22. Dunkle Geheimnisse

Teufel-Zwei Jahre später wurde er erneut von der Familie besucht. Seltsame Vorfälle ereigneten sich, Geschehnisse, die sich weder die Eltern noch der Familienpriester erklären konnte. Die Eltern glaubten Lucifer in ihrem Haus zu haben. Ihre Tochter schien besessen. Das Mädchen besaß Kräfte...teuflische Gaben.

William blinzelte angestrengt. Im schwummrigen Halbdunkel der langen Flure konnte er kaum etwas erkennen. Details und Hinweise würde er sicherlich übersehen. Frustriert tastete er strich an den staubigen Wänden entlang während Ava seine Hand wie einen Schraubstock umschloss hielt. "Ich hab dir gesagt, eine Taschenlampe wäre schon geil gewesen."

"Ja, ja. Beschwer dich bei den Verrückten von Furia." "Weißt du überhaupt, wo du hingehst?" "Es muss eine Art Schwesternstation auf diesem Stock geben oder eine Rezeption. Dort werden wir die Informationen finden, die wir suchen." Höchstwahrscheinlich, Hoffentlich. William seufzte tief. Eine Taschenlampe wäre in diesem Moment tatsächlich toll.

"Ich frag mich was für Patienten sie hier am Arsch der Welt behandelt haben." "Vielleicht war es mehr eine Reha. Physiotherapie und Ergotherapie. Und ein ausgewähltes Klientel, das die Natur dieser Wälder und Berge zu schätzen gewusst hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie viel Intensivmedizin oder gar eine Ambulanz gehabt haben."

Warum also ein schwerkrankes Kind herbringen? Georgettes Eltern konnten sich unmöglich sicher gewesen sein, das St.Niklaus sie aufnehme oder gar helfen konnte. Endlich öffnete sich der Flur zu einem weiten Raum, der einer Eingangshalle glich. Durch ein Fenster an der Decke schien etwas mehr Licht und beleuchtete die Rezeption in einem unheimlichen staubigen Grau.

"Na bitte.", eifrig trat er hinter den Arbeitstresen und blieb abrupt stehen. Vor ihm lagen zwei Skelette. In das weiß von Krankenpflegern gekleidet, lagen sie in einer dunklen Larche. Blut.

Vorsichtig beugte er sich über die Toten und fand mehrere Einschusslöcher. Vielleicht hatte es einen Kampf gegeben? Ava sah über den Tresen auf seinen Fund. "Ich schätze mal, dass Ende dieses Ortes war auch kein Gutes. Sieht fast so aus wie in Starybol."

"Nur das Georgette keine Waffen benutzt hat. Auch Milo hat, soweit ich weiß, nie eine Pistole in die Hand genommen. Das muss jemand anderes gewesen sein."

"War wohl echt sauer." William strich über die schwarze Innenseite des Tresens. Ruß blieb an seinen Fingern haften. Der Boden war auch an vielen Stellen von dem schwarzen Staub bedeckt. Jemand hatte nicht nur die Angestellten umgebracht, sondern auch Feuer gelegt.

"Will, sieh mal. Da vorne ist ein Lageplan." Mit einem unruhigen Gefühl im Bauch folgte er ihr zum Plan. Das Gebäude hatte die Form eines U, es gab zwei Stockwerke und sowohl zwei Patienten- trackte als auch einen Forschungsflügel. Aber es war das Büro des Direktors, das ihn interessierte. Mit dem Zeigefinger zeigte er darauf.

"Dort werden wir sicher was Interessantes finden. Zumindest mehr als Staub und Asche wie bei der Rezeption." "Bist du dir so sicher? Die Eindringlinge könnten auch das Büro zerstört haben."

