾 𝓶𝓮𝓲𝓷𝓮𝓷 𝓑𝓻𝓲𝓮𝓯 𝓯𝓲𝓷𝓭𝓮𝓼𝓽, 𝓭𝓪 𝓲𝓬𝓱 𝓴𝓮𝓲𝓷𝓮 𝓩𝓮𝓲𝓽 𝓶𝓮𝓱𝓻 𝓱𝓪𝓽𝓽𝓮, 𝓭𝓲𝓻 𝓭𝓲𝓻𝓮𝓴𝓽 𝓑𝓮𝓼𝓬𝓱𝓮𝓲𝓭 𝔃𝓾 𝓼𝓪𝓰𝓮𝓷. 𝓘𝓬𝓱 𝔀𝓲𝓵𝓵 𝓭𝓲𝓻 𝓷𝓾𝓷 𝓪𝓾𝓯 𝓭𝓲𝓮𝓼𝓮𝓶 𝓦𝓮𝓰 𝓶𝓲𝓽𝓽𝓮𝓲𝓵𝓮𝓷, 𝓭𝓪𝓼𝓼 𝓲𝓬𝓱 𝓴𝓾𝓻𝔃𝓯𝓻𝓲𝓼𝓽𝓲𝓰 𝓪𝓾𝓯 𝓭𝓲𝓮 𝓗𝓸𝓬𝓱𝔃𝓮𝓲𝓽 𝓶𝓮𝓲𝓷𝓮𝓻 𝓟𝓪𝓽𝓮𝓷𝓽𝓸𝓬𝓱𝓽𝓮𝓻 𝓮𝓲𝓷𝓰𝓮𝓵𝓪𝓭𝓮𝓷 𝓫𝓲𝓷, 𝓭𝓲𝓮 𝓲𝓷 𝓢𝓹𝓪𝓷𝓲𝓮𝓷 𝓵𝓮𝓫𝓽, 𝓾𝓷𝓭 𝓼𝓸𝓶𝓲𝓽 𝓮𝓻𝓼𝓽 𝓴𝓸𝓶𝓶𝓮𝓷𝓭𝓮𝓷 𝓕𝓻𝓮𝓲𝓽𝓪𝓰 𝔀𝓲𝓮𝓭𝓮𝓻 𝓱𝓲𝓮𝓻 𝓼𝓮𝓲𝓷 𝔀𝓮𝓻𝓭𝓮.
𝓓𝓲𝓮 𝓔𝓲𝓷𝓵𝓪𝓭𝓾𝓷𝓰 𝓴𝓪𝓶 𝓵𝓮𝓲𝓭𝓮𝓻 𝓷𝓲𝓬𝓱𝓽 𝓻𝓮𝓬𝓱𝓽𝔃𝓮𝓲𝓽𝓲𝓰 𝓫𝓮𝓲 𝓶𝓲𝓻 𝓪𝓷 𝓾𝓷𝓭 𝓲𝓬𝓱 𝓶𝓾𝓼𝓼 𝓫𝓮𝓻𝓮𝓲𝓽𝓼 𝓱𝓮𝓾𝓽𝓮, 𝓪𝓵𝓼𝓸 𝓷𝓸𝓬𝓱 𝓪𝓶 𝓼𝓮𝓵𝓫𝓮𝓷 𝓣𝓪𝓰, 𝓪𝓫𝓻𝓮𝓲𝓼𝓮𝓷, 𝓾𝓶 𝓭𝓮𝓷 𝓵𝓮𝓽𝔃𝓽𝓮𝓷 𝓯𝓻𝓮𝓲𝓮𝓷 𝓕𝓵𝓾𝓰 𝔃𝓾 𝓮𝓻𝔀𝓲𝓼𝓬𝓱𝓮𝓷 𝓾𝓷𝓭 𝓭𝓲𝓮 𝓗𝓸𝓬𝓱𝔃𝓮𝓲𝓽 𝓷𝓲𝓬𝓱𝓽 𝔃𝓾 𝓿𝓮𝓻𝓹𝓪𝓼𝓼𝓮𝓷.
𝓘𝓬𝓱 𝓱𝓸𝓯𝓯𝓮, 𝓭𝓾 𝓴𝓸𝓶𝓶𝓼𝓽 𝓼𝓸 𝓵𝓪𝓷𝓰𝓮 𝓸𝓱𝓷𝓮 𝓶𝓲𝓬𝓱 𝔃𝓾𝓻𝓮𝓬𝓱𝓽.