"Es ist ein Versuch wert. Komm, es ist im Erdgeschoss, ich denke, da hinten links und dann weiter hinein." Nickend folgte sie ihm den Flur entlang. Es war ein langsames Vorantasten. Je tiefer sie ins Gebäude kamen umso unordentlicher wurde es. Sie stiegen über Leichen und wichen umgefallenen Möbeln aus. Der gesamte administrative Bereich schien in den Kampf verwickelt gewesen zu sein.

"Was denkst du ist hier passiert?", fragend warf Ava ihm einen Seitenblick zu. Wenn sie das nur wüssten...genau diese Frage trieb William weiter an, tiefer in das Herz des vor ihnen liegenden Friedhofs. Welchen Grund hätte irgendwer ein Krankenhaus anzuzünden?

Als erstes fielen ihm natürlich die Leute von Furia ein, aber Georgette hatte überlebt. Ihre Familie hätte keinen Grund wütend..."Oh mein Gott.", wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Jetzt ergab es Sinn. "Was ist?" "Georgettes Eltern gaben den Arzt die Schuld für ihre Gaben!"

"Nein, Milo war da eindeutig. Sie haben den Teufel verantwortlich gemacht. Deswegen auch der ganze Exorzismus." "Ava, deine Großeltern waren nicht dumm. Sie hatten ein perfektes Kind, ohne teuflische Gaben. Nachdem es krank wird und hier wundersame Heilung findet, entwickelt sie seltsame Talente. Selbst wenn jeder ihnen den Teufel als Verursacher eingeredet hatte, mussten sie eins und eins zusammenzählen. In Furia haben wir gesehen, wozu sie fähig sind. Wenn Hieronim und Hans beide die Leute angestachelt haben, ist es durchaus wahrscheinlich, dass sie dieses Gebäude angegriffen haben."

Das Büro des Direktors wartete vor ihnen. Die Tür war mit Einschusslöchern übersehen und auch hier waren die Wände von Ruß befleckt. "Ich hoffe wirklich, dass wir da drin Antworten finden.", murmelte seine Freundin neben ihm, kurz darauf rammte er seine Schulter gegen die Tür und brach sie auf.

Ein frischer Schwall Staub und schlechte Luft kam ihnen entgegen. Hustend kniff er die Augen zu. Auf dem Schreibtischstuhl saß jemand. "Wer bist du? Zeig dich!", rief Ava mit geballten Fäusten. Angespannt warteten sie. Die Person sagte nichts, rührte sich auch nicht. Langsam drehte Ava den Sessel telekinetisch um und brachte eine weitere Leiche zum Vorschein. Hörbar ausatmend klopfte William den Staub von seinen Schultern.

"Das wäre dann wohl der Direktor." "Der Kapitän bleibt auf seinem sinkenden Schiff.", meinte Ava leichthin und trat neben das Skelett. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein Zettel mit ungewöhnlichen Schriftzeichen. "Kannst du das Lesen?", fragend reichte Ava ihm den Zettel.

"Nein, ich glaube, dass sind japanische Schriftzeichen. Ich mag Sprachen aber so weit bin ich noch nicht gekommen. Seltsam, dass seine letzten Gedanken auf Japanisch verfasst waren. Ich hätte mir polnisch erwartet."

"Mhn, hat Edith nicht was von Saos Vater geschrieben. Sein Vater könnte das Krankenhaus doch auch geleitet haben."

"Zusätzlich zu seinen Arztpflichten? Möglich. Es muss hier noch irgendwas mit seinem Namen geben. Vielleicht können wir damit dann mehr herausfinden, sobald wir zurück in Wien sind."

"Mit Sao allein wird das Schwer." "Das meine ich auch." Zusammen stellten sie das Büro auf den Kopf, sammelten jedes Stück Papier auf und versuchten das Gelesene zu übersetzten. Schlussendlich landeten sie mit einem Haufen Dokumente auf dem Boden.

"Das Meiste ist in Polnisch, aber ich finde hier noch einige andere Sprachen." "Sieht so aus als hätte unser geheimnisvoller Direktor einige Sponsoren aus vielen Ländern gehabt. Ich frag mich wo ihr Interesse lag. Sicher nicht an einem Wellnessort." William griff nach dem nächsten Papier und hielt inne. Ania. Der Name stand eindeutig auf dem halb verbrannten Zettel.

"Ich glaub ich hab hier was. Ania, fünf Jahre alt. Starker Gewichtsverlust in den letzten Wochen...Müdigkeit...Behandelnder Arzt Dr. Hiroshi...Nachname unleserlich. Er muss der Arzt sein, der Georgette verändert hat. Saos Vater hieß also Hiroshi." "Davon gibt es sicher hunderte. Steht da was er ihr gegeben hat?"

Entschuldigend schüttelte er den Kopf. Trotz all seiner Hoffnungen war St.Niklaus nur ein weiterer Fehlschlag. Nichts war übriggeblieben. Sie hatten keine weitere Spur zu verfolgen. Seufzend warf er die Papiere von sich und stütze den Kopf in die Hände. All ihre Mühen...umsonst. Am Ende würden sie mit leeren Händen nach Wien kommen. Hutter hätte etwas zu lachen und er zum Weinen. Ein plötzlicher Krach ließ sie zusammenfahren. "Was war das?"

"Lass uns nachsehen.", William griff nach ihrer Hand und lief dem Geräusch entgegen. "Warte was ist, wenn es gefährlich wird? Wir haben die Waffe im Auto vergessen!", Ava versuchte ihn verzweifelt anzuhalten. In rhythmischen Abständen hörten sie ein metallisches Klopfen durch das verlassene Krankenhaus hallen.

William musste ihren Protest ignorieren. Egal was dieses Geräusch war, es würde die Hoffnungslosigkeit in seinem Verstand vertreiben, da war er sicher. "Es ist gleich da vorne. Außer uns ist hier niemand. Komm schon. Ich will wissen, was es ist."

Zumindest diese Antwort würde das Krankenhaus ihm geben. Der Flur endete und statt eines Raumes wartete dort ein Aufzug. Ein mit Holz verkleideter, versteckter Aufzug. Unmöglich. Staunend trat er näher. Ein Metallkübel hatte sich in den Türrahmen verkeilt und jedes Mal, wenn die Türen sich schließen wollten, trafen sie auf den Kübel.

"Wie kann das sein?" "Woher kommt der Strom?" Vorsichtig spähte er in den Innenraum. Ebenfalls Holzverkleidung und offenbar fuhr er nur nach Unten. Ein unterirdisches Stockwerk also. "Das ist eine blöde Idee.", Ava verschränkte hinter ihm die Arme.

"Ich hab doch noch gar nichts gesagt." "Du willst da runterfahren. Du willst herausfinden, ob es da unten mehr gibt." "Das wäre eine Option ja. Ich meine, wenn wir schon mal hier sind...vermutlich haben die Akten da unten überlebt. Noch könnten wir nicht mit leeren Händen nach Hause fahren."

Sie spitzte die Lippen und zog die Augenbrauen hoch. Ihr ganzes Wesen strahlte Missfallen aus. Ihre Skepsis sickerte durch das Band ihn seinen Kopf. Hastig befreite er sich davon, er wollte in diesen Aufzug steigen. Er wollte Antworten. "Komm schon, Ava, wir haben schon riskantere Sachen gemacht. Lass uns jetzt nicht feige sein."

"Woher kommt der Strom?" "Wir finden das schon raus. Vermutlich von einem Generator da UNTEN." Ohne ein weiteres Wort schnappte er sich den Kübel, warf ihn weg und trat in den Aufzug.

"Also kommst du?" "Das ist nicht fair!" "Der Aufzug schließt sich gleich." "William!" Die Aufzugtüren begannen sich zu schließen und panisch sprang Ava in seine geöffneten Arme. Mit einem unangenehmen Ruck fuhr der Fahrstuhl in die Tiefen. Ava riss sich los und starrte ihn wütend nieder.