𝓑𝓲𝓼 𝓫𝓪𝓵𝓭,
𝓜𝓲𝓪
Langsam lasse ich den Brief wieder sinken.
Das alles fühlt sich langsam echt unwirklich an.
Mia ist im Urlaub...
Noch nicht mal sie ist da, um mir beizustehen.
Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und schlurfe zurück zur Bushaltestelle.
Würden mich die Leute sehen, könnten sie mich wohl gut und gerne mit einem Zombie verwechseln, so fertig muss ich aussehen.
Ich will nur noch heim.
Zurück in mein Bett.
Raus aus dieser Pechsträhne, diesem Albtraum, und zurück in das Vergessen des Schlafes.
Zuhause angekommen, finde ich jedoch einfach keine Ruhe.
Ich wälze mich im Bett hin und her, und gebe es schließlich auf.
Unruhig tigere ich stattdessen durch mein Zimmer, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Letztendlich zwinge ich mich dazu, mich an meinen Schreibtisch zu setzen und etwas zu tun, was ich schon viel zu lange nicht mehr gemacht habe.
Und von dem ich genau weiß, dass es mich, zumindest ein wenig, runterbringen wird.
Ich greife nach meinem Schulmäppchen, nehme mir einen Bleistift und ein Blatt Papier aus einer Schublade und konzentriere mich auf das leere Weiß vor mir.
Allein diese Reinheit hat schon eine beruhigende Wirkung auf mich.
Denn setze ich den Bleistift auf das Papier auf, schließe die Augen und beginne, aus meiner Erinnerung zu zeichnen.
Ich rufe mir Teile von Veron ins Gedächtnis. Kay, die Wiese, auf der ich das allererste Mal in dieser anderen Welt gelandet bin. Es kommt mir vor, als wäre das schon eine Ewigkeit her.
Plötzlich schiebt sich eine Erinnerung an meine Oma vor ein Bild von Kay, aber obwohl mir wieder die Tränen kommen, male ich weiter.
Als schließlich nichts als ruhige, leere Gedanken mehr meinen Kopf füllen, öffne ich meine Augen wieder und blicke auf mein Werk.
Vor mir liegt die Wiese vor Kay. Von dem Dorf selbst ist lediglich die Silhouette im Hintergrund zu sehen.
Auf der Wiese steht der große Baum, bei dem ich nach meinem ersten Sprung die Kinder habe spielen sehen.
Das alles, die Wiese, die Silhouette des Dorfes, der Baum und der Rest der Umgebung sind in hellem Grau gehalten.
In der Mitte des Bildes aber, in kräftigem Dunkelgrau sind Ariu, Oma und ich abgebildet. Oma sieht aus, wie ich sie immer gekannt habe, freudig lachend, jung geblieben.
Zu jung, um zu sterben, schießt es mir durch den Kopf.
Auch wenn ich weiß, dass sie nicht mehr die Jüngste war und es durchaus Leute gibt, die früher sterben.
Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine so lebensfrohe Person einfach so nicht mehr da sein kann.
Ich würde gerne wissen, wie es Opa geht. Er hat Oma sehr geliebt und es ist bestimmt nicht leicht für ihn, ihren Tod zu verkraften.
Und dann fällt mir noch etwas auf, das mich wieder aus der gerade erst gefundenen Ruhe heraus, zurück in die Verzweiflung wirft.
Ich werde noch nicht einmal mehr auf Omas Beerdigung gehen können.
Erstens weiß ich nicht, wann sie ist.
Vor allem aber kann ich nicht einfach unbemerkt mit meiner Familie mit im Auto fahren.
Und dort... Ich könnte es nicht verkraften, dass Opa mich nicht bemerkt.
Zusammen mit meinen ganzen Bekannten und der Verwandtschaft, die auf der Beerdigung da sein wird.
Und nach Veron würde ich trotzdem springen, und wenn meine Eltern und Lucy dann zurück zu unserem neuen Haus fahren, während ich weg bin...
Fakt ist, dass es nicht klappen wird.
Mein Blick wandert zurück zu meiner Zeichnung.
Die Bleistift-Oma sieht der wirklichen sehr ähnlich und auch Ariu und ich habe ich ganz gut getroffen.
Doch für aufkommende Gedanken zu meiner Großmutter, meiner Lage in Veron, Ariu oder anderem habe ich gerade einfach keine Kraft mehr.
Mit dem Zeichnen hat mich endlich auch die Erschöpfung eingeholt.
Also lege ich mich erneut in mein Bett, und diesmal versinke ich nach wenigen, gleichmäßigen Atemzügen im Land der Träume.
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