"Das war nicht okay. Du hast keine Ahnung was da unten auf uns wartet, geschweige denn ob dieser Fahrstuhl uns auch wieder nach oben bringt. Was ist, wenn wir für immer da unten festsitzen?"

Sie hatte recht. Er hatte sich hier definitiv wie ein Arschloch verhalten und eigentlich wollte er seine miese Aktion auch nicht verteidigen, aber...neugierig starrte er aus dem kleinen Fenster in der Tür. Gleich würde er wissen, was St.Niklaus zu verstecken versucht hatte.

"Es tut mir leid. Ehrlich." "Mach das nicht nochmal, verstanden? Gib mir wenigsten die Chance selbst zu entscheiden." Darum ging es also. Er hatte sie gezwungen einzusteigen. William kniff die Lippen zusammen und schämte sich.

"Es wird nicht noch mal vorkommen." "Besser so. Wir haben noch nicht mal eine Waffe, mit der wir uns verteidigen könnten." Damit hatte sie wieder recht. Der Aufzug stoppte und ruckartig öffneten sich die Türen.

Ein hell erleuchteter Flur lag vor ihnen. Die Lichter an der Decke wirkten neu und wurden durch das weiß der Wände reflektiert. Selbst der Fußboden war weiß und makellos. Am Ende dieses Flurs lag eine weitere Tür. Vorsichtig traten sie aus dem Aufzug in den Flur und näherten sich der geheimnisvollen Tür.

"Sieh mal. Kameras.", William zeigte auf die runden, neumodischen Geräte und fragte sich gleichzeitig, ob sie an waren. "Wer immer für uns den Strom angemacht hat, weiß wohl auch das wir hier sind.", entgegnete seine Freundin säuerlich. Sie standen bei der Tür und sahen sich nervös an.

Williams Herz raste als er nach dem Türknauf griff und ihn langsam hinunterdrückte. Die Tür schwang auf. Ein einem, gut beleuchteten hohen Raum stand ein Mann im Laborkittel. In seiner Hand hielt er zwei Reagenzgläser. Er blickte auf und erkannte die Fremden in seinem Labor.

Zwischen ihnen herrschte Schweigen und unverhohlenes Entsetzen. William hatte vieles erwartet, aber nicht ein geheimes Labor in dem tatsächlich noch geforscht wurde. Sorgsam trat er näher, betrachtete den Raum mit aufrichtiger Neugierde.

In einem gläsernen Gefängnis, das viel Platz einnahm lag ein Greis auf einer Barre. Mehrere Schreibtische waren mit Büchern verstellt. Chemische Mittel und Medizinische Güter lagen auf freien Regalen. Kein Zweifel dieser Ort war was man das Geheimversteck eines wahnsinnigen Wissenschaftlers nennen würde.

Sprachlos taxierte er den älteren Mann vor ihnen. Er hatte kurzes dunkles Haar, das an den Rändern dünn und weis war. Sein faltiges Gesicht wurde von einem leichten weißen Bart verborgen. Der Laborkittel saß stramm über breiten Schultern. Er schien recht fital, trotz der weißen Haare.

"Ich kann es nicht glauben.", hauchte der Fremde und steckte nervös die Hände in die Taschen seines Kittels. Er sprach deutsch, akzentfrei und mit einem leichten Wiener Dialekt. Etwas an seiner Stimme kam William seltsam vertraut vor.

"Kenne ich dich?", fragte er argwöhnisch und zermarterte sich das Hirn, "vor zwei Jahren...du warst dieser Arzt, der mir gesagt, hat, dass mein Bein hinüber ist. Du hast mit mir gesprochen, nicht wahr?"

"Es ist ein Wunder, dass du dich daran erinnern kannst. Die Ärzte haben dir ganz schön viele Schmerzmittel gegeben." Die traurigen, blauen Augen des Fremden hielten ihn gefangen. Sie waren Kornblumenblau. Fast genauso wie..."Matthias? Matthias Archer." Als hätte William ihn geschlagen, trat der Mann mehrere Schritte zurück.

"Woher?..." "Deine Augen. Ava hat dieselben Augen. Mein Vater hat ewig nach dir gesucht." Avas Blick glitt von ihm zu dem Fremden. Schockiert stand ihr Mund weit offen. "Aber das würde bedeuten..."

Matthias schluckte hart und senkte den Kopf. "Ja. Ich bin dein Vater. Ich bin dein....Vater." Das Wort >Papa< lag ihm wohl auf der Zunge, doch dieser Mann hatte sich den Ehrentitel Papa nicht verdient. Schwer atmend wandte Ava sich ab.

"Ich brauch eine Minute." "Bist du sicher. Ich kann mit dir..." "Nein, ich muss allein sein.", Sie verschwand im Flur. Matthias sah ihr bekümmert nach. "Ich kann verstehen, dass sie nichts von mir wissen will."

"Matthias Archer.", William hob die Hände und zeigte auf seine Umgebung, "ich hab mit so einigem gerechnet, aber nicht mit dir? Was zur Hölle machst du in einem Labor am Arsch der Welt?" Matthias zuckte mit den Achseln, sein ganzer Körper schien permanent vornübergebeugt, als hätten die Jahre der Laborarbeit sein Rückgrat verbogen.

"Ist eine lange Geschichte." "Glaub ich dir, Matthias." "Matt, einfach nur Matt. Niemand hat mich wirklich Matthias genannt, außer Ichabod, wenn er mal wieder sauer auf mich war."

"Er ist tod.", Williams Stimme war kalt und abweisend, "wusstest du das? Milo Park hat ihn vor zwei Jahren getötet." Archer war ohne die wärmende Liebe seines Bruders gestorben. Nicht mal zu dessen Beerdigung hatte sich dieser Mann blicken lassen.

"Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Er hat dich sehr geliebt. Deshalb...hab ich nach dir gesehen. Damals im Krankenhaus. Du warst sein ein und alles und ich...ich konnte nicht..."

"Warum warst du nicht da?", eine einfache, eisige Frage, auf die William eine Antwort verlangte. Alles andere, die Ausflüchte und Ausreden konnte Matthias sich sparen. Ärgerlich verschränkte er die Arme, "warum hast du meinen Vater im Stich gelassen, warum Ava? Dein eigenes Fleisch und Blut. Deine Familie. Sie hat dich gebraucht!"

"Die Antwort würde ich auch gerne hören.", kam es leise von Ava, die sich mit tränennassen Wangen und zitternden Gliedern zu ihnen gesellte. Warm zog er sie in eine Umarmung. Matthias beobachtete sie niedergeschlagen.

"Ich wollte da sein. Es war nie meine Absicht...IZANAGA hat mir eine Wahl gelassen. Ich sollte hierbleiben und meine Arbeit beenden. Ava wäre sicher und gut behandelt. Wenn ich mich geweigert hätte...sie haben mir von Georgie erzählt. Und von Milo. Hätte ich nicht getan was sie wollten, hätten sie dich neben ihn gelegt. Sein Schicksal sollte niemals deines sein, Ava, niemals. Ich liebe dich, hab dich geliebt vom Augenblick als Georgie mir von dir erzählt hat. Ich wollte dein Vater sein. Ich wollte deine Familie sein...", er begann zu weinen, Ava tat es ihm gleich.

In seinen Armen schluchzend fühlte er ihre Trauer über die Vergangenheit und eine unendliche Erleichterung. Ihr Vater hatte sie gewollt, hatte sie all die Jahre über geliebt. William betrachtete den alten Mann vor ihnen. Gebrochen und einsam, er war kein Bösewicht oder eine grausame Person. Matthias Archer war ein Gefangener.

"Du warst hier? Die ganze Zeit über?" Matthias nickte abgehakt. "IZANAGA hat nicht nachgegeben, egal wie viele Fehlschläge es auch gab.", schluchzte er und sah zu dem Greis in dem gläsernen Gefängnis.

"Ist er tot?", fragte Ava vorsichtig. Matthias schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Aber bald. Ich hab ihm meine Arbeit injiziert. In wenigen Stunden wird er mutieren und danach sterben. Ich habe diese Prozedur bereits hundertmal gesehen."

"Dann tu etwas! Rette sein Leben!", rief Ava und ihre Verzweiflung und das Chaos ihrer Gefühle schmerzte in Williams Kopf. Die Deckenlampen wackelten, die Regale bewegten sich. Hastig riss er sie erneut in eine Umarmung und strich beruhigend über ihre Haare.

"Ava, bitte beruhig dich. Tief durchatmen. Wir bekommen auf alle Fragen eine Antwort, aber nicht, wenn er tot ist. Und schon gar nicht wenn wir hier lebendig begraben werden." "Wie kann das alles sein? Ich kann nicht...es ist..." "zuviel. Ich weiß. Ich weiß.", er zwang Ruhe in seinen Verstand und irgendwie drängte er sie auch durch das Band zu Ava.

Matthias trat mit erhobenen Händen vor. "Es tut mir leid, ich wollte nicht-" "-einfach Klappe halten, Matthias. Du hast schon genug angerichtet. Wir kriegen das auch alleine hin.", fauchte William wild, er war Avas Familie und Matthias ein Fremder.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis die Erde stillstand und er Ava auf einen der Tische heben konnte. Matthias kam mit einem Glas Wasser, das beide misstrauisch beäugten. Nachgebend stellte er es wieder zur Seite.

"Warum kannst du sein Leben nicht retten?", fragte Ava erneut in ruhigerem Tonfall. William hatte da eine Theorie. "Dann wäre deine Arbeit vollendet und IZANAGA hätte keine Verwendung mehr für dich. Stimmt doch, oder?" Matthias nickte langsam und wich ihren Blicken aus.

"Ja, stimmt. Es ist mein Wissen, meine Arbeit zu Sodalith Misaki, das Wert hat. Ohne dieses Serum bin ich so gut wie tot.", bekümmert versuchte er zu lächeln, "als das alles anfing war ich so jung und wissbegierig, unglaublich clever und kein Fan von Regeln. Ich hatte keine Ahnung...das mein Leben mal so enden würde. Sao hat mir damals die Welt versprochen, sein Angebot...es war zu gut, um abzulehnen."

"Sao? Wir hören diesen Namen immer wieder. Er war ein Bekannter von Georgettes Eltern. Welche Verbindung hat er zu IZANAGA?" William nahm an, das der geheimnisvolle Sao eine große Rolle spielte oder zumindest gespielt hatte. Matthias seufzte.

"Sao war dessen Chef. Er war es der mich rekrutiert hat, mich und unzählige andere. Sein Vater Hiroshi hat das Serum entwickelt. Die erste Version zumindest." "Und diese wurde Georgette gegeben, nicht wahr?" Matthias nickte knapp und warf dem Greis in seinem gläsernen Gefängnis einen Blick zu. Williams Augen folgte ihm.

"Soweit ich weiß, war sie das erste Testobjekt, das nicht sofort gestorben ist. Ein Wunder." "Ein Wunder, dessen Eltern das Krankenhaus abgefackelt haben. Ich schätze mal das war nicht so geplant gewesen?" Matthias schüttelte den Kopf und setzte sich auf seinen Schreibtischsessel.

"Das war alles vor meiner Zeit, aber ich weiß, das Sao durch das Feuer seinen Vater und einen Großteil dessen Forschung verloren hat. Deshalb brauchte er ja mich."

"Ich verstehe das Ganze nicht. Wann war das?", verwirrt kratzte Ava sich am Kopf und selbst William musste zugeben, dass er nun die Daten durcheinanderbrachte. Matthias holte aus seiner Schreibtischlade eine alte Metallschachtel. Als er sie öffnete erkannte William Fotos. Alte Fotos. Matthias reichte sie ihnen mit einem wehmutigen Lächeln.

"Ich hab Sao kennengelernt als ich 22 war. Jung und viel zu offen mit den Regeln des Moralischen zu spielen. Er hat mir damals nur einen Bruchteil der Arbeit seines Vaters gezeigt und ich war vollkommen gefangen. Ich musste wissen, ob es möglich war sein Serum zu perfektionieren. Also hab ich meine Sachen gepackt und wurde von Sao in ein Wahnsinns Labor verfrachtet. Ehrlich, Wahnsinn. Sao hatte allerdings einige Bedingungen. Eine davon war, dass ich meinen Bruder nicht kontaktieren dürfte."

"Das war der Moment als du verschwunden bist und Papa angefangen hat nach dir zu suchen." William starrte auf das erste Bild. Es zeigte einen jungen Matthias und besagten Sao, den sie bereits von anderen Bildern kannten.

"Es hat mir wehgetan, aber meine Neugierde war größer. Ich...ich war etwas größenwahnsinnig und naja...etwa so verrückt wie Sao." William sah Reue in den Augen des alten Mannes, ganz offensichtlich hatte er seine Lektion gelernt. Ava nahm ihm das Foto ab und gab den Blick auf ein Neues frei.

Drei lächelnde Gesichter sahen ihm entgegen. Eine Frau mit Haut so schwarz wie die Nacht und Haaren so wild wie das Glitzern in ihren Augen. William kannte diese Frau. "Zarah." Matthias nickte. "Der Mann neben ihr ist dein Vater Martin. Ich hab sie kaum ein Jahr später kennengelernt. Sao hat sie ebenfalls rekrutiert. Die besten Wissenschaftler, den ich je begegnet bin. Wir haben viel Zeit im Labor verbracht und sind sehr schnell, sehr gute Freunde geworden."

Perplex starrte er auf das Bildnis seiner Eltern neben einem jungen Matthias. Sein Vater hatte die starken Arme um die Hüften seiner Mutter geschlungen und drückte Matthias Kopf an seine Schulter. Sie wirkten glücklich, zufrieden. "Ich kann immer noch nicht glauben das sie tot sind...das Georgie ihnen das angetan hat."

"Weil sie herausgefunden hat, dass sie für IZANAGA gearbeitet haben und das IZANAGA für ihre Kräfte verantwortlich ist. Aber wie? Wie zur Hölle kann ein einfaches Serum einem Menschen solche Kräfte geben?", verwirrt strich er sich über die Haare.

Matthias schluckte und reichte ihm eine Phiole in der eine schwarze, glänzende Flüssigkeit schwamm. "Das ist Sodalith Misaki. Soweit ich weiß, hat Hiroshi es irgendwann mal in den tiefsten Bergen Japans gefunden und hierhergebracht. Er hat es synthetisiert und angereichert. Injiziert in einen Körper, zwingt es diesen zu mutieren. Neue Gliedmaßen, zusätzliche Organe, Veränderungen im Gehirn. Es ist kein schöner Anblick."

"Warum also es überhaupt einem Menschen geben?", warf Ava ein und schnappte sich die Phiole von William. Nachdenklich trat sie zum gläsernen Gefängnis. "Weil es auch unglaubliche Heilkräfte hat. Wenn du es einer kranken Person gibst, wird sie geheilt. Nur danach kommen die unwillkommenen Nebenwirkungen."

"Mutation und Tod." Matthias nickte. "Bei den meisten leider ja. Es hat kein gutes Ende." "Aber für Georgette ging alles gut aus. Sie hat überlebt. Warum?", fragte William, sein Herz klopfte wild, während sein Verstand die Puzzleteile dieser Geschichte an ihren Platz zu bringen versuchte. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie unwissend er gewesen war.

Matthias zuckte mit den Achseln und trat neben seine Tochter. Nebeneinander konnte William noch mehr Ähnlichkeiten erkennen. Vorsichtig nahm der alte Mann ihr die Phiole wieder ab.

"Es ist schwer zu sagen, wieso einige Menschen das Serum besser vertragen als andere." "Aber du hast eine Theorie.", warf Ava ein. Matthias schwieg und machte William damit nervös. Bis jetzt hatten sie über eine allgemeine Vergangenheit gesprochen, unverfänglich, ungefährlich, aber nun ging es um das Serum und Geheimnisse.

Verstohlen sah er sich um. Auch in diesem Raum befanden sich Kameras, versteckt und doch ziemlich eindeutig. "Das ist es was dein Serum perfektioniert hat. Das ist es wofür IZANAGA dich immer noch will. Aber wann kam es zum Zerwürfnis? Wann wurde aus deiner Freiwilligkeit....Gefangenschaft?" Matthias senkte den Blick, sein Körper schien in sich zusammenzuklappen.

"Es begann mit den Experimenten. Zuerst waren es Freiwillige, ältere oder todkranke Personen ohne wirkliche Alternative. Unser Serum war nahezu perfekt. Einzigartig, aber wir haben Sao nicht vertraut. Er dachte mit diesen Experimenten würde er uns aus der Reserve locken und so war es auch. Mit jedem Toten wurde es schwieriger unsere Forschung zu verheimlichen. Zu dem Zeitpunkt war Georgie bereits ausgebrochen und hat der Welt und auch uns gezeigt, was das Serum noch bewirken konnte. Das Alles war schon viel, aber dann brachte Sao ein Baby ins Labor. Ich kann mich noch genau erinnern. Ein süßes kleines Mädchen. Er hat uns gebeten sie mit dem Serum zu injizieren. Und das wars für mich. Ich hab meine gesamte Forschung zerstört und bin verschwunden."

"Weißt du was aus dem Baby geworden ist?", fragte Ava kleinlaut. William konnte es sich denken, aber sowohl er als auch Matthias blieben stumm. Manche Dinge mussten nicht ausgesprochen werden.

"Was hast du in deinen verschollenen Jahren gemacht?", William wechselte hoffentlich geschickt das Thema. Tote Babys würden keine weiteren Geheimnisse enthüllen.

Der alte Mann lächelte schief. "Das übliche schätze ich. Ich hab mich ne weile gehen lassen. Hab im Selbstmitleid gebadet. Mir einen Bart wachsen lassen und versucht Gitarre zu lernen. Oh und ich hab mich verliebt. Sie war die schönste, klügste und liebevollste Person, der ich je begegnet war."

"Du redest jetzt aber nicht von meiner Mutter, oder?", skeptisch verzog Ava das Gesicht und auch William konnte dieser Beschreibung keinesfalls Georgette entnehmen.

"Ihr kanntet sie nicht. Keiner kannte sie so wie ich. Sie war alles. Einfach alles." Da lag Liebe in seinen Augen. Auch nach all dieser Zeit schien Avas Vater vor Liebe und Trauer um Georgette zu zerbrechen.

Anmerkung der Autorin:  Ich hoffe ernsthaft, dass das nicht zu viele Infos auf einmal waren. Und das es alles verständlich war. Falls es Fragen zu Geschriebenem gibt, einfach in die Kommentare. Ich kann nicht alles beantworten, weil im dritten Band ja auch noch was enthüllt werden muss, aber auf Verständnisfragen antworte ich gerne. 

